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NAHOST »Ein Sud aus Hass«

Radikale Palästinenser töten mit Selbstmordattentaten unschuldige Israelis, Premier Scharon lässt wieder Hamas-Führer jagen - und riskiert darüber die Konfrontation mit dem Bündnispartner Washington. Die Uno will eine Friedenstruppe entsenden, doch Israel verbittet sich jede Einmischung.
aus DER SPIEGEL 25/2003

Die Mission ist heikel, das Auftreten diskret. Die Herren reisen per Linienflug, beim Empfang fehlt der rote Teppich. Die Gruppe von 15 US-Spezialisten, die diese Woche in Jerusalem erwartet wird, setzt sich aus Geheimdienstlern, Diplomaten und Regionalexperten zusammen - öffentliche Aufmerksamkeit ist unerwünscht. Der Auftrag des hochkarätigen Teams, zusammengestellt von CIA und US-Außenministerium, erfordert gleichermaßen politisches Fingerspitzengefühl wie beharrliches Durchsetzungsvermögen. In Israel, aber auch in den besetzten Gebieten des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens sollen die stillen Amerikaner die Fortschritte der jüngsten US-Friedensinitiative überwachen - gleichsam als Augen und Ohren von US-Präsident George W. Bush.

Allerdings dürfte den US-Kontrolleuren unter Führung des Nahost-Beauftragten John Wolf nach der jüngsten Eskalation des Terrors nicht mehr bleiben als der tägliche »bodycount« - die tragische Bilanzierung der Opfer, Palästinenser wie Israelis. Ergebnis dieses jüngsten Ausbruchs der Gewalt: über 50 Tote und Hunderte Verletzte. Dazu ein US-Fahrplan zum Frieden, der gerade mal eine Woche nach dem als »historisch« gefeierten Nahost-Gipfel von Akaba nur noch Makulatur zu sein scheint.

Sollte die so genannte Roadmap, für die sich George W. Bush persönlich so stark gemacht hatte, untergehen in einer wahnwitzigen Welle von Gewalt und Vergeltung? Oder könnte eine neue Initiative der Uno womöglich die mörderische Eskalation stoppen?

Zumindest sorgte ein Vorstoß von Uno-Generalsekretär Kofi Annan für Aufsehen in der Region. Der Chef der Vereinten Nationen, von den USA während der Irak-Krise ins Abseits gedrängt, plädierte für eine »bewaffnete Friedenstruppe«, die »als Puffer zwischen Israelis und Palästinensern« stationiert werden soll. Offenkundig, so der für seine kritische Haltung bekannte Annan, seien die verfeindeten Parteien unfähig, ohne fremde Hilfe ihren Konflikt zu lösen.

Alarmiert hatte den Sprecher der Weltgemeinschaft die neue Runde von Selbstmordattentaten und Feuerüberfällen. Wie um der Friedensdeklaration von Akaba den Krieg zu erklären, verbündeten sich palästinensische Extremisten von Hamas, Islamischem Dschihad und al-Aksa-Brigaden, die Palästinenser-Präsident Jassir Arafat nahe stehen, zu einem gemeinsamen Kommanodunternehmen.

Die Truppe tötete vier israelische Militärs am Grenzübergang zum Gaza-Streifen, ein weiterer Soldat starb bei einem Anschlag in Hebron; ein jüdisches Ehepaar wurde zuvor in einem Waldstück außerhalb von Jerusalem gemeuchelt.

Diese Anschläge brachten Premier Ariel Scharon, der bei seinem Amtsantritt »Frieden und Sicherheit« versprochen hatte, innenpolitisch in Bedrängnis: Im rechts-orthodoxen Lager ohnehin isoliert, seit er Bushs Roadmap zustimmte, steht der Regierungschef nach dem Treffen von Akaba zusätzlich unter Druck. Denn ausgerechnet Scharon, der Gründervater der Siedlungsbewegung, ordnete daraufhin die Räumung von illegalen Außenposten im Westjordanland an.

Obwohl es um nicht mehr als die Beseitigung von acht unbewohnten Containerdörfern ging, führte die Aktion zu einem Aufstand in den eigenen Reihen. Bei einer tumultartigen Versammlung der Likud-Fraktion am vorvergangenen Sonntag kamen sogar Putschgerüchte auf - und zwangen Scharon zum Handeln.

»Es geht um die Glaubwürdigkeit der Regierung«, tönte der Ministerpräsident. Die Erzkonservativen des Likud werfen ihrem ehemaligen Idol »Verrat an der Sache Groß-Israels« vor.

Anfang der Woche besann sich Scharon daher auf eine Strategie, die er mit Rücksicht auf Washingtons Nahost-Ambitionen in jüngster Zeit zurückgestellt hatte: die »gezielte Liquidation« von palästinensischen Terroristen. Der Premier ordnete die Exekution von Hamas-Führer Abd al-Asis al-Rantissi an, obwohl die Praxis des staatlich sanktionierten Mordens auch unter Militärs höchst umstritten ist: Bei den 175 Anschlägen seit Beginn der zweiten Intifada im Herbst 2000 wurden 235 Palästinenser getötet - doch nur 156 von ihnen galten als »angestrebte Ziele«.

Durch die vielen zivilen Opfer verliere der jüdische Staat nicht nur sein »moralisches Rückgrat«, so eine Klageschrift von israelischen Menschenrechtsvertretern, die jene unheilvolle Bilanz ans Licht brachte, sondern er motiviere die palästinensischen Gruppen zu neuen Anschlägen: »Am Ende siegen die Terroristen.«

Zu denen zählte nach israelischer Lesart auch Rantissi. Der 56-Jährige gibt sich zwar gegenüber westlichen Medien als moderater Sprecher der Bewegung; vor seinen Gefolgsleuten eifert er jedoch gegen die verhassten Zionisten. Er soll direkt an der Planung von Anschlägen beteiligt gewesen sein.

