»Ein Toter gleich zehn Minuten Gefängnis«
Er war sich seiner Sache sehr sicher:
Kaum war im Jahre 1955 der frühere Polizeibeamte Bernd Fischer von seinem Posten als Leiter des Flüchtlingslagers Ulm-Wilhelmsburg entbunden worden, verklagte er das Land Baden-Württemberg auf Wiedereinstellung in den Staatsdienst. Vorsorglich, wie um Nachforschungen in seiner Vergangenheit damit zu erübrigen, reichte der Kläger, damals 51, das Spruchkammerurteil aus seinem Entnazifizierungsverfahren mit ein: »Nicht betroffen.«
Doch als der Prozeß in die Presse kam, erkannte ein Zeitungsleser in dem scheinbar unbescholtenen Ulmer einen ganz anderen Mann wieder: »Bernd Fischer« hieß mit richtigem Namen Bernhard Fischer-Schweder und war als ehemaliger SS-Oberführer und Polizeidirektor von Memel mitverantwortlich für die Ermordung von 5186 litauischen Juden, begangen im Sommer 1941 durch Angehörige des SS-»Einsatzkommandos Tilsit«.
Im Ulmer »Einsatzgruppen-Prozeß«, der 1958 gegen insgesamt zehn Angeklagte geführt wurde, stand Fischer-Schweder als einer der Haupttäter vor Gericht. Der Mann, der aus der Deckung getreten war, um wieder öffentlichen Dienst zu versehen, wurde wegen Mordbeihilfe zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. 15 Jahre erhielt der mitangeklagte Einsatzgruppen-Leiter Hans Joachim Böhme, der nach dem Krieg unter falschem Namen zunächst als Landarbeiter, später als Jurist bei der Karlsruher Bausparkasse untergetaucht war.
Das spektakuläre Vertahren, das ohne die Tolldreistigkeit des falschen Fischer womöglich nie in (ang gekommen wäre, erlangte indes noch weitreichendere Bedeutung. Erstmals erfuhr die Öffentlichkeit von den systematisch organisierten Massenerschießungen hinter der deutschen Ostfront. Zum erstenmal bei NS-Prozessen wurden reihenweise Zeugen, die als honorige Bürger gegolten hatten, unversehens aufs schwerste belastet: Ein Gelsenkirchener Stadtdirektor erhängte sich, noch bevor ihn Ermittlungsbeamte aufsuchen konnten; ein Mainzer Kriminalmeister vergiftete sich einen Tag nach seiner Festnahme im Zeugenstand; ein Stuttgarter Kripo-Kollege erhängte sich eine Woche nach seiner Aussage.
Doch vor allem: Der Ulmer Schwurgerichtsprozeß gab den »entscheidenden Impuls für die Intensivierung und Konzentration der Strafverfolgung nationalsozialistischer Verbrechen«. Erst durch dieses Verfahren erhielt die deutsche Justiz, dreizehn Jahre nach Kriegsende, die »Gewißheit, daß zahlreiche ... schwerste NS-Verbrechen bis dahin gerichtlich nicht geahndet worden waren«.
Zu dieser Wertung kommt der baden-württembergischen Leitende Oberstaatsanwalt Adalbert Rückerl in seiner jetzt erschienenen Untersuchung über die »Strafverfolgung von NS-Verbrechen 1945 bis 1978"*. Und sein Urteil ist gewiß kompetent: Rückerl ist seit 1961 Mitarbeiter, seit 1966 Leiter der »Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen« in Ludwigsburg
* Adalbert Rücken: Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen 1945-1978. C. F. Müller Juristischer Verlag, Heidelberg-Karlsruhe: 148 Seilen: 14,80 Mark.
-- eben jener ersten bundesweiten Ermittlungsinstanz, die nach den Erfahrungen aus dem Ulmer Einsatzgruppen-Prozeß eingerichtet wurde.
Was der Ludwigsburger Cheffahnder in seinem systematischen Überblick über die verschiedenen Phasen der Strafverfolgung skizziert, vertieft eine ebenfalls jetzt veröffentlichte (und von Rücken unterstützte) wissenschaftliche Arbeit des schwäbischen Oberregierungsrats Ulrich-Dieter Oppitz, die sich vor allem mit der Gerichts- und Vollzugspraxis bei NS-Tätern befaßt*.
