Ein Theoretiker der neuen Göttin Angst
Denen, die seit '68 mit Habermas im Tornister das Land der Vernunft suchen, lauert er auf. An wichtigen Kreuzungen stellt er die Hohlspiegel seiner Theorie hin. Wer von den linken Sinnsuchern hineinblickt, sieht sich verkleinert.
Die Rede ist von dem Bielefelder Systemtheoretiker Niklas Luhmann, 58, dem Gegenpapst zu Jürgen Habermas und der Frankfurter Schule. Er verkündet von Bielefeld aus seit Jahren erfolgreich die Gegenaufklärung.
Das erste Mal störte er Anfang der 70er Jahre linksidealistische Hochstimmung. Habermas hatte mit seinem in herrschaftsfreiem Diskurs und idealer Sprechsituation gewonnenen Konsens über das, was vernünftig sei, scheinbar den Archimedischen Punkt der kritischen Theorie gefunden. Luhmann, nicht minder kompetent, hielt diesem idealistischen Konstrukt erfolgreich dessen Naivität vor.
Dann, als die einstigen Weltveränderer auf der Flucht nach innen sich in die Beziehungskisten verkrochen, fuhr der Bielefelder Professor mit geballtem Wissen dazwischen. Seine Studie »Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität« verkleinerte für überzeitlich gehaltene Gefühle zu Momenten in einem kosmologischen Lernprozeß: Immer komplexer werdende Systeme schieben immer neue Muster der Liebessemantik zwischen Frau und Mann.
Da wehte der Eishauch des Strukturalismus. Der Formenwandel ändert Gefühle, Systeme der Menschen, alles ist historisch relativ, so lautete die Bielefelder Botschaft. Zum Glück hatte Luhmann etwas Trost parat: Er empfahl fürs immer schwierigere Zusammenleben »Interpenetration«, eine Art Coitus intellectus, bei dem viel geredet wird.
Auch jetzt, wo die Bewegung unter grün-alternativer Flagge marschiert und die ökologisch heile Welt sucht, ist Luhmann allda. »Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?« fragt er in seinem neuen Buch von dem glatten und steilen Gebirge seiner Theorie herab.
Und wieder wird es eine harte Prüfung für die heiligsten Güter im nun grünen Herzen: Die allgegenwärtige Angst, das auf moralische Gewißheit gestützte Wissen um ökologische Vernunft wird durch die bleichende Lauge seines hochabstrakten Strukturalismus gezogen. Ein schmerzlicher Akt, aber es ist einiges zu lernen.
Aus der Sicht Luhmanns läßt sich das Thema Ökologie soziologisch nur erfassen, wenn man es als Informationsverarbeitungsprozeß betrachtet. Diese wichtige Voraussetzung will erklärt sein.
Wenn in der Saar Tausende vergiftete Fische treiben, ist dieses unschöne Faktum dem sozialen System zunächst einmal Wurst. Es funktioniert weiter: Ehen werden geschlossen, Reden gehalten, Kredite aufgenommen, Wählerstimmen gekeilt.
Erst wenn sich ängstliche und empörte Bürger zusammenrotten, Petitionen schreiben, Parteien reagieren, die Medien berichten, entsteht, systemtheoretisch gesprochen, auf das störende »Rauschen« der toten Fische »Resonanz«. Denn erst auf Informationen reagiert ein System mit Informationen, nicht auf bloß physikalischen Input.
Wer reagiert? In Luhmanns Konzeption nicht ein beschreibbares Gesamtsystem auf die Umwelt. Vielmehr arbeiten funktional spezialisierte Teilsysteme (Recht, Wirtschaft, Politik, Wissenschaft) autonom, sind untereinander nicht austauschbar und handeln so, als gebe es nur sie auf der Welt.
Wie reagieren sie? »Selektiv« und »selbstreferentiell«, lautet Luhmanns Antwort. Das klingt gespreizt, ist aber einfach. Das Rechtssystem kann aus dem Gesamtfeld eines ökologischen Problems nur die rechtliche, das Wirtschaftssystem nur die wirtschaftliche Seite aufnehmen und verarbeiten.
