Der Nationalökonom Schatalin, 56, gehörte dem Präsidialrat der UdSSR an, protestierte gegen Gorbatschows Kurswechsel und trat jetzt aus der KPdSU aus.
SPIEGEL: Stanislaw Sergejewitsch, wenn es nach Ihnen gegangen wäre, dann gäbe es - mit Ihrem 500-Tage-Programm - am Ende dieses Jahres in der Sowjetunion den Kapitalismus.
SCHATALIN: Der zentrale Punkt des Übergangsprogramms zur Marktwirtschaft war es, alle Eigentumsformen, einschließlich des Privateigentums an Grund und Boden, und ein freies Unternehmertum zuzulassen. Ob das Kapitalismus oder Sozialismus ist, darüber mag ich nicht mehr diskutieren. Der treffendste Begriff lautet: freie Marktwirtschaft.
SPIEGEL: Das Experimentierfeld dafür ist nicht ein kleiner, überschaubarer Staat, sondern ein riesiges Terrain von Brest bis Wladiwostok . . .
SCHATALIN: . . . mit vielen Nationalitäten, Religionen, Gewohnheiten und Traditionen, mit vielen souveränen Staaten. Gerade wegen dieser Vielfalt müssen alle möglichen Wege ausprobiert werden.
SPIEGEL: Binnen 500 Tagen sollte erreicht werden, wozu der Westen Jahrhunderte gebraucht hat.
SCHATALIN: Diese 500 Tage waren ein symbolisches Signal für eine kurze Zeitspanne, in der alle Kräfte zusammengefaßt werden sollten, um die wichtigsten Probleme anzugehen und zu sehen, ob die Lösungen etwas taugen - zum Unterschied von allen langfristigen Programmen bisher, die in das Jahr 2000 oder 2005 reichten, ohne vorher kontrollieren zu können, ob der Weg richtig ist.
SPIEGEL: Wenn Ihr Programm am 1. Oktober 1990 in Kraft getreten wäre, wie Sie sich das gewünscht hatten, dann wäre bis heute, nach fünf Monaten, schon folgendes erreicht: Die Bauern könnten aus den Kolchosen austreten . . .
SCHATALIN: Sie könnten auch darin bleiben, wir haben alles erlaubt, wir wollen niemanden zu seinem Glück zwingen.
SPIEGEL: Es heißt, die meisten Bauern in der Sowjetunion hätten gar keine Lust zu einer selbständigen Tätigkeit.
SCHATALIN: Darin liegt ein Fünkchen Wahrheit und viel Demagogie. Dann kann man ihnen doch erst recht das Land anbieten, und wer es will, der wird es nehmen. Statt dessen hat die letzte große Ernte, wie ein Satiriker _(Das Interview führte SPIEGEL-Redakteur ) _(Fritjof Meyer. ) bei uns sagte, die sowjetische Wirtschaft endgültig vernichtet.
SPIEGEL: Wieviel ist denn von der letzten Ernte verlorengegangen?
SCHATALIN: Einige behaupten, bis zu 40 Prozent. Eine Schande, eine Katastrophe.
SPIEGEL: Nach Ihrem Plan wäre in den ersten 100 Tagen die Staatsschuld von Dutzenden Milliarden Rubel auf fünf Milliarden gesunken. Dazu wollten Sie die Entwicklungshilfe beschneiden.
SCHATALIN: Vor allem die Ausgaben für die Armee . . .
SPIEGEL: Um zehn Prozent, das ist nicht viel.
SCHATALIN: . . . und die Kosten der Bürokratie, des ideologischen Apparats, der wirtschaftlich uneffektiven Bauten - und das nicht nur aus fiskalischen Gründen, sondern im Interesse einer Veränderung unserer Gesellschaft und unserer Annäherung an den Westen. Voraussetzung ist, daß man dazu den politischen Willen hat.
SPIEGEL: Bei der Armee haben Sie politische Rücksichten genommen.
SCHATALIN: Unsere Streitkräfte stehen vor dem großen Problem ihres Rückzugs aus Osteuropa. Wir haben den jungen Hauptleuten und Feldwebeln eine Ansiedlung auf dem Lande angeboten, wo sie glücklich sein würden, während sie heute ein jämmerliches Leben führen.
SPIEGEL: Nach Ihrem Programm wären jetzt schon allen »Verlustbetrieben« die Subventionen gestrichen worden. Aber wie läßt sich denn feststellen, ob ein Sowjetbetrieb Verluste macht oder ob er rentabel arbeitet?
SCHATALIN: Nur durch den entstehenden Markt, die Konkurrenz.
SPIEGEL: Das setzt eine Entflechtung der Monopole voraus, und die sollte erst später kommen.
SCHATALIN: Da haben Sie tatsächlich einen Widerspruch in unserem Programm entdeckt. Doch man hätte sich zunächst an vergleichbare Weltmarktpreise halten können.
SPIEGEL: Bis zur Jahreswende sollten auch die ersten 50 Staatsbetriebe verkauft sein. Wer sollte die kaufen?