Über 70 Prozent aller rund 6500 rechtskräftigen Urteile gegen NS-Verbrecher, recherchierte Oppitz, der mit einer Sondererlaubnis der Länderjustizbehörden bei 60 Staatsanwaltschaften Einblick in Prozeßakten, Vollstreckungs- und Bewährungshefte nehmen durfte, fällten die deutschen Gerichte erst nach der Erfindung der »Zentralen Stelle«. Deren Erfolgsquote ergab sich nicht zuletzt aus einer Umkehrung der bis dahin geübten Verfahrensweise: Die staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen begannen nun nicht mehr erst auf Anzeigen gegen namentlich bekannte Tatverdächtige; vielmehr lösten bereits Hinweise jedweder Art Ermittlungen der Staatsanwälte aus.
Das Defizit der frühen Jahre dokumentieren die Untersuchungen von
* Ulrich-Dieter Oppitz: »Strafverfahren und Strafvollstreckung bei NS-Gewaltverbrechen«. Ulrich-Oppitz-Verlag, Ulm; 440 Seiten; 44 Mark.
Rücken und Oppitz just zu einer Zeit, da eine als bewältigt geglaubte Vergangenheit wie kaum je zuvor ein heikles Problem der Gegenwart darstellt. Reaktionen auf den Film »Holocaust« ließen den Schluß zu, daß die Vermittlung dieses zeitgeschichtlichen Stoffes erst jetzt zu allgemeiner Betroffenheit gereichte. Zur gleichen Zeit erwies die Bonner Parlamentsdebatte um die Verjährungsfrist von Mordtaten im allgemeinen und NS-Verbrechen im besonderen, daß das Thema an Emotionalität ebensowenig verloren hat wie an politischer Brisanz.
»Mord ist nicht gleich Mord«, appellierte Freidemokrat Werner Maihofer an die Abgeordnetenkollegen quer durch alle Fraktionen, die Mord und Mordbeihilfe Ende des Jahres fristgemäß verjähren lassen wollten: »Über Mord wächst Gras, über Auschwitz wächst kein Gras.« Der konservative CSU-Abgeordnete Franz Ludwig Schenk Graf von Stauffenberg, ein Sohn des nach dem 20. Juli 1944 hingerichteten Widerstandskämpfers Claus Schenk Graf von Stauffenberg, hielt dagegen, daß NS-Prozesse angesichts der Beweisschwierigkeiten der Gerichte 35 Jahre nach Kriegsende »die Rechtsautorität und den Rechtsfrieden nur belasten«. Schließlich hob der Bundestag -- mit 255 gegen 222 Stimmen -- vergangene Woche die Verjährung für Mord generell auf; NS-Täter können auch über das Jahresende hinaus weiter verfolgt werden.
Für die Gerichte wird Rechtsprechung dadurch noch schwieriger. Denn daß NS-Prozesse, in denen das Durchschnittsalter der Angeklagten nach einer Berechnung von Rückerl auf fast 65 Jahre gestiegen ist, zumindest in strafprozessualer Hinsicht zur Farce werden können, veranschaulichte das Düsseldorfer Majdanek-Verfahren -- ein Mammutkomplex, bei dem die ersten Ermittlungen der Strafverfolger schon 1962 einsetzten, die Hauptverhandlung im November 1975 mit ursprünglich 15 Angeklagten begann, von denen inzwischen einer starb, ein weiterer verhandlungsunfähig wurde und vier im April dieses Jahres freigesprochen werden mußten (SPIEGEL 17/1979).
Ihnen, einem früheren SS-Hauptsturmführer und drei ehemaligen SS-Aufseherinnen des KZ Majdanek, war nicht nachzuweisen, was nach deutschem Recht für eine Verurteilung zwingend erforderlich gewesen ware: Mord im Einzelfall oder aktive und individuelle Tatbeteiligung.
Vernommen wurden mehr als 300 Zeugen, doch die ehemaligen Häftlinge sahen sich biederen älteren Herren und grauhaarigen Frauen gegenüber, die sie einst als stramme SS-Maiden herumkommandiert und geschunden hatten. Kein Wunder, daß die meisten Zeugenaussagen »dem vom Gericht ... angelegten scharfen Maßstab nicht standhielten« (so der Vorsitzende Richter).
Prozesse mit solchem Dilemma demonstrieren aber auch, ebenso peinlich wie grotesk, was in früheren Jahren versäumt wurde, als hei Zeugen vermutlich noch kein »erschütternder Erinnerungsverlust« (Rückerl) eingetreten war und als überdies zweifellos Möglichkeiten ungenutzt blieben, kaum verdeckten oder versteckten NS-Tätern auf die Spur zu kommen.
