Ein Schock für drei bis vier Jahre
Beim Professor Friedrich Ohnesorge, Toxikologe an der Kieler Christian-Albrechts-Universität, klingelte ein Apotheker aus dem Arbeiterviertel Gaarden an und ersuchte dringend um wissenschaftlichen Beistand: Was denn wohl bei Benzinvergiftung zu tun sei mindestens drei Kunden hätten »offensichtlich gelutscht«.
Am Schlauch genuckelt wurde letzte Woche überall im Bonner Staat. Beim Umfüllen von Benzin. sei es aus eigenem oder aus fremdem Tank, nahmen Kraftfahrer ungewollt den Mund voll.
Friedrich Ohnesorge prophezeite den Saugern »narkotische Wirkungen, Lungenentzündungen. Erregbarkeit bis zu Krämpfen«, ja sogar Leukämie -- als »Spätfolge«. Für einen Heizungsmonteur in Hamburg-Eidelstedt kam jede Warnung zu spät: Als er seinen Tank entleerte, schossen Flammen auf. Das Auto verbrannte, sein Eigner kam ins Krankenhaus.
Zu Wallmerod im Westerwald blickte Tankwart Heinz Eilberg. 37, in die Mündung einer Pistole, als er dem Fahrer eines silbergrauen Mercedes 280 SE nur 15 Liter ablassen wollte. Flugs erhöhte der Westerwälder auf 72,1 Liter Super für glatte 59 Mark -- da öffnete der Sprit-Bandit den Kofferraum und zeigte auf vier Kanister. Und nur, weil ein Lastwagen heranrollte, blieb nun der Hahn zu. Der Silbergraue brauste davon.
Gift und Gangsterei zeigten Apokalyptisches an -- die Vorstellung vom Ende aller Tage, da an Treibstoff noch kein Mangel war. Hier und da keimte Panik auf, allen fast kam die Sorge, was denn nun werden solle aus Autos und Autofahrern, mit der Autoindustrie und dieser ganzen, eben noch so mobilen Autogesellschaft.
Macht- und saftlos standen die Kraftfahrer Schlange vor den Zapfsäulen, kurvten von Esso zu Shell und von dort zu Aral, um hier fünf, da zehn Liter und vielleicht gar den Tank mal ganz voll zu bekommen. Gänzlich ungewöhnliches Konsumverhalten wurde sichtbar (viele drosselten freiwillig die Geschwindigkeit) wie auch mörderische Umsicht (manche schalteten bergab den Motor aus), als Sonntagssperre und Tempo-Limit wirklich wahr geworden waren.
Und selbst der gute Stern, an dem sich das fahrende Volk stets orientieren konnte, war nur mehr ein Symbol des Ungewissen. Vorsorglich schon. als die Autodämmerung erst heraufzog, hatte Daimler-Benz-Vorstandsvorsitzender Joachim Zahn eine Aufklärungskampagne über die Vorzüge des Kraftwagens angeordnet. »Einen drei- bis vierjährigen Schock« fürchtet der Mercedes-Direktor Klaus Oertel.
»Die 100-Kilometer-Tempo-Bestimmung macht uns auch noch das Frühjahrsgeschäft kaputt«, klagt Ford-Vorstandsmitglied Banzhaf. »Generelle Geschwindigkeitsbegrenzung«, verlautbarte Opel, werde »gewisse Käufer veranlassen, auf Fahrzeuge mit hoher Motorleistung zu verzichten« -- auf Commodores, Admirale. Diplomaten. Alle hatte es erwischt, Konsumenten wie Produzenten, solche, zu denen man sonntags fährt (Liftbesitzer im Alpenland und Schankwirte in der Heide). und solche, die immer auf Achse sind (der Fernfrachtverkehr, die Buslinien).
Doch was oberflächlich aufschreckte. machte den Tiefgang der Krise nicht deutlich. Sie traf die Deutschen an ihrer empfindlichsten Stelle.
Nichts anderes bezeugt ihr Emporkommen so funkelnd, so farbig und auch so laut. Kaum ein anderes Volk dieser Erde besitzt mehr solcher Beweise für Prosperität und Potenz. Amerika gerade noch ausgenommen. Und das sollte nun nicht mehr stimmen?
Spärlich genutzte Straßen, jetzt fast zum Marschieren da. gemahnten die Älteren an Jahre, in denen Trittbrettfahren noch kein ironisches Gleichnis war. Rückblicke auf graue Zeit, bange Scherze vom Kohlenklau und vom Kippensammeln machten die Stimmung der Republik.