SCHATALIN: Jedermann, jeder andere Betrieb, die Belegschaften und auch das Ausland.
SPIEGEL: Jedermann - von welchem Geld? Wollten Sie damit die großen Sparguthaben abschöpfen?
SCHATALIN: Die Annahme, die Bevölkerung verfüge über große Mittel, ist irrig.
SPIEGEL: Und auch die Unternehmen verfügen kaum über Rücklagen, nicht einmal über Betriebsmittel. Wer also sollte die Staatsbetriebe kaufen?
SCHATALIN: Unser Land hat riesige Ressourcen, sie dürfen nicht dem Staat allein gehören.
SPIEGEL: Die Deutschen lernen gerade, daß die Staatswirtschaft, die Sie noch stückweise dem Publikum verkaufen möchten, in Wirklichkeit nur ein Haufen Schrott ist.
SCHATALIN: Effizienz läßt sich nun einmal nur erreichen, wenn man den Weg durch die Armut geht. Ohne Verzicht führt kein Weg zum Reichtum.
SPIEGEL: Wir haben den Eindruck, daß Sie nach Lenins Prinzip handeln: Zuerst stürzt man sich ins Gefecht, das Weitere wird sich finden.
SCHATALIN: Das Prinzip ist richtig, aber es war das Prinzip Napoleons: On s''engage et puis . . . on voit.
SPIEGEL: Bis Februar wollten Sie alle Preise für Massenbedarfsgüter außer dem Grundbedarf freigeben. Ist es das, was die Regierung jetzt tut - die meisten Lebensmittelpreise verdoppeln und verdreifachen, für Güter des gehobenen Bedarfs aber überhaupt keine Preise mehr von Amts wegen festsetzen?
SCHATALIN: Was die Regierung jetzt tut, ist Selbstmord, denn ohne Markt gibt es auch nicht mehr Waren. Was sie jetzt zustandebringt, ist die Rationierung. Die Entwicklung ist schneller gegangen als erwartet, 500 Tage zählen nicht mehr, denn die Lage wird jeden Tag schlechter.
SPIEGEL: Was tun?
SCHATALIN: Ich habe erst einmal eine Wirtschaftsunion vorgeschlagen, in der sich die einzelnen Republiken über ihr jeweiliges Potential verständigen, das sie einbringen und an die Union delegieren können, zum Beispiel die Finanzpolitik, die Armee, das KGB, die Weltraumforschung, die Eisenbahn-Magistralen. Wir haben uns auf einer Datscha getroffen - alle Reformen werden auf Datschen gemacht, das Wetter war schön, die Luft frisch, die Stimmung gut. Wir haben besprochen, welche Probleme sich gemeinsam lösen lassen und welche Frage jede Republik für sich allein bewältigen muß.
SPIEGEL: Sind Sie sich einig geworden?
SCHATALIN: Die Vertreter der Republiken haben erst geknurrt, dann konnte man die Tiger brüllen hören. Ich habe ihnen alles dargelegt; am Ende haben wir einen Vertrag über die Wirtschaftsunion geschlossen, und es gab ein großes Bankett.
SPIEGEL: Stanislaw Sergejewitsch, wenn Michail Gorbatschow Ihnen diktatorische Vollmachten einräumen würde - was würden Sie jetzt mit der Wirtschaft tun?
SCHATALIN: Damit wäre ich nicht zufrieden, wenn schon Diktatur, dann nicht nur eine wirtschaftliche. Ich möchte kein Berater mehr sein. Bei dem Klub Spartak Moskau - ich war einmal Fußball-Profi - bin ich Mannschaftsführer gewesen. Jetzt will ich niemanden mehr über mir haben, sondern selbst spielen und selbst trainieren. Die Widerstände gegen eine Änderung unseres Wirtschaftssystems kommen aus dem politischen Bereich.
SPIEGEL: Was also würde der Diktator Schatalin als erstes tun?
SCHATALIN: Eine normale Regierung bilden, kompetent, ideologiefrei, wirklich volksverbunden und offen nach Westen - anstatt uns von der Welt-Völkergemeinschaft jetzt loszusagen. Und wer sich ohne demokratische Legitimation widersetzt, wird weggefegt.
SPIEGEL: Was sollte Ihre Regierung beispielsweise tun, damit die Ernte vollständig in den häuslichen Brotkorb gelangt?
SCHATALIN: Eine alte russische Regel lautet: Die Hälfte für den Herrn, die Hälfte für den Bauern. Der soll mit seinem Anteil machen können, was er will, und schon wären die Märkte voll - sogar die Verluste wegen der mangelhaften Infrastruktur würden geringer. Das ist alles. Wir sind schließlich ein reiches Land. Aber jetzt ist die Lage so: Auf den Märkten, in den Läden gibt es nichts, gar nichts.