Zwar hatten sich bis zur Mitte der fünfziger Jahre die meisten der in Westdeutschland Untergetauchten wieder mehr oder weniger enttarnt. »Aber niemand prüfte nach«, fand Oppitz heraus, »warum sie zuvor die falschen Namen geführt hatten.« Mindestens 72 Täter, die später von deutschen Gerichten überführt wurden, hatten sich jedenfalls unter falschen Namen versteckt gehalten -- nicht selten als angesehene Leute im öffentlichen Leben.
Der ehemalige Einsatzgruppen-Führer Guido-Horst Huhn avancierte als »Dr. Guido Salise« zum Sachbearbeiter für Korruptionsfälle im Düsseldorfer Wohnungsamt. Nach seiner Entdeckung wurde er, 1968, wegen Mordbeihilfe zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt, Der frühere Kommissar im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) Erwin Gay, 1967 zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt, überprüfte nach dem Krieg als »Erwin Miller« im Hauptquartier der US-Luftwaffe in Wiesbaden die deutschen Zivilbeschäftigten vor ihrer Einstellung auf politische Zuverlässigkeit.
Mindestens achtzehn prominente Mediziner, Ministeriale und Juristen kannten, wie ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß später feststellte, die wahre Identität ihres Mitbürgers Fritz Sawade, der 1949 mit Hilfe des damaligen Flensburger Oberbürgermeisters Drews in seinen alten Beruf als Arzt zurückfand, Vertragsarzt der Landesversicherungsanstalt und Obergutachter beim Landessozialgericht Schleswig wurde: Sawade war der berüchtigte SS-Arzt Werner Heyde, Chef der getarnten Euthanasie-»Aktion T 4«, der 200 000 »lebensunwerte« Menschen zum Opfer gefallen waren.
Auffallend oft gelangten ehemalige Polizeibeamte auch ohne Decknamen wieder in den alten Dienst. Der 1961 verhaftete Kohlenzer Kriminaloberst Georg Heuser, Leiter des rheinlandpfälzischen Landeskriminalamtes, dem die Kollegen »untadeliges« Verhalten bescheinigten und Blumen in die Untersuchungshaft schickten, war ehedem Leiter eines Exekutionskommandos an der Ostfront; ebenso der ein Jahr zuvor festgenommene Leiter der Gießener Schutzpolizei, Hans Hoffmann, bei dessen Prozeß (Urteil: dreieinhalb Jahre Haft) sich herausstellte, daß fast alle der vierzig Zeugen aus der alten Hoffmann-Einheit wieder aktive Ordnungshüter geworden waren.
Zum Leiter der Polizei-Abteilung beim Regierungspräsidenten von Hannover stieg nach dem Krieg der frühere Polizeimajor und RSHA-Referatsleiter Friedrich Pradel auf. Ihm hatte die Stadt Hannover 1945 die fadenscheinige Behauptung abgenommen, er habe ein ihn belastendes Dokument seinerzeit lediglich abgezeichnet, jedoch nicht gelesen. Erst spätere Recherchen der Ludwigsburger Fahnder ergaben, daß Pradel, 1966 zu sieben Jahren verurteilt, einer der Erfinder der fahrbaren Gaskammern war und den Konstruktionsbericht für jene Todeswagen genehmigt hatte, die ab 1941 zur Ermordung polnischer Juden verwendet wurden.
Das Musterbeispiel einer makellosen Nachkriegskarriere lieferte der ostfriesische Arzt Theodor Werner Scheu, der 1941 als SS-Reitersturmführer bei einer eigenmächtigen »Abschreckungsaktion« (Scheu) 220 litauische Juden erschießen ließ und auch selbst schoß, 1960 enttarnt werden konnte und vom Schwurgericht Aurich zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt wurde: Dr. Scheu hatte es bis dahin zum Amtsarzt im Nordseebad Borkum und zum Besitzer eines Kindersanatoriums wie eines privaten Kinderheims »Möwennnest« gebracht, war Aufsichtsarzt im Städtischen Krankenhaus, Mitglied des Kurbeirats und Vorsitzender des Reitervereins geworden.
