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Artikel 52 / 102

Ein Rollfeld für Multis? Professor Dr.

von Wolfgang Kartte
aus DER SPIEGEL 23/1989

Professor Dr. Wolfgang Kartte, 61, ist seit 1976 Präsident des Bundeskartellamtes in Berlin.

Ein Hundsfott, wer nicht für Europa ist. Natürlich sind wir alle für Europa, für größere Märkte, für größere Unternehmen, die es den Japanern und den US-Konzernen schon zeigen werden. Und während der Deutsche Bundestag sich mit der 5. Kartellgesetznovelle und dem Dienstleistungsabend abmüht und Otto Normalverbraucher mit Neuigkeiten über die Bundesliga abgefüttert wird, nutzen ehrgeizige Unternehmensführer, auf der Europawelle reitend, die Gunst der Stunde. Sie bereiten die Machtübernahme vor.

»Binnenmarkt 92«, als Schlagwort positiv, griffig, herausfordernd, imperativ. Aber keiner weiß so recht, was es bedeutet. Viele machen sich darüber gar keine Gedanken, bei manchen erzeugt es ein bißchen freudige Erwartung ("Kann ich dann vielleicht billiger in der Bretagne Urlaub machen?"), bei anderen auch Angst ("Bleibt mein Arbeitsplatz sicher?"). In solche Ungewißheit hineingesprochen, findet die Feststellung unserer Wirtschaftsführer, wir brauchten mehr große, weltweit operierende Unternehmen, weithin Zustimmung.

Kürzlich traf sich die Creme de la creme des europäischen Managements im Stuttgarter Neuen Schloß. Die Vorbereitung war in die Hände von McKinsey/Deutschland gelegt. Thema waren »konkrete Konsequenzen für politische Weichenstellungen sowie unternehmerische Strategien und Entscheidungen, wie sie der vollendete Binnenmarkt verlangen und ermöglichen wird«.

Welche politischen Weichen sollten gestellt werden? McKinsey-Chef Herbert Henzler ließ die Katze aus dem Sack: Als Hauptgewinner von »Europa 92« sieht er die international tätigen Unternehmen an. Die multinationalen Konzerne, die großen Gewinner im Machtgefüge, sollten sich, so sein Rezept, in möglichst vielen Ländern als good local citizen zeigen. Allerdings müßten die Bürger sich mit einem abfinden: Sozialpolitische Forderungen werde der Staat schon deshalb immer weniger erfüllen können, »weil die globalen Unternehmen sich der nationalen Kontrolle entziehen«.

Die Standortwahl der Multis folge objektiven Kriterien. Aber ihre Infrastrukturmaßnahmen hätten, neben ökonomischen Gesichtspunkten, »auch weltwirtschaftliche Verantwortung« zu berücksichtigen. Dem Staat, dem großen Verlierer, wird nur noch eine bescheidene Aufgabe zugewiesen, nämlich die »Vision Europa« zu vertreten und zu zeigen, welche Rolle er »im Zusammenwirken mit Unternehmen, Konsumenten und Arbeitnehmern« noch spielen könne.

Das ist schon starker Tobak. Die Multis entziehen sich der Kontrolle durch den Staat, reklamieren bei ihren Investitionen weltwirtschaftliche Verantwortung und der Staat soll um seine verbleibende Rolle mit ihnen ringen.

Wozu haben wir die Fürsten abgeschafft, wenn wir uns jetzt, in Europa, einer neuen Aristokratie von Unternehmensführern ausliefern sollen? Wir lassen uns doch lieber von Politikern regieren, die uns aufs Maul schauen müssen, damit wir sie wiederwählen. Wer wird die Multis kontrollieren, wer kann sie abwählen?

Die Chefs solcher Unternehmen mögen von ihrer Sendung überzeugt sein, sie mögen sich einer selbstgestrickten Ethik verpflichtet fühlen und sie mögen gelegentlich tatsächlich rationaler handeln können als unsere Politiker, die sich vielfachen Zwängen ausgesetzt sehen. Aber sie sind nicht - wie diese - demokratisch legitimiert, Macht auszuüben. Wir dürfen uns von ihnen nicht hinter unsere demokratische Verfassung zurückwerfen lassen.

Wenn ein kleines oder mittleres Unternehmen im Markt versagt, geht es in Konkurs. Einer, der zigtausend Arbeitsplätze verwaltet, hat die Rache des Marktes nicht zu fürchten. Seine stille Reserve ist der Subventionstopf. Letztlich haften für alle Fehlentscheidungen der Großen die Arbeitnehmer, die Steuerzahler.

Nein, das ist nicht unser Europa. Europa soll nicht nur für die Techniker der Macht, nicht nur für die Bürokraten und die Manager da sein, sondern vor allem für die Bürger. Und dazu gehört Vielfalt, Überschaubarkeit, mehr Qualität statt immer mehr Quantität und die Gewißheit, daß keiner von uns gut genug ist, Macht über andere auszuüben, ohne gewählt zu sein. Oligarchie der Konzerne - nein, danke.

Wie nach dem Stelldichein im Stuttgarter Schloß zu lesen war, haben die Top-Manager McKinseys Europa offenbar nicht in ihren Wunschkatalog aufgenommen. Das spricht für sie. Es ist ja richtig, wenn sie eine harmonisierte Fiskal- und Geldpolitik fordern, Unternehmensgrößen, mit denen sich die Stückkosten senken lassen, und mehr Flexibilität der Gewerkschaften. Lobenswert ist auch, daß sie sich gegen das Subventionsunwesen und dafür ausgesprochen haben, daß bei den Produkten in Europa mehr die Qualität als die Quantität betont werden müsse.

Der Frieden ist jedoch trügerisch. Aus Brüssel, der kommenden Schaltzentrale der Macht, sind immer wieder merkantilistische Töne zu hören. Zitat aus dem Entwurf eines Statuts für eine europäische Aktiengesellschaft: »Die Wettbewerbsfähigkeit der Gemeinschaft ist sowohl auf den Inlandsmärkten als auch auf dem Weltmarkt ernsthaft gefährdet. Wir werden nicht schritthalten und erst recht nicht die Führung übernehmen können, wenn es uns nicht gelingt, unsere Industrien dazu zu bewegen, ihre Kräfte zu vereinen.«

Das ist der staatlich organisierte Kampf der großen Wirtschaftsblöcke gegeneinander, der an die Stelle des Wettbewerbs einer Vielfalt von Unternehmen in einer weltoffenen Wirtschaft treten soll. Ist das etwa unsere Vision einer friedlichen, menschlichen, vom Bürger und nicht von den Managern bestimmten Welt?

Niemand bestreitet, daß größere Märkte auch größere Unternehmen verlangen. Das Zusammenwachsen der nationalen Märkte in Europa und in der Welt hat aus großen Unternehmen in den kleinen, nationalen Märkten kleine Unternehmen im großen Markt gemacht. Daraus ergab sich ein Aufholbedarf, ein Bedürfnis nach mehr Größe, den unsere Industrie, unsere Banken, Versicherungen und Handelskonzerne, wie die Konzentrationsstatistik ausweist, bereits seit vielen Jahren durch Zukäufe im In- und Ausland fleißig stillen. Unsere Großunternehmen können sich heute im Weltmaßstab sehen lassen.

Und vor allem: Unsere Volkswirtschaft mit der vielgerühmten Mischung aus großen, mittleren und kleinen Unternehmen, gestärkt in 40 Jahren weltoffenem Wettbewerb, ist heute die leistungsfähigste der Welt, obgleich es in den USA und Japan erheblich größere Unternehmen gibt. Die Bundesrepublik ist das größte Exportland der Erde. Wir liegen etwa gleichauf mit den USA und Japan und weit vor allen anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft. Unser Wohlstand erscheint so sicher, daß manche Esel unter uns schon aufs Eis tanzen gehen.

Wo hat die Praxis jemals gezeigt, daß Großkonzerne mehr leisten und daß Arbeitsplätze bei ihnen sicherer sind? Unsere blendenden Erfahrungen mit der sozialen Marktwirtschaft, die gute Ausbildung und der Fleiß unserer Arbeitnehmer sowie der Ideenreichtum, die Beweglichkeit und das Qualitätsbewußtsein unserer Unternehmer sprechen dafür, daß wir mit unseren Wirtschaftsstrukturen richtig liegen.

Wo noch Größenvorteile zu holen sind, werden unsere Unternehmen in Europa und in der Welt weiter wachsen. Darauf können unsere Konkurrenten sich gefaßt machen. Aber das wird der Markt entscheiden. Das krampfhafte Zusammenbasteln von Großkonzernen, das stets mit Subventionierungen verbunden ist und das die kleineren Konkurrenten, Zulieferer und Abnehmer benachteiligt und entmutigt, ist nicht unser Weg.