Die Systeme arbeiten, indem sie ihre Differenz gegenüber der Umwelt immer neu bestätigen. Sie projizieren in ihre Umwelt Negationen des Realen (der Jurist etwa läßt bei der Untersuchung des Fischsterbens die Gefühle der Saar-Anwohner ebenso beiseite wie die biologische Verarmung) und wählen das Verarbeitbare nach interner Prüfung aus. Sie wenden sich sozusagen immer wieder auf sich selbst an.
Luhmann vergleicht diese »selbstreferentielle Autopoiesis« des Systems mit einem Lexikon. Jedes System hat alle Begriffe, die es zur Definition von Sachverhalten benutzt, selbst definiert und läßt nur ausnahmsweise Undefiniertes (wie Angst über tote Fische) zu. Ob das System mit dieser Angst etwas anfangen kann, entscheidet ein Redaktionskomitee, das prüft, ob der undefinierte Begriff sich einordnen läßt oder die Geschlossenheit der lexikalischen Einträge stört.
Bis hierher muß der Leser den philosophischen Trockenkurs mitmachen, sonst kann er die systemtheoretischen Pointen, die Luhmann bei der Beschreibung bestehender Zustände bereithält, nicht begreifen.
Luhmann geht nun von Teilsystem zu Teilsystem und untersucht, ob es den ökologischen Herausforderungen gerecht werden kann. Wenn er Resonanz feststellt, will er wissen, ob diese Resonanz etwas mit Räsonanz zu tun hat. Fast immer heißt die Antwort Fehlanzeige.
Die Wirtschaft reagiert auf die Umweltthematik nach ihrem eigenen Code; das heißt nur auf das, was sich in Preisen ausdrücken läßt. Als hochdifferenziertes und in sich geschlossenes System reduziert sie ökologische Probleme in Kosten. Was keinen Preis hat, gibt es wirtschaftlich nicht, was vernünftig ist, ist nicht immer preislich kalkulierbar.
Ähnlich beschränkt funktioniert das Recht. Mit Zielprojektionen wie »gesunde Umwelt« ist es aufgrund seines Codes überfordert. Es zerlegt die Welt in Anlehnung an bestehende Normierungen in Recht oder Unrecht, ein bißchen Recht ist genauso ausgeschlossen wie etwa »wünschenswert«. Die Umweltthematik, so
zeigt Luhmann, bringt für das Rechtssystem erhebliche Probleme, weil Juristen in ihren Entscheidungen nicht mehr ausschließen können, was sie per Profession ausschließen müssen: Willkür.
Bei der Festlegung von Grenzwerten, Schwellen, Maßeinheiten oder Risikobereichen liefert der Gegenstand Natur keine Maßstäbe. Kausales Denken, Bestandteil des Verursacherprinzips, ist in der komplexen, vielfach vernetzten Umwelt schwerer durchzuhalten. Ursachen sind »indirekt« und »intransparent«. Starben die Fische an einem oder mehreren Giften? Waren sie vorgeschädigt?
Auch das Subsystem Wissenschaft ist für die Bearbeitung der Umweltprobleme eine zweischneidige Sache. Die Wissenschaft zerlegt die Welt methodisch und theoretisch nach dem Code Wahr/ Unwahr. Sie erforscht so auch die schwer eingrenzbaren ökologischen Probleme, ohne den Verantwortlichen die Entscheidung abnehmen zu können. Luhmann: »Wie nie zuvor hat die Wissenschaft der Gesellschaft durch ein nahezu unendliches Auflösevermögen unabsehbare Möglichkeitsräume vor Augen geführt. Die Wissenschaft produziert eine gläserne Welt, die, wo immer sie sich verdichtet, sich in sich spiegelt und die Durchsichtigkeit in Sicht auf anderes verwandelt. Die Phantasie wird beflügelt, neuartige Kombinationen sind denkbar - sei es als technische Artefakte, sei es als deren ungewollte, vielleicht katastrophale Nebenwirkungen. Alles, was sein kann, und alles, was ist, ist Selektion. Aber erst diese Selektion kann rational sein, und die Frage ist dann: wie die Rationalität rational sein kann, wenn sie aus astronomischen Zahlen anderer Kombinationsmöglichkeiten auswählen soll.« Also auch hier Fehlanzeige.