Doch wer immer von den Strafverfolgern enttarnt wurde, welche neuen Namen von Tatverdächtigen auch in den über 8000 Vorermittlungen der Ludwigsburger Zentrale und ihren Millionen von Dokumenten und Karteikarten auftauchten -- der kleine Trupp von ursprünglich nur rund zwanzig Mitarbeitern leistete nur Sisyphusarbeit. Zwar wurden 1965 Zuständigkeiten und Personal der Zentralen Stelle (auf 120 Mitarbeiter) erweitert, aber »zu spät«, wie Ludwigsburg-Leiter Rücken vermerkt, »um die Versäumnisse der Vergangenheit noch auszugleichen«.
Manches in diesem Kapitel deutscher Justizgeschichte nach 1945 mag, situationsbedingt, verständlich erscheinen, zumindest in den ersten Nachkriegsjahren, als die Deutschen gemäß dem Kontrollratsgesetz zur »Umgestaltung des deutschen Gerichtswesens« ohnehin nur Taten verfolgen konnten, die von Deutschen an Deutschen oder Staatenlosen begangen worden waren. Die Bevölkerung stand der Sache, wie Autor Rückerl befindet, »gleichgültig, zurückhaltend, vielfach ablehnend« gegenüber. Strafanzeigen betrafen überwiegend minderschwere Delikte aus der Endphase des Krieges.
Es waren die fünfziger Jahre der jungen Bundesrepublik, in denen die Deutschen die ersten Errungenschaften ihres Wiederaufbaus genießen und davon nicht abgelenkt werden wollten; Jahre, in denen die Jugend von Kaugummi und Kreppsohlen, Jeans und Jitterbug schwärmte und aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 kaum etwas erfuhr.
In den Behörden und Ministerien der Republik, die sich nun auch wieder bewaffnete, wurde es schon üblich, daß belastete Beamte von ehedem erneut aufstiegen -- allen voran Kanzler Adenauers Chefberater und Staatssekretär Hans Globke. Der Jurist, der 1935 die nationalsozialistischen Rassengesetze im Sinne des Regimes kommentiert hatte, blieb 14 Jahre auf seinem Bonner Posten, und die Opposition im Deutschen Bundestag beließ es bei Verbalprotesten. Des Staatssekretärs Vergangenheit sei, rechtfertigte ihn der Regierungschef, schon von den Alliierten »minutiös nachgeprüft« worden.
Rechtsverletzungen im Krieg rangierten in der Vorstellung Otto Normalverbrauchers weit hinter dem gewöhnlichen kriminellen Rechtsbruch, NS-Verbrechen subsumierte er hauptsächlich unter den politischen Bereich -- eine Fehleinschätzung, die unter dem Eindruck der Nürnberger Prozesse der Alliierten womöglich stark gefördert wurde. In der Berichterstattung vom Internationalen Militärgerichtshof (IMT) wurden militärische, politische und kriminelle Vorgänge mitunter derart vermengt, daß es selbst unbefangenen Beobachtern »kaum noch möglich war, dieses Knäuel zu entwirren« (Rückerl).
Zu einer geradezu kafkaesken Prozedur artete indes der Massenvorgang der Entnazifizierung aus, der allein in der amerikanischen Besatzungszone dreizehn Millionen Einwohner durch die von den Besatzern eingesetzten deutschen Spruchkammern unterzogen wurden. Das »gewaltigste Rechtsverfahren, das die Welt jemals erlebte« (US-General Lucius D. Clay), bot, wie der Politologe und Entnazifierungsexperte Justus Fürstenau später urteilte, selbst Nicht-Nazis ein »tragikomisches Bild hemmungsloser Denunziation aller gegen alle« (SPIEGEL 40/1969).
Nur ein Bruchteil, 0,7 Prozent, fiel unter die Gruppen der Hauptschuldigen und Belasteten; 4,1 Prozent galten als Minderbelastete. Die Masse der Entnazifizierten jedoch bildeten Mitläufer (27,5 Prozent) und Entlastete (33,2). Rund 34 Prozent der Verfahren wurden eingestellt. Fürstenau: »Man hatte einen See durchsiebt, um ein paar Fische zu fangen.«
Nach den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen und der Entnazifizierung konnte so in den fünfziger Jahren, als im Zeichen des Kalten Krieges aus den besiegten Deutschen Verbündete der West-Alliierten wurden und die Gerichtsbarkeit schrittweise für alle NS-Verbrechen auf die deutsche Justiz übertragen wurde, in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen, daß dieses Kapitel der Vergangenheit bewältigt wäre.