Doch der Mordversuch der Israelis misslang. Rantissis Jeep wurde von zwei Raketen nur gestreift. Der Hamas-Chef konnte sich - leicht verletzt - aus dem brennenden Wagen retten. Die nächsten Raketen trafen das Auto, Rantissis Leibwächter sowie eine Frau und ein Kind starben.

Getroffen wurde auch der Friedensplan. Denn der verpfuschte Anschlag machte Rantissi nicht nur zum Helden von Gaza, er schwächte auch die Stellung von Palästinenser-Premier Mahmud Abbas, der sich bei den Islamisten um eine vorläufige Waffenruhe bemüht hatte.

Der bei Bush beliebte Abbas ("ein beeindruckender Mann") denkt offenbar an Rücktritt, sein Finanzminister Salam Fajjad wird bereits als Nachfolger des glück- und mutlosen Premiers gehandelt. »Der Zeitpunkt des Attentats«, glaubt Amnon Lipkin-Schachak, früherer israelischer Generalstabschef, habe den verhandlungsbereiten Abbas »in den Augen der Palästinenser endgültig zum Kollaborateur Israels gemacht«.

Das Attentat auf den Hamas-Führer wurde in Washington als klarer Regelverstoß gegen die Abmachungen von Akaba empfunden. »Alle Seiten müssen sich verantwortlich benehmen«, mahnte US-Präsident Bush und gelobte: »Ich bin entschlossen, am Weg zum Frieden festzuhalten.«

Tags darauf sprengte sich ein palästinensischer Attentäter, verkleidet als orthodoxer Jude, in einem Jerusalemer Bus in die Luft. Die Explosion seines Bombengürtels, gefüllt mit Nägeln und Schrauben, riss 16 Fahrgäste in den Tod, fast 100 Menschen wurden bei dem Anschlag in der Innenstadt verletzt.

»Existenzangst ist wiedergekehrt in diese unglückliche Stadt in einem unglücklichen Land«, schrieb die Tageszeitung »Haaretz« und klagte: »Jerusalem ist in den vergangenen drei Jahren zurückkatapultiert worden in ein elendes jüdisches Ghetto, brodelnd in einem Sud aus Hass

und Furchtsamkeit.« Ein sichtlich frustrierter George W. Bush verurteilte den »schrecklichen Bombenanschlag« und rief die »gesamte freie Welt« auf, der Gewalt in Nahost ein Ende zu machen.

Zum Oberbefehlshaber in diesem neuen Feldzug sah sich Ariel Scharon berufen. In einer Lagebesprechung des Kabinetts nach dem Anschlag erlebten Mitglieder ihren Ministerpräsidenten aufgewühlt wie schon lange nicht mehr. Seinen Verhandlungspartner Abbas und dessen Mitstreiter bezeichnete er als »Heulsusen«, die nicht entschlossen gegen den Terror durchgriffen.

Harsch wie selten zuvor erklärte der Hardliner den palästinensischen Extremisten den Krieg. Die prompte Militäraktion Israels beseitigte denn auch jeden Zweifel an Scharons Entschlossenheit. Getreu dem Befehl ("Benutzt alles, was ihr habt, gegen Hamas") wurden bei Luftangriffen israelischer Kampfhubschrauber im Gaza-Streifen bis Freitagnacht mehr als 20 Palästinenser getötet.

Die Gefahr eines Scheiterns der »Roadmap« und einer weiteren Eskalation der Gewalt mobilisierte Diplomaten zwischen Brüssel, New York und Kairo: Ägyptens Präsident Husni Mubarak setzte seinen Geheimdienstchef Omar Suleiman in Marsch, um zwischen verfeindeten palästinensischen Fraktionen zu vermitteln, US-Außenminister Colin Powell will am kommenden Sonntag das Weltwirtschaftsforum in Jordanien zum Krisengipfel umfunktionieren. Angesichts massiven Drucks einigten sich Israelis und Palästinenser zum vergangenen Samstag darauf, in Sicherheitsfragen wieder zusammenzuarbeiten.

Uno-Generalsekretär Kofi Annan aber droht nach seinem jüngsten Vorschlag eine deutliche Abfuhr aus Jerusalem: Auf Berichte, dass sich die Uno, unterstützt gar von der Nato, mit eigenen Soldaten an solch einem Einsatz beteiligen könne, reagierten israelische Regierungsmitglieder mit Kopfschütteln.

Jerusalem lehnt eine Internationalisierung des Konflikts mit den Palästinensern kategorisch ab.

Schon vor Jahren forderte Autonomiepräsident Arafat die Präsenz ausländischer Soldaten. Das Ansinnen wurde auf israelischer Seite stets abgewehrt - ohnehin gilt die Uno als allzu Palästinenser-freundlich.

Die Befriedung bleibt damit in weiter Ferne. Nicht einmal die bevorstehende Ankunft von US-Vermittler Wolf weckte unter den verfeindeten Parteien neue Hoffnungen. Stattdessen wurde mit weiterem Blutvergießen gerechnet.

Islamisten gelobten eine »neue Runde von Racheangriffen«. Künftig würden nicht nur die »jüdischen Feinde« attackiert. An die in Israel lebenden Ausländer erging die Warnung, »das zionistische Gemeinwesen umgehend zu verlassen«. STEFAN SIMONS

* Oben: am 11. Juni 2003 in Jerusalem; unten: am selben Tag inGaza-Stadt.

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