Wenn Nachbarn in Europa meinen, daß sie ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit durch immer mehr Unternehmenskonzentration verbessern können, na dann alles Gute! Wir, die wir andere Erfahrungen haben, dürfen uns nicht auf erwiesene Irrwege ziehen lassen. Unsere Marktwirtschaft ist erprobt, und wir wissen, daß Unternehmenskonzentration von einem gewissen Punkt an nur noch Macht und Einfluß auf Kosten anderer bedeutet, aber nicht größere Leistungsfähigkeit.

Den Jüngeren unter uns mag es egal sein, ob sich in der europäischen Wirtschaftsphilosophie die Epigonen von Adam Smith oder von Jean-Baptiste Colbert durchsetzen: Die meisten von ihnen kennen keinen von beiden. Sie kennen die letzten 20 glücklichen Jahre, und sie rechnen damit, daß es irgendwie so weitergehen wird. Ihre Unbefangenheit, auch eine Gnade der späten Geburt, ist ihr gutes Recht. Wenn sie gut ausgebildet, ehrgeizig, mobil sind und etwas leisten wollen, ist Europa für sie ein Traum.

Aber was tun wir, die wir die wirtschaftliche Entwicklung unserer Republik von Anfang an miterlebt haben? Dürfen wir unsere Augen verschließen und jetzt die Dinge laufen lassen? Dürfen wir uns seniler Duldsamkeit hingeben?

»Binnenmarkt 92": Wird es in der Nacht zum 1. Januar 1993 einen Urknall geben, der die Silvesterraketen übertönt und mit einem Schlag aus dem Europa der Vaterländer eine wirkliche Gemeinschaft macht? Sicher nicht. Wie lange hat es gedauert, bis der Deutsche Zollverein zustande kam!

Die Beamtenheere in Brüssel hingegen sind darauf aus, Europa mit der Brechstange zu bauen. Häuser errichtet man von unten nach oben, sollte man meinen. Nein, sie konstruieren Europa vom Dach her nach unten. Sie wollen möglichst viele Regeln des kommenden Binnenmarktes im voraus festlegen, anstatt sich auf das Nötige zu beschränken.

Der Europäische Gerichtshof hat vorgemacht, wie es geht: Ein Produkt, das auch nur in einem Mitgliedstaat der Gemeinschaft auf dem Markt ist, muß von allen anderen Mitgliedstaaten akzeptiert werden, auch wenn überkommene nationale Vorschriften entgegenstehen. Die Verbraucher sollen entscheiden, welches Bier sie trinken und welche Nudeln sie essen wollen.

Im Brüssel der 17 Kommissare dagegen werden unablässig neue Vorschriften und Richtlinien produziert. Die Harmonisierungswut ist beängstigend, und viele nationale Experten machen mit. Karl Otto Pöhl von der Bundesbank kann noch hoffen: Die Inflationsangst ist im Publikum so tief verwurzelt, daß Europapolitiker darauf Rücksicht nehmen müssen. Marktwirtschaft und Wettbewerb hingegen, deren Vorteile jeder Bürger still genießt, über deren Rolle sich aber kaum einer Gedanken macht, werden nicht so ernst genommen.

Das zeigt die Diskussion um die europäische Fusionskontrolle. Hier geht es ja nicht nur um die Verlagerung eines bisher nationalen Kontrollverfahrens nach Brüssel. Eine europäische Fusionskontrolle brauchen wir. Es geht um die Inhalte unseres Kartellgesetzes, des Grundgesetzes der sozialen Marktwirtschaft, es geht um die Basis unserer erfolgreichen Wirtschaftsordnung.

Im Augenblick will uns Brüssel unser Wettbewerbskonzept ohne gehörige Abstriche nicht abnehmen. Werden wir ein bißchen Geduld aufbringen, werden wir verteidigen, was unsere Wirtschaft auf Trab gebracht hat? Oder geht Konsens, geht Harmonie über alles?

Die Fusionskontrolle soll Marktbeherrschung, die Außerkraftsetzung des Wettbewerbs verhindern. Den Wettbewerb selbst überlassen wir der Findigkeit und der Tüchtigkeit unserer Unternehmen. Lassen wir uns heute auf eine Aufweichung dieser klaren Linie ein, lassen wir es zu, daß die Fusionskontrolle auch als Plattform für das Zusammenfügen industriepolitisch erwünschter Großkonzerne benutzt werden kann, schlägt dies auch auf das verbleibende nationale Wettbewerbsrecht zurück. Wir können die Kleinen bei uns nicht schärfer anfassen, als Brüssel die Großen anfaßt.

Im übrigen hat unser Kartellgesetz stets auch Signale für die Wirtschaftspolitik gesetzt, wie die gegenwärtig breite Diskussion um den Fusionsfall Daimler-Benz/MBB zeigt. Auch damit wäre es zu Ende.

Wir müssen aufpassen, daß wir Europa nicht zu einem riesigen Rollfeld für die multinationalen Konzerne einebnen, einäugig auf die Interessen der Großunternehmen oder, was der wirklichen Interessenlage wohl näherkommt, auf den Machtanspruch ihrer Manager fixiert. Die Stärken unserer Wirtschaft sind Vielfalt, natürlich auch erfolgreiche Großunternehmen, aber gewiß nicht Größe schlechthin.

Denken wir bei unseren Entscheidungen genügend an die Bedürfnisse und die Wertvorstellungen der Bürger? Der Normalbürger kriegt ja gar nicht mit, was ihm im fernen Brüssel geschieht, oft wird es gar nicht mehr in die deutsche Sprache übersetzt. Wo ist das mit ausreichenden Kompetenzen ausgestattete Europäische Parlament, das den Multis noch Gesetze aufzwingen könnte?

Herr in Europa ist die EG-Kommission, ein gewaltiger Verwaltungsapparat, der auf dem Papier vom Ministerrat, das heißt von den Regierungen der zwölf Mitgliedstaaten, gesteuert wird. Doch die Macht der Kommission hat sich unheimlich vergrößert, seitdem für Entscheidungen des Ministerrats das Mehrheitsprinzip eingeführt wurde. Jetzt läuft es bei der Schaffung des Binnenmarktes so: Will die Kommission einen Vorschlag beim Rat durchsetzen, so braucht sie nur eine Mehrheit der Ratsmitglieder auf ihre Seite zu ziehen. Will dagegen der Rat von einem Vorschlag abweichen, auf den sich zuvor die Kommission mit dem Europäischen Parlament verständigt hat, so kann er dies nur einstimmig erreichen.

Auch die großen Mitgliedstaaten wollen sich nicht in die Ecke des Euromuffels stellen lassen und tun sich schwer, der Kommission entgegenzutreten. So werden immer mehr Befugnisse nach Brüssel geschaufelt. Fast alle machen mit, selbst wenn die Kommission sich um Dinge kümmert, die sie nichts angehen und die in der Vielfalt der Mitgliedstaaten besser aufgehoben wären, wie Tempolimit und Ausländerwahlrecht.

So befriedigen die Experten in Brüssel ihr Harmoniebedürfnis, lassen Gewachsenes und Bewährtes vorschnell über Bord gehen und bestimmen so über unsere Zukunft. Berge von Papier und die Überlastung unserer gewählten Volksvertreter mit Tagesfragen machen sie autark.

Der Binnenmarkt ist inzwischen zum Selbstläufer geworden. Die Wirtschaft will ihn, sie hat ihn weitgehend schon vorweggenommen, und wir alle können Vorteile daraus ziehen. Das bedeutet auch Zugeständnisse, auch Souveränitätsverzicht. Wir können nicht verlangen, daß am deutschen Wesen die Welt genesen soll. Aber jeder Mitgliedstaat, jeder unserer Freunde in Europa, hat besonders liebenswerte, besonders gute Seiten, und wir sollten uns die Zeit nehmen, voneinander zu lernen.

Wir Deutschen haben vor 40 Jahren das Glück gehabt, die soziale Marktwirtschaft zu entdecken. Sie ist eine unserer besten Seiten. Gute Europäer können wir nur sein, wenn wir dieses Licht auch in den großen Binnenmarkt hineintragen. Wolfram Langer, Wegbegleiter und Ghostwriter Ludwig Erhards, hat beklagt, daß wir keinen neuen Ludwig Erhard hätten. Haben wir ihn wirklich nicht?

Wolfgang Kartte

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