Gefördert wurden solche Auffassungen obendrein durch die Großzügigkeit der Alliierten: Nach 1950 begannen sie, »geradezu in einem Gnadenfieber« (so der Nürnberger US-Ankläger Robert Kempner) und ab 1952 unter Mitwirkung deutscher Vertreter in einem gemischten Gnadenausschuß, die von ihnen verurteilten Verbrecher zu amnestieren. Von den 21 Angeklagten des Nürnberger Einsatzgruppen-Prozesses von 1948 kamen sechzehn bald wieder auf freien Fuß, die meisten schon zwischen 1951 und 1953, darunter elf Delinquenten, gegen die in Nürnberg die Todesstrafe oder lebenslängliche Haft verhängt worden war.
Lediglich vier der dreizehn Todesurteile (in den Fällen Otto Ohlendorf, Erich Naumann, Paul Blobel und Werner Braune) wurden bestätigt und vollzogen -- gegen den offiziellen Protest des damaligen deutschen Vizekanzlers Franz Blücher (FDP).
Nach 1955 mußten die deutschen Gerichte, abgesehen von den bis dahin bereits verjährten Delikten, gemäß den Bestimmungen eines »Überleitungsvertrages« dann auch solche NS-Belasteten ungeschoren lassen, die schon einmal von den Besatzern belangt worden waren -- selbst dann, wenn neue und noch schwerere Beschuldigungen gegen sie hätten erhoben werden können.
Für die Strafverfolgung hatte die Klausel, so Staatsanwalt Rückerl, der die Zahl der davon profitierenden Täter auf »mehrere Tausend« taxiert, »nicht zu unterschätzende psychologische Auswirkungen": Während beispielsweise die amnestierten Einsatzgruppenleiter nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden konnten, wurden ihre ehemaligen Untergebenen vor Gericht gestellt und teilweise zu lebenslanger Haft verurteilt.
Freilich, die deutschen Gerichte entfalteten keine große Aktivität. Die Zahl der rechtskräftigen Verurteilungen, die im Jahr 1949 noch 1523 betrug, ging in den fünfziger Jahren rapide zurück. 1955 gab es nur mehr 21 rechtskräftige Urteile. Der Ulmer Jurist Oppitz vermißt zumindest für die ersten zehn Nachkriegsjahre »den allgemeinen Willen, diese Verbrechen intensiv zu verfolgen«.
Vorherrschend, so scheint es, war auch über 1955 und die Gründung der Ludwigsburger Zentralstelle hinaus die Apologetik des CDU -Bundestagsabgeordneten Professor Eduard Wahl aus dem Jahre 1952: Der einzelne habe, so der Jurist in der ersten Bonner Verjährungsdiskussion, die Verbrechen, an denen er im Krieg mitwirken sollte, »durch eigenes Wohlverhalten gar nicht verhindern« können.
»Es ist vieles unterlassen worden«, klagte Anfang der 60er Jahre der vordem bei einer deutschen Justizbehörde beschäftigte, später in Zürich lehrende Rechtsprofessor Karl S. Bader, »weil die neu in die Politik einsteigenden Abgeordneten, Minister und hohen Staatsbeamten weder Lust noch Eifer zeigten, die Justiz ... zu unterstützen ...
Auch Minister, selbst hohe Herren Justizminister konnten ... recht ungehalten sein, wenn man zur unrechten Stunde mit »heißen Eisen« zu ihnen kam.
Repräsentativ scheint auch, was ein Vertreter des Bonner Justizministeriums 1960 dem Rechtsausschuß des Bundestages zum Stand der Strafverfolgung vortrug und von dem SPD-Abgeordneten Walter Menzel »nur mit Schrecken und nicht ohne innere Erregung« zur Kenntnis genommen wurde: Die Bundesländer hätten »an eine Art Trend in der Öffentlichkeit geglaubt, auf die Verfolgung jener Delikte nicht mehr so Wert legen zu müssen«.