Bliebe die Politik. Doch hier gibt es ebenfalls Probleme. Sie ist längst nicht mehr das zentrale Steuerungsorgan der Gesellschaft, in der der Sinn des Systems zusammenfließt und sich in nuce anschauen läßt. Politik ist zu einem Subsystem heruntergekommen, oder wertneutraler, hat sich im Laufe der Zeit dazu entwickelt.
Ihr Code ist die Macht, genauer die Frage, wer, aufgrund welchen Programms auch immer, Staatsämter innehat. Mit der Zuspitzung auf diese Frage etabliert sich Politik nicht als Einheit sondern als Differenz. Politik wird nach Regierung und Opposition codiert. Da kann ökologische Vernunft auf der Strecke bleiben. »Es mag ökologisch mehr oder weniger engagierte Politiker und Funktionäre geben - und dies quer durch alle Parteien und bis hin in die Bürokratie. Es kann im Hinblick auf diese Sensoren des Systems eine sinnvolle Leitlinie einer politischen Programmatik sein, nach Möglichkeiten der Erweiterung der Resonanzfähigkeit des politischen Systems zu suchen; man darf nur Resonanz nicht mit Räsonanz verwechseln. Sonst entsteht ein Effekt wie mit 'grünen' Parteien: Sie haben völlig
recht mit ihren Prinzipien, man kann ihnen nur nicht zuhören.«
Behindert ist nach Luhmann das politische System in seiner Reaktion auf Umweltprobleme auch durch die Schwierigkeit, angesichts kurzer Wahlperioden die für die Thematik unerläßlichen langfristigen Perspektiven zu entwickeln und durchzuhalten. Zudem scheuen sich die Parteien, die Kosten für langfristige Umweltprogramme zu nennen und damit Wahlkämpfe zu bestreiten. Noch erscheine dies Vorgehen den sich »selbst so nennenden Volksparteien, die schon Wählerschwankungen von wenigen Prozent als Katastrophe empfinden, als zu riskant«. Es ist aber laut Luhmann durchaus möglich, daß dies sich ändert und daß ökologische Themen mit den ihnen eigenen Härtezumutungen »die alten sozialpolitischen Themen mehr und mehr verdrängen«.
Die ökologischen Probleme gefährden das Gesamtsystem aber nicht nur von außen, sondern auch von innen. Dies geschieht durch Überreaktion eines einzelnen Systems, das andere Teilsysteme bis zur Funktionsunfähigkeit irritiert. Vor dem Zuviel an Resonanz in der Politik fürchtet sich Luhmann besonders. »Nichts hindert den Politiker, man liest es in den Zeitungen, eine ökologische Anpassung der Wirtschaft zu fordern, in Aussicht zu stellen, zu versprechen; er ist ja nicht gehalten, wirtschaftlich zu denken und zu handeln, operiert also gar nicht innerhalb desjenigen Systems, das seine Forderung letztlich scheitern lassen wird.«
Diese politische Falschmünzerei wird natürlich von einem Teil des Publikums durchschaut. Der Bürger fühlt sich mit ökologischen Anliegen in der Politik nicht aufgehoben. Denn allen Erwartungen zum Trotz und entgegen den eigenen vollmundigen Sprüchen ist die Politik unfähig, für alle Systeme verbindlich zu sagen, was ökologisch vernünftig ist und wie es durchzusetzen wäre.
In dieses Loch, wo die Begriffe fehlen, sieht Luhmann neben Moral die Furie Angst hineinfahren. Angst führt zu einem neuen Stil von Moral. Was Angst mindert, ist gut. Angst hat immer recht.