SPIEGEL: Bei einer Verwirklichung des Schatalin-Programms mit einer weitgehenden Privatisierung der Industriebetriebe würden womöglich 40 Millionen Arbeiter freigesetzt. Ihre Regierung müßte sich dieser Massenarbeitslosigkeit stellen.
SCHATALIN: Dieses Problem muß man nicht übertreiben. Arbeit gibt es genug, wir müssen Straßen bauen und Wohnungen, Schulen, Krankenhäuser, die ganze Infrastruktur erneuern.
SPIEGEL: Und warum macht das nun nicht der Diktator Gorbatschow?
SCHATALIN: Michail Sergejewitsch ist kein Diktator. Man kann mit ihm streiten, ihn der Unentschlossenheit beschuldigen, aber man kann ihn auf keinen Fall der Diktatur verdächtigen. Meiner Ansicht nach irrt sich der Westen, wenn er meint, Gorbatschow sei ein Instrument in den Händen der Armee, des KGB oder der Partei. In diesen Organisationen selbst finden schwierige Differenzierungsprozesse statt.
SPIEGEL: Kann er sich nicht entscheiden, mit wem er zusammengehen soll - mit den Reaktionären, wie es jetzt aussieht, oder den radikalen Demokraten, die sich dem linken, progressiven Flügel des politischen Spektrums zuordnen?
SCHATALIN: Ich hoffe noch immer, daß sich Gorbatschow auf unsere Seite stellt und ein zweites Atemholen schafft. Ich habe zu ihm gesagt: Sie können um die Macht kämpfen, wenn Sie die Führung des Blocks der Linken und des Zentrums übernehmen. Überwinden Sie doch Ihre Position mystischer Verdächtigungen gegenüber den Demokraten.
SPIEGEL: Bei uns ist der Eindruck entstanden, Gorbatschow mache keinen Gebrauch von seinen Vollmachten. Seine Dekrete würden nicht befolgt, und die baltischen Ereignisse zeigten eher Führungsschwäche. Geben Sie einer Koalition Gorbatschow/Jelzin noch immer eine Chance?
SCHATALIN: Ich habe diese Koalition lange unterstützt, sie hat auch eine Zeitlang funktioniert. Jetzt glaube ich nicht mehr so recht daran. Man sollte die Entwicklung überhaupt nicht mehr an Namen knüpfen, weil das den Schein einer Realität hervorruft, die es gar nicht gibt. Ich habe beiden gesagt, sie sollten auch nicht die Möglichkeit eines dritten Mannes erwägen, sondern schon an den neunten denken.
SPIEGEL: Wie steht Gorbatschow zu Ihnen persönlich, seinem früheren Berater und Mitglied des Präsidialrats, also der Führung? In der Frage Ihres Parteiausschlusses soll er sich schützend vor Sie gestellt haben.
SCHATALIN: Man sagt, daß er das mehrmals getan hat. Ich habe noch immer ein sehr gutes Verhältnis zu Gorbatschow. Ich mag ihn sehr, als Mensch, und es scheint mir, daß er mich gemocht hat und es noch heute so ist, ohne jeden Zweifel.
SPIEGEL: Erwägen Sie auch einmal die Schicksalsfrage, ob sich Rußland überhaupt verwestlichen muß, ob es richtig ist, den Vorrang der privaten Interessen zu proklamieren, obwohl die eigenen Traditionen Rußlands viel mehr auf Gleichmacherei und Kollektivität gerichtet sind? Vielleicht entspricht ja ein bescheidenes, genossenschaftliches Leben viel mehr der herrschenden Mentalität.
SCHATALIN: Ja und nein.
SPIEGEL: Da ist eine Stimmung: zurück in die sechziger Jahre. Jeder hatte sein Auskommen, wenn auch auf niedrigem Niveau, und es herrschte Ordnung.
SCHATALIN: Das gibt es, ja, bei einfachen Leuten - weil wir die Bevölkerung ständig belogen und betrogen haben. Sie wissen nicht, daß es anders sein kann, und viele haben alle Hoffnung verloren. Die Menschen in den großen Städten aber, die Intellektuellen, wollen endlich besser leben. Sie fordern die Demokratie und die Marktwirtschaft, und die Provinz wird sich ihnen anschließen. Alle sind zu großen Opfern bereit, wenn sie absolut sicher sein können, daß sie nicht mehr belogen werden und wenigstens ihre Enkel besser leben können. Aber wenn sie sehen, daß es auch ihren Enkeln schlechter ergehen soll, dann werden sie böse.
SPIEGEL: Was passiert dann?
SCHATALIN: Dann stürzt die Regierung, und wir werden Klarschiff schaffen.
SPIEGEL: Wie sieht das aus?
SCHATALIN: Eine ganz normale, demokratische Gesellschaft wie bei Ihnen muß entstehen, mit einer freien Wirtschaft, und zwar so schnell wie möglich. Der sogenannte humane, demokratische Sozialismus - das ist ein abgetragener, geflickter Anzug, der gehört auf den Müll.
Das Interview führte SPIEGEL-Redakteur Fritjof Meyer.