Nie zuvor war den Bürgern so brennend bewußt geworden, wie fest sie im Schlepp ihrer Wagen hängen. Nie vorher aber war auch so klar, daß kein Weg mehr zurück führt. Zu eng ist, aller Romantik zum Trotz, die Verflechtung des Automobils mit dem Gefüge dieser Gesellschaft, als daß sie noch aufzulösen wäre.
Daß die Deutschen mit »Flocki und »Mufti« am Heck herumfahren, daß sie samstags ihr Blech wie besessen wienern und mit Tränen kämpfen, wenn die Schnauze zerknautscht ist, mag Schöngeister schaudern machen. Doch diese Fetisch-Funktion besetzt die Begriffsweit ums Auto nur noch partiell.
Denn das eigene Gefährt ist, so eine Esso-Studie, legitimes »Symbol einer Gesellschaftsordnung geworden. in der die Freiheit der Entscheidung des einzelnen über seine Bedürfnisse ein Kernpunkt ist«, es ist »Medium und Symbol der Freiheit« zugleich, wie der Philosoph Theodor Adorno formulierte.
Es bietet gleichermaßen Intimität. »temporäre Befreiung von Zwängen und Ansprachen, die durch das bloße Schließen der Autotür und das Losfahren erreicht wird« (der Soziologe Janpeter Kob). Und auch die »großartige Chance« zu einer »noch nicht dagewesenen Erschließung der Umwelt« (der Politiker Willy Brandt). Mobilität, sagt der Berkeley-Professor Melvin Webber, »wird zunehmend als Medium der Kommunikation dienen, als Mittler zwischenmenschlicher Entwicklung und sozialer Integration«.
Und so könnte -- Wirtschaft hin, Arbeitsplätze her -- gerade die Sperre am Wochenende, da der Wagen am ehesten entbehrlich erscheint, die Bürger am meisten irritieren. Denn Begriffe wie »Freizeit« und »Auto«, sagt der Hamburger Psychologe Christian Bunkowsky, sind sich nahe, weil »Leben außerhalb des Betriebes gegenüber einer unlustbetonten Tätigkeit immer mehr Bedeutung gewinnt«. Und deshalb ist just »am Sonntag«, so die »Welt«, »das Auto am wenigsten ein Stück Vernunft und am meisten ein Stück Spaß«.
Zuviel des Guten offenbar für gesellschaftsmüde Wohlstandskritiker. denen das Automobil nur mehr Vehikel des Bösen ist; die, wie nirgendwo sonst auf der Welt, so emotional, so glaubensstark Front gemacht haben gegen dieses Räderwerk -- von den Jusos ("Der motorisierte Individualverkehr ist ein Grundübel unserer Gesellschaft") bis hin zur »Antiauto-Liga« in München, die sich zurücksehnt in die Zeit vor dem Hubkolben: »Es muß wieder so werden, daß man ohne das Damoklesschwert des heranrasenden, stinkenden, lärmenden und Gift ausstoßenden Autos im Rücken ungehindert laufen, radfahren und die Natur zur dringenden Erholung seiner Kräfte genießen kann.« »Ohne Auto kann nicht produziert, transportiert, existiert werden.«
Doch nicht nur solche Psalme aus dem Reformhaus waren es, die den Autofahrer anfochten. Sie mußten auch für Staat und Wirtschaft zu allem herhalten: Immer mehr Zwänge und immer mehr Abgaben erlegten die einen auf, höhere Preise und höhere Prämien holten sich die anderen.
Nächst Tabakwaren ist kein anderes Konsumgut so hoch besteuert wie das Automobil. Um rund 40 Prozent höher noch als die kräftig kletternden Mieten stiegen in den letzten drei Jahren die Kosten für jene Bundesbürger, die einen Wagen besitzen -- und das betraf 60 Prozent aller privaten Haushalte. Und nicht einmal die davongaloppierenden Nahrungsmittelpreise zogen mit solch rasanter Beschleunigung an. Recht so. wenn es nach dem Deutschen Städtetag ginge, der »die Abkehr von der heiligen Kuh der westlichen Welt. dem Auto«, forderte.
Wohl ist Wahres daran, daß zu viele Autos zur »Geißel der Städte« geworden sind, wie Hannovers OB Herbert Schmalstieg übertreibt. Daß sich der Kraftwagen in den Stadtkernen, in hochverdichteten Siedlungsräumen festgefahren hat und häufig mehr Last als Lust einbringt, bestreiten nicht einmal mehr seine Produzenten. Und unstreitig ist, was das Auto sonst so beschert: die Abgase, das Verkehrsgewühl, die Verletzten, die Toten.
