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Spiegel des 20. Jahrhunderts »Ein schäbiges Spiel«

Der Tag des Mißtrauensvotums 1972 in Bonn / Von Hartmut Palmer
Von Hartmut Palmer
aus DER SPIEGEL 20/1999

Im alten schwarzgetäfelten Bonner Plenarsaal wußte man nie, ob es draußen regnete oder die Sonne schien. Aber ich sehe noch Günter Grass aufspringen und den Daumen nach oben recken. Hoch aufgerichtet stand er auf der Pressetribüne und genoß den Sieg - ein triumphierender, schnauzbärtiger Imperator. Wenige Plätze neben ihm war der ZDF-Moderator Gerhard Löwenthal, einer der erbittertsten publizistischen Feinde der sozial-liberalen Regierung und ihrer Ostpolitik, kreidebleich in sich zusammengesackt.

Willy Brandt hatte gewonnen. Das Mißtrauensvotum der CDU/CSU war gescheitert. Der große Verlierer hieß Rainer Barzel. In einer einzigen Sekunde waren alle Hoffnungen und Befürchtungen, alle Prognosen und Berechnungen, alle Planspiele und Parolen der letzten aufregenden Tage wie Seifenblasen zerplatzt.

»Der Wagen rollt«, wird Herbert Wehner später der aufgewühlten SPD-Fraktion zurufen. »Wir bleiben auf unserer Straße.«

Nie mehr danach konnte man im Bundestag eine Abstimmung erleben, die soviel Jubel und soviel blankes Entsetzen auslöste wie jene über das konstruktive Mißtrauensvotum am 27. April 1972.

Zum erstenmal in der Geschichte der damals knapp 23 Jahre alten Republik war der Versuch unternommen und abgewehrt worden, einen gewählten Kanzler zu stürzen - ein legaler Versuch, gewiß. Aber da er nur mit Hilfe von Überläufern gelingen konnte, durchaus anrüchig.

Seit ihrer Bildung im Herbst 1969 war die sozial-liberale Koalition ständig geschrumpft, weil Parlamentarier der FDP, aber auch der SPD die Seite gewechselt hatten. Rein rechnerisch verfügte Barzel inzwischen über 246 Stimmen - nur 3 weniger als zur absoluten Mehrheit nötig.

Nun hatten drei weitere FDP-Abgeordnete festgestellt, daß sie die Regierung aus Gewissensgründen nicht länger stützen könnten: der niedersächsische Bauer Wilhelm Helms, der hessische Edelmann Knut Freiherr von Kühlmann-Stumm und der nordrhein-westfälische Unternehmensberater Gerhard Kienbaum.

Als Bauer Helms am Tag der von der FDP spektakulär verlorenen baden-württembergischen Landtagswahl seinen Austritt aus der Fraktion verkündete, habe Barzel quasi die Losung ausgegeben »Helms ab zum Gebet«, spottete sein Sprecher Eduard Ackermann. Es war das Signal zum Angriff. Denn außer den drei Liberalen gab es weitere Aspiranten.

Der SPD-Abgeordnete Günther Müller zum Beispiel - einst Juso-Bundesvorsitzender, aber längst am äußersten rechten Rand der SPD isoliert - bereitete mit diffusen Andeutungen seinen späteren Übertritt zur CSU vor. Hinzu kamen zwei oder drei Liberale, denen die sozial-liberale Richtung schon immer nicht gepaßt hatte. Barzel war also, wie er zwei Tage vor der Abstimmung den SPD-Bundespräsidenten Gustav Heinemann wissen ließ, fest davon überzeugt, daß mindestens 250 Abgeordnete hinter ihm stünden.

Aber auch er konnte seiner Sache keineswegs sicher sein. Hartnäckig hielt sich das Gerücht, mindestens zwei Unions-Christen wollten Barzel beim Mißtrauensantrag sitzenlassen. Jeder Unions-Abgeordnete, der auch nur andeutungsweise Sympathien für die Ostverträge zeigte, galt als Sicherheitsrisiko.

