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SOWJET-UNION / PENSIONEN Ein tiefer Eindruck

aus DER SPIEGEL 23/1956

Während das heftige Verlangen der Massen nach Sicherheit die westlichen Regierungen immer wieder zwingt, ihre Sozialgesetzgebungen noch breiter auszubauen, schienen sich die sowjetischen Staatsplaner bisher um die Angst ihrer Bürger vor dem Alter wenig Sorgen zu machen.

Die klassenlose Gesellschaft der Sowjet -Union, so predigten die roten Parteiideologen, biete den Sowjetmenschen ausreichende Garantie dafür, daß sie von dem schrecklichen Los der ihrer Arbeitskraft beraubten Massen des Kapitalismus bewahrt bleiben. Wer dem Sowjetstaate mit seiner Arbeitskraft gedient habe, könne sich auch im Alter auf ihn verlassen.

Jüngst aber offenbarte sich, daß durch den leicht hochgezogenen Eisernen Vorhang die gleiche Lebensangst und Sehnsucht nach Geborgenheit im Alter, die bislang angeblich nur die Opfer des Kapitalismus plagte, auch zu den Massen des Ostens durchgesickert ist. Stärkstes Indiz solcher Strömungen ist der von der Sowjetregierung veröffentlichte Gesetzentwurf, in dem jedem Bürger der UdSSR eine nach dem früheren Gehalt abgestufte Pension zugesichert wird.

Schon auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjet-Union im Februar mußte Nikita Chruschtschew den sowjetischen Massen einen Ausbau des bisherigen Sozialsystems in Aussicht stellen. Zwar konnte er auf die Tatsache hinweisen, daß die Sowjet-Union von Jahr zu Jahr größere Beträge für die sozialen Aufgaben aufwendet. (Im Gegensatz zum Westen, wo Arbeitnehmer durch Einzahlung von Prämien individuell versichert sind, wird der Sozialversicherungsaufwand in der Sowjet-Union allein vom Staat getragen.)

Aber diese Statistik konnte den Menschen in der Sowjet-Union nicht die Angst vor dem Alter nehmen, die Angst davor, was aus dem kleinen Arbeiter werden sollte, wenn er darauf angewiesen sein würde, von jener armseligen Rente zu leben, die ihm der Staat zubilligte.

Das alte Pensionsgesetz hatte die sowjetischen Pensionisten nach grobem bürokratischem Schema in drei Kategorien eingeteilt: Die erste Kategorie erhielt als Pension 60 Prozent des Einkommens, die zweite Kategorie 55 und die dritte 40 Prozent. Am härtesten traf diese schematische Regelung dabei die ungelernten Arbeiter und jene Menschen, die plötzlich ihres Ernährers durch den Tod beraubt wurden.

Inzwischen haben nun Moskaus Sozialgesetzgeber und der Finanzminister Swerew ein neues Pensionsgesetz ausgearbeitet. Mitte Mai wurde es vom sowjetischen Ministerrat gebilligt, Anfang Juni soll es dem Obersten Sowjet zur formellen Billigung vorgelegt werden.

Alle männlichen Sowjetbürger - so bestimmt das Gesetz - sollen mit Beendigung des 60. Lebensjahres pensioniert werden, vorausgesetzt, daß sie 25 Jahre gearbeitet haben; Frauen werden nach dem 55. Lebensjahr pensioniert. Neu und beinahe sensationell ist an diesem Pensionsgesetz die unbürokratische Staffelung der Pensionssätze

Zum erstenmal hat sich das Sowjetregime zu einer echten Differenzierung

der Pensionen durchgerungen. Die am schlechtesten bezahlten Arbeiter sollen bei einem Monatseinkommen bis zu 350 Rubel eine Pension von 100 Prozent des Gehalts erhalten, Personen mit einem Einkommen zwischen 350 bis 500 Rubel werden 85 Prozent, zwischen 500 und 600 Rubel 75 Prozent, zwischen 600 und 800 Rubel 65 Prozent, zwischen 800 und 1000 Rubel 55 Prozent und über 1000 Rubel 50 Prozent ihres Gehaltes als Pension ausgezahlt.

Chruschtschews Reformern kam es vor allem darauf an, den bisher materiell besonders benachteiligten Arbeiterschichten eine breitere Existenzbasis im Alter zu schaffen. So bestimmt das neue Gesetz auch, daß Arbeiter, die in den Bergwerken, in der Schwerindustrie oder in anderen Industriezweigen gesundheitsschädigende Arbeit leisten müssen, bereits im Alter von 50 Jahren nach 20jähriger Tätigkeit pensioniert werden.

Durch alle Paragraphen schimmert der Leitgedanke des neuen Gesetzes, dem Sicherheitsdenken der Sowjetmenschen entgegenzukommen. Die »New York Times« sprach in der vorletzten Maiwoche in einem Korrespondentenbericht aus Moskau von »dem tiefen Eindruck, den die Veröffentlichung des neuen Pensionsgesetzes auf die sowjetische Öffentlichkeit gemacht hat«.

Die Schweizer »Tat« kommentierte: »Man sollte das Sensationelle (des neuen Pensionsgesetzes) darin sehen, daß sich diese Regelung eigentlich in nichts grundlegend von irgendeiner entsprechenden Regelung in den 'kapitalistischen' Ländern unterscheidet. Ganz einfach deshalb, weil die Zielsetzung zwangsläufig für alle Systeme die gleiche sein muß: die Sicherung der Wohlfahrt für die größte Zahl.«

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