Und doch ist, wie die »Frankfurter Allgemeine« schreibt, »die Anti-Auto-Welle der jüngsten Zeit, von Staats wegen geduldet oder gar geschürt, nicht weniger naiv als die kritiklose Auto-Begeisterung von ehedem«. Deshalb auch. weil »wir es brauchen und zu einem guten Teil von ihm leben«.
Denn dieses Reizmittel der Wohlstandsgesellschaft, das zumindest mehr Mobilität und mitunter auch mehr Vergnügen bereitet als die Benutzung der Straßenbahn. ist zugleich etwas, wovon kaum noch geredet wird: ein derzeit unentbehrlicher Gebrauchsartikel. »Ohne Auto«, so lapidar der »Deutsche Verkehrssicherheitsrat"« »kann nicht produziert, transportiert, existiert werden.« Auf lange Sicht kein Ersatz im Nahverkehr.
Acht von zehn Automobilisten fahren in ihrem Wagen zur Arbeit -- und davon viele eben nicht zum Vergnügen. Einfältig ist daher der emphatische Appell, einfach umzusteigen. Denn der öffentliche Nahverkehr. der im größten Teil der Republik durch ein leistungsschwaches, unkomfortables, zeitraubendes Sammelsurium von Straßenbahnen und Bussen repräsentiert wird, ist gerade für den kritisch abwägenden Kraftfahrer auf lange Sicht kein Ersatz -- schon gar nicht jetzt, da die Ölkrise über Deutschland gekommen ist, Selbst bei größtmöglicher Verstärkung des Linienverkehrs« so gab Hessens Wirtschaftsminister Heinz Herbert Karry zu verstehen, würden die Kapazitäten nicht für die »krisenbedingt erhöhte Nachfrage« ausreichen,
Kein Mittel ist in Sicht gegen jenen teuflischen Regelkreis, der seit langem schon in volkreichen Regionen immer mehr Verkehr erzeugt: Arbeitsplätze (bevorzugt zentral) und Wohnstätten (bevorzugt dezentral) rücken ständig weiter auseinander. »Breiförmige Siedlungen geringer Wohndichte"« notierte das Hamburger »Institut zur Erforschung technologischer Entwicklungslinien«, »verhindern die wirtschaftliche Verkehrserschließung durch den öffentlichen Nahverkehr und stimulieren den Einsatz des Pkw für nahezu alle Verkehrsbedürfnisse.«
In diesem Winter nun -- und wer weiß, wie lange noch -- büßen Westdeutschlands Kraftfahrer nicht mehr nur für verfehlte Stadtplanung und versäumte Raumordnung, für ein obsoletes Bodenrecht und ein mangelhaftes Nahverkehrssystem, sondern auch für eine fragwürdige Energiepolitik.
Daß die Benzinpreise -- selbst dann, wenn sich die Quellen in der Wüste wieder auftun -- jemals fallen werden, widerspricht aller Erfahrung. Daß ein Tempo-Limit, erst einmal erlassen, wieder gestrichen wird, glauben nach Umfragen drei Viertel der Bevölkerung nicht. »Das wird nicht zurückgenommen«, sagt der Dortmunder Verkehrswissenschaftler Professor Paul Baron, »das wird allenfalls um ein Geringes angehoben?
Und Zweifel müßten die Deutschen auch daran haben, ob Tempo-Limit samt Fahrverbot denn tatsächlich die Krise so kürzen helfen, wie Appelle der Regierenden glauben machen möchten.
Zehn Prozent Treibstoff, so verlautbarte Bonn, werde die Sonntagssperre einbringen, sechs Prozent solle die Geschwindigkeitsbegrenzung ersparen. Mit nur je fünf Prozent aber rechnen, zumindest in verkehrsarmer Winterzeit, die Mineralölkonzerne.
Das wäre schon was, nur: Die Energiekrise würde es wenig lindern. Denn am westdeutschen Ölverbrauch ist Autobenzin nur mit einem Siebentel beteiligt. Mithin liegt selbst dann, wenn tatsächlich zehn Prozent weniger Sprit verfahren werden, die Sparquote insgesamt unter zwei Prozent.
Und: Wenn mehr Kraftstoff gespart wird, nützt es der Wirtschaft nicht viel. Denn in den westdeutschen Raffinerien kann zwischen den Hauptprodukten schweres Heizöl, leichtes Heizöl, Autobenzin und Leichtbenzin kaum manipuliert werden, kann das eine nicht anderes ersetzen.