Ähnlich hat wohl auch mancher Strafverfolger gedacht. Als der Berliner Generalstaatsanwalt Hans Günther 1963 einem Kollegen aus Süddeutschland seine Probleme mit dem Komplex Reichssicherheitshauptamt anvertraute, erwiderte ihm dieser: »Warum haben Sie's denn überhaupt angefangen, Herr Kollege?« Noch 1968 kommentierte der ehemalige Generalbundesanwalt Max Güde, CDU, den Umstand, daß die Sowjet-Union den deutschen Ermittlungsbeamten nur zögerlich ihre Archive öffnete, so: »Wenn die Russen zwanzig Jahre lang in böser Absicht Beweismaterial verweigern, dann ist das Verwirkung. Aber unsere Idioten fahren auch noch hin und holen das Zeug ab.«
Allemal auch neigten Gerichte und Justizbehörden bei NS-Tätern zu Nachsicht bei der Strafzumessung und Rücksicht in der Strafvollstreckung. NS-Verbrecher erhielten, belegt Autor Oppitz, weit »häufiger mildere Strafen als Verurteilte der sonstigen Mordkriminalität«. Mehr noch: Bei der Strafzumessung seien »nahezu alle Gesichtspunkte zugunsten der Verurteilten bewertet« worden -- mitunter mit grotesk anmutenden Argumenten.
Milde widerfuhr beispielsweise dem ehemaligen SA-Mann Wilhelm Strysio, der in der »Reichskristallnacht« 1938 einen jüdischen Bürger in dessen Wohnung erstochen hatte: Das Schwurgericht Paderborn verurteilte ihn 1962 wegen vollendeten Totschlags zu fünf Jahren Gefängnis -- einer Strafe, die bereits für einen Einbruchdiebstahl festgesetzt werden kann. Es berücksichtigte strafmildernd, daß der Angeklagte eine »Affekthandlung« begangen habe, weil er von seinen Führern »aufgeputscht« worden und »alkoholisiert« gewesen sei.
Im selben Jahr hielt das Gießener Schwurgericht im Fall des SS-Obertruppführers Theodor Pillich drei Jahre und drei Monate Zuchthaus für angemessen, obschon nachgewiesen war, daß Pillich in einem Exekutionskommando an der Erschießung von 162 jüdischen Männern, Frauen und Kindern in Polen beteiligt war. Das Gericht räumte zugunsten des Pillich, der die Erschießungen auch noch photographiert hatte, ein, daß dieser sich »nicht mit der Tat identifiziert und das Geschehen aus tiefstem Herzen abgelehnt« habe.
Dem SS-Sturmbannführer und Einsatzgruppenkommandeur Otto Bradfisch, verantwortlich für den Tod von 15000 Juden und 1961 in München mit zehn Jahren Zuchthaus davongekommen, hielten die Geschworenen unter anderem zugute, daß er nach 1945 straffrei als »ordentliches Mitglied der Gesellschaft« gelebt habe.
Im Falle des SS-Oberführers und Befehlshabers des Sicherheitspolizei in Serbien, Emanuel Schäfer (sechseinhalb Jahre Zuchthaus wegen Mordbeihilfe und Totschlags), räumte das Schwurgericht beim Kölner Landgericht 1953 gar ein, daß es sieh bei einem der Opfer um einen »großen Deutschenhasser«, bei dem anderen Opfer um eine Kommunistin gehandelt habe. »Bestimmend waren bei dem Angeklagten seiner ganzen Persönlichkeit nach vaterländische Gesichtspunkte«, hieß es in der Urteilsbegründung.
Angesichts solcher Urteilspraxis kursierte unter den Ludwigsburger Staatsanwälten der Zentralen Stelle die Rechnung: »Ein Toter gleich zehn Minuten Gefängnis.« Der Präsident des 46. Deutschen Juristentages, Professor Ernst Friesenhahn, machte, 1966. ein »irrationales Widerstreben« vor allem bei Laienrichtern aus, die bei NS-Verbrechen überwiegend Beihilfe statt Täterschaft annahmen und die zum Kapitalverbrechen erforderlichen »niedrigen Beweggründe« generös ausschlossen.
Einher ging nun bald, nach den großen Prozessen -- um Auschwitz (Frankfurt, 1963 bis 1965), Treblinka (Düsseldorf, 1964 bis 1965 und 1970), Sobibor (Hagen, 1965 bis 1966) und Lemberg (Stuttgart, 1966 bis 1968) -, die von Gerichtsreportern wiederholt beobachtete »Monotonie des Grauens«. »Dauernd werden diese langweiligen Judenerschießungen verhandelt, Wachtmeister«, fragte 1966 auf einer »Simplicissimus«-Karikatur ein Zuschauer den Justizbeamten, »gibt es denn gar keine Brühne mehr?«
So makaber begann die wohl letzte Phase der Verfolgung von NS-Verbrechen, die mit zunehmender zeitlicher Entfernung vom Tatgeschehen mