Regierung EIN RIESIGES VAKUUM
Erste vage Gerüchte bespöttelte Helmut Kohl von oben herab. Inzwischen ist dem Kanzler das Lächeln vergangen. In seiner Partei tut sich wieder was gegen ihn.
Alle Kritiker und Herausforderer in den eigenen Reihen - etwa die Ex-Generalsekretäre Kurt Biedenkopf und Heiner Geißler - glaubte er stillgestellt und kleingemacht. Der Parteichef selbst sieht sich als Verkörperung der Union. Politischen Selbstmord würde begehen, wer eine Führungsdiskussion vom Zaune brechen wollte. Schier unvorstellbar schien dem Kanzler aller Deutschen, daß jemand, und dann auch noch kurz vor dem Superwahljahr ''94, den Mut aufbringen sollte, sich gegen ihn zu erheben.
Kurt Biedenkopf, jetzt CDU-Ministerpräsident von Sachsen, tritt auf gegen Kohl - getrieben vom Mut der Verzweiflung, sagt er; von brennendem Ehrgeiz beseelt, so meinen Kohl und seine Helfer. »Woher wissen Sie eigentlich«, fragte kürzlich der kleine Professor provozierend in einer vertraulichen Runde mit Fernsehjournalisten, »ob Helmut Kohl der Spitzenkandidat der Union sein wird?«
Schon bald waren Kohl die aufrührerischen Worte hinterbracht.
Auch der nordrhein-westfälische SPD-Ministerpräsident Johannes Rau behielt die überraschende Mitteilung seines Dresdner CDU-Kollegen nicht für sich: Biedenkopf wolle schon bald eine Diskussion über Kohls Qualifikation anzetteln.
Die Umstände geben Biedenkopf recht. Die Lage war selten so ernst.
Die CDU ist in den neuen Ländern im Keller, Kohls Vertrauensverlust bei den Ostdeutschen enorm. Der sächsische Ministerpräsident setzt auf sein Ansehen in den neuen Ländern. Und darauf, daß die westdeutsche CDU-Basis kapiert: Er allein kann drüben jene Stimmen _(* Sterbender Wald im Erzgebirge; ) _(Protestdemonstration in Berlin. ) an die Union binden, ohne die das Aus für eine CDU-geführte Regierung unausweichlich ist.
»Kohl kann es nicht« - das klassische Verdikt Heiner Geißlers will Biedenkopf in dem anstehenden Parteidiskurs um das neue CDU-Grundsatzprogramm belegen. Der unter Kohls Oberaufsicht gefertigte Programmentwurf gibt keine klaren Wegweisungen, mogelt sich um unangenehme Wahrheiten herum. Biedenkopf kritisiert: »Unklare Begriffe bedeuten eine unklare Politik.«
In seinem Gegenentwurf bemüht sich der Parteireformer um mehr Klarheit. Er rempelt die Parteiführung, die sich seit Jahren nur auf die Sicherung ihrer Mehrheit konzentriere, an. Die sei ohne zukunftsweisende Konzepte, ohne Mut, die Bevölkerung mit unpopulären Wahrheiten zu konfrontieren und »Zukunftsinteressen gegen organisierte Gegenwartsinteressen durchzusetzen«.
Als Kernfehler in Kohls Programmtext prangert Biedenkopf an, daß der Entwurf die Erfordernisse der Zeit nicht erkenne und noch »ganz im Banne der Selbstverwirklichung« stehe. Die »Begrenzung von Individualrechten durch das Gemeinschaftsinteresse« sei in Kohls Papier kein selbständiges Thema.
Ein gewaltiger Reformstau drückt auf das Land. Die Deutschen müssen verzichten lernen. Es werden Opfer beim Wohlstand, in der sozialen Absicherung, bei der Mobilität fällig. Nur so bleibt die Zukunft einigermaßen sicher.
Kohl aber mag den Leuten die Wahrheit nicht sagen. Er will Wahlen gewinnen, wie er es gelernt hat: mit einem Wahlkampf des Verdrängens und des Wegguckens; mit dem Versprechen, irgendwie werde sich alles richten und zum Besseren wenden.
Kohls Kronprinz, der CDU/CSU-Fraktionschef Wolfgang Schäuble, macht mit beim Schönreden. Eben hat er wieder einen Silberstreif am Horizont entdeckt, »erste Anzeichen, daß es gelingen kann, die konjunkturelle Krise bald zu überwinden«. Regierung und Koalition seien »auf dem richtigen Weg«.
Der CDU-Kanzler muß sich keine Sorgen machen, daß ihn die Opposition zum Offenbarungseid zwingt. Beim Gespräch zwischen Kanzler und Kanzlerkandidat Rudolf Scharping mieden die beiden alle Themen, die für die Zukunft dieses Landes von entscheidendem Belang sind. Kassandra wählt man nicht - diese Lektion haben viele Genossen seit der Wahlschlappe 1990 verinnerlicht, als Oskar Lafontaine den Niedergang im Osten richtig vorhersagte.
Der neue SPD-Bundesgeschäftsführer Günter Verheugen sieht in seiner Partei die Einschätzung verbreitet, »daß man mit der Wahrheit Wahlen nicht gewinnen kann, daß man die Leute bescheißen muß«.
Freilich, auch die SPD hat lange mitgemacht bei den Bonner Ablenkungsmanövern: Blauhelm-Missionen mit oder ohne Kampfeinsätze (siehe Seite 21), Pflegeversicherung mit oder ohne Karenztage, Lauschangriff - ja oder nein. Als ob das die wichtigen Themen wären.
Die Probleme - das zeigen die hektischen Dementis um die Rentenhöhe der Zukunft - sind mit dem kurzatmigen Vier-Jahre-Wahlturnus und dem Blick auf schnelle Wahlerfolge weniger denn je zu lösen.
Rund sechs Millionen Menschen finden inzwischen im Industriestaat Deutschland keine Arbeit mehr. Bis zum Jahre 2000 wird sich daran nichts ändern, wenn nicht eine aktive Arbeitsmarktpolitik für einen besseren Ausgleich von Angebot und Nachfrage sorgt.
Aber die Regierung Kohl beseitigt die arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Sie müsse sparen.
Ein sinnvoller Umgang mit den staatlichen Mitteln ist zwar überfällig. Auf fast zwei Billionen Mark - 2000 Milliarden - addieren sich die Schulden der Öffentlichen Hand. 1994 kommen weit mehr als 100 Milliarden dazu.
Die Koalition aber hat kein Konzept, wie mit knappen Kassen schwierige Zeiten zu überstehen sind. Sie hat nicht mal den politischen Willen dazu. Statt dessen verteilt der Kanzler Rentengeschenke an Bäuerinnen, und der Finanzminister bedient mit Subventionen bayerische High-Tech-Konzerne; die FDP-Riege im Kabinett sorgt dafür, daß Steuer-Abschreibungsobjekte für ihre Klientel nicht auslaufen.
Stimmenmaximierung heißt die Devise, die Probleme werden verschoben - am liebsten auf übermorgen. Über 1000 Milliarden Mark geben Öffentliche Hand und Sozialkassen im Jahr aus, vieles davon erreicht die Falschen. Gekürzt wird ganz unten - bei Rentnern, Sozialhilfeempfängern, Arbeitslosen.
Auf mehr als 50 Milliarden Mark summieren sich Zuschüsse und Steuerhilfen, die angeblich dem Wohnungsbau dienen sollen. Das Geld kommt Gut- und Best-Verdienern zugute. Die eine Million Menschen, die dringend eine Wohnung brauchen, haben wenig oder nichts davon.
Nötig wäre, alle überflüssigen oder wirkungslosen Subventionen und Sozialtransfers, die an die oberen zwei Drittel fließen, zu kappen und damit dem unteren gesellschaftlichen Drittel die Existenz zu erleichtern. Aber wer macht schon Politik gegen zwei Drittel?
Wer traut sich ans Kindergeld für Großverdiener; an die Sozialwohnung, die längst Begüterte den anderen vorenthalten; an die Privilegien der Beamten, die sich doch um ihren Arbeitsplatz nie sorgen müssen?
Wer tut etwas gegen die Raff- und Versorgungsmentalität der Deutschen, die vom Staat Schadensersatz erwarten, wenn ihr Reisebüro falliert? Die ihre Hausrat-, Kasko-, Reiseversicherungen als Dienstleistungskasse ansehen, deren Prämien als Leistungen zurückfließen müssen?
Unionsfraktionschef Schäuble etwa macht unaufhörlich auf die demographischen Gefahren für die Rentenkasse aufmerksam. Das Land vergreist. Immer mehr Alte müssen von immer weniger Jungen ausgehalten werden (siehe Seite 38). Nur der stete Zustrom fremder Arbeitskräfte kann die Renten sichern, wenigstens bis ins Jahr 2015. Doch statt die Deutschen auf die Folgen vorzubereiten, daß entweder die Renten sinken oder bis zu neun Millionen zuziehen müssen, wird die Ausländerfrage parteipolitisch ausgeschlachtet - auch von Schäuble.
Den wichtigsten Politikbereich, den Umweltschutz, hat die christlich-liberale Bundesregierung am stärksten vernachlässigt. Viele wohlklingende Reden, starke Ankündigungen, ein paar halbherzige Reparaturversuche - die Öko-Bilanz ist schlecht. Der Wald stirbt, die Müllberge wachsen, der Verkehrsinfarkt rückt näher, die Umweltkrankheiten nehmen drastisch zu.
Die Rechnung mag Kohl seinen Wählern nicht präsentieren. Die Republik lebt wie gehabt auf Kosten der Kinder und Enkel.
Selbst prominenten Parteifreunden des Kanzlers wird das fröhliche Weiterso-Deutschland unheimlich. Jürgen Rüttgers, Bonner Fraktionsgeschäftsführer der CDU/CSU, sieht in der Umweltpolitik nur »ein Reagieren auf ökologische Notstände«, er vermißt »ein gesamtpolitisches Konzept«.
Nach der neuesten SPIEGEL-Umfrage (siehe Seite 28) wissen die Deutschen, was in der Politik nötig wäre. Sie trauen es aber keiner Partei mehr zu. 20 bis 35 Prozent sagen inzwischen, »keine von allen« Parteien könne anstehende Probleme lösen.
SPD-Verheugen hat deshalb, etwas übertreibend gewiß, eine »prä-faschistische Situation« ausgemacht: »Wir bewegen uns auf ein riesiges politisches Vakuum zu, das die Parteien nicht mehr füllen können, das dann durch den Ruf nach dem starken Mann gefüllt werden wird.«
Kohl sieht die Gefahren ähnlich dramatisch. Nur gibt er nicht sich die Schuld daran, sondern den anderen - den unfähigen Parteien, Gewerkschaften und Medien, jenen »gesellschaftlichen Gruppen, die nur ihre Partikularinteressen verfolgen«.
Der Ruf nach einem starken Mann, glaubt Kanzler Kohl, mag sich mit einer Großen Koalition vorübergehend aufhalten lassen. Sein Konkurrent Biedenkopf glaubt mehr an die Kraft der Überzeugung.
Vielleicht will er auch, so sagen ihm seine Feinde in Kohls Kanzleramt nach, die Abrechnung mit der bisherigen Parteiführung nutzen, um »selber Vizekanzler oder Kanzler zu werden«. Y
* Sterbender Wald im Erzgebirge; Protestdemonstration in Berlin.