Angst ist in der Luhmannschen Konstruktion das geheime Supersystem der bis zur Unübersichtlichkeit durchfunktionalisierten Gesellschaft. Sie »weiß« alles, sie hört nicht mehr auf, läßt sich nicht widerlegen.
Luhmanns Hoheslied auf die neue Göttin: »Angst kann rechtlich nicht reguliert werden und wissenschaftlich nicht widerlegt werden. Versuche, die komplizierte Struktur von Risiko und Sicherheitsproblemen unter wissenschaftlicher Verantwortung aufzuklären, liefern der Angst nur neue Nahrung.« »Man braucht auch keine Angst mehr zu haben, Angst zu zeigen. Angst widersteht jeder Kritik.«
Dabei ist Angst keineswegs unschuldig. Mit ihr wird umgegangen, sie wird
eingesetzt, öffentliche Rhetorik steigert Angst. »Diese Rhetorik übernimmt die Aufgabe, Angst (die sich ja nicht von selbst versteht) erst einmal durchzusetzen. Aus diesem Grund muß sie selektiv vorgehen. So hat man gegenwärtig vor allem vor atomaren Gefahren Angst, kaum dagegen vor medizininduzierten Seuchen, und es fehlt zumindest in der öffentlichen Diskussion an Angst vor der Angst anderer. Selektiv ist die Rhetorik der Angst auch insofern, als sie die Entwicklung zum Schlimmeren betont und die bemerkenswerten Fortschritte (zum Beispiel Lebensmittelchemie) verschweigt.«
Frei floatierende Angst, von keinem restriktiven Code eingeengt wie andere Systeme, immer berechtigt, weil sie sich nie zu rechtfertigen braucht, begünstigt, was Luhmann eine Werte-Innation nennt.
Mit der diffusen Angst, die sich nicht selbst in bearbeitbare Problematik umwandeln kann, sondern immer »handlungsfern« bleibt (weil auch die spezialisierten Subsysteme sie in ihrer flatterhaften Gestalt nicht bearbeiten können), korrespondieren bei Luhmann kurzgegriffene Moralisierungen zu jedem beliebigen Thema. »Zunächst könnte man meinen, daß dann neben den Werten der Freiheit und der Gleichheit auch noch reine Luft und reines Wasser, Bäume und Tiere wertkatalogfähig werden; und da es hier ohnehin nur um Listen geht, könnte man beliebig erweitern: Pandas, Tamilen, Frauen ...«
Da spricht der Zyniker.
Luhmanns Verdienst ist es sicher, die Soziologie systematisch auf das Thema Ökologie zu lenken. Seine komplizierte Systemtheorie scheint allemal dem Thema angemessener als simplifizierende Aussagen. Es sind ja nicht die Bösen, die die Umwelt verschmutzen, und die Guten, die das verhindern wollen. Wer die Rauchgasentschwefelung will, weiß nicht wohin mit dem giftigen Gips. Wer die Gipsablagerung politisch verhindern will, ist nicht für das Waldsterben.
Alles hat Folgen und viele undurchschaubare Nebenfolgen. Die Umwelt ist schließlich auch ein Konstrukt. Entscheidungen haben unendlich viele Umwelten zu berücksichtigen. Angesichts dieser Komplexität erscheint das Abstraktionsniveau des Bielefelder Professors angemessen.
Doch irritierend ist, daß in Luhmanns System Menschen eigentlich nur als Umwelt vorkommen. Durch sie hindurch greifen quasi kosmologische Evolutionsprozesse.
Systementfaltung ohne handelndes Subjekt, jenseits von Gut und Böse, Individuen haben bei Luhmann abgewirtschaftet.
Auf den Höhen der Luhmannschen Theorie herrscht nur noch Weltraumkälte. In uns waltet kein sittliches Gesetz, sondern gestirnter Himmel, sinnhaft erlebte und doch sinnlose Evolution.