Am Morgen vor der Abstimmung trafen die Journalisten auf ihrem Weg zur Pressetribüne nur noch niedergeschlagene Sozial- und hochgestimmte Christdemokraten. Nach einem Gespräch mit dem Kanzler hatte Kühlmann-Stumm definitiv erklärt, er werde für Barzel stimmen und anschließend das Mandat niederlegen.

Kanzler Brandt und sein Außenminister, der FDP-Chef Walter Scheel, schienen sich keine Illusionen mehr zu machen. Beide sprachen derart bitter über Verrat und Überläufer, daß niemand im Saal mehr daran zweifelte, daß sie die Partie verloren gaben.

»Was hier gespielt werden soll, ist ein schäbiges Spiel«, rief Scheel. Wer durch Verrat die eigene materielle Zukunft sichere, aber Gewissensnöte als Motiv vorschütze, verdiene nur Verachtung.

Auf der Pressetribüne strahlte ZDF-Löwenthal: »Willy kann die Koffer packen.« »Panorama«-Chef Peter Merseburger, ein bekennender Sozial-Liberaler, seufzte: »Jetzt können uns nur noch ein paar CDU-Stimmen retten.« Bleierne Traurigkeit senkte sich über den linken und den rechten Rand des Plenarsaals, wo SPD und FDP ihre angestammten Plätze hatten. Die Regierungsbank war schon geräumt.

Die Abstimmung war geheim. Aber SPD-Fraktionsgeschäftsführer Karl Wienand hatte ein raffiniertes Verfahren ausgeheckt, um sie etwas transparenter zu machen. Wie Barzel seine 249 Stimmen zusammenbringe, sei dessen Problem, argumentierte der ehemalige Dorfschullehrer aus Rosbach an der Sieg. Also könne jeder, der die Abwahl Brandts verhindern wolle, während der Abstimmung demonstrativ sitzen bleiben.

Der Gang zur Wahlkabine, so das Kalkül des Wienand-Plans, sollte für jeden Sozial- und Freidemokraten zum Spießrutenlaufen werden. Einige Liberale protestierten und gingen demonstrativ in die Kabine. Von der SPD wagte dies nur Günter Müller, alle anderen blieben sitzen.

Noch bevor Bundestagspräsident Kai Uwe von Hassel (CDU) das Ergebnis verkünden konnte, brach am Zähltisch zur linken Hand des Präsidenten Jubel aus. SPD-Abgeordnete warfen die Arme in die Luft. Von der gegenüberliegenden Seite des Plenarsaals eilten die Parteioberen der FDP herbei. Umarmungen, Schulterklopfen, Freudentränen.

Wellenförmig breitete sich die Bewegung aus. Je lauter SPD und FDP jubelten, desto eisiger das Schweigen bei der Union. Rainer Barzel saß starr auf seinem Platz in der vordersten Bank, umgeben von versteinerten Gesichtern. Das Kanzleramt, eben noch zum Greifen nahe, war wieder in weite Ferne gerückt. Und Barzel konnte es nicht fassen. Triumphierend bauten sich einige Sozialdemokraten vor ihm auf. Sie klatschten laut und höhnisch Beifall.

Alles drängte nach vorn zur Regierungsbank, wo der Kanzler und seine Minister nach der Verkündung des offiziellen Ergebnisses - 247 Ja-, 10 Nein-Stimmen, 3 Enthaltungen - wieder Platz genommen hatten.

Nur einer schwamm gegen den Strom: Karl Wienand. Der Fraktionsgeschäftsführer hatte Mühe, vom Präsidententisch zurück zu seinem Platz in der zweiten Reihe zu kommen. Endlich hatte er es geschafft. Während alles um ihn herum aufsprang, um Brandt und Scheel stehend zu feiern, sank Wienand in seinen Klappstuhl. Erschöpft, aber zufrieden sah er aus, wie nach getaner Arbeit.

Palmer, 57, ist SPIEGEL-Redakteur in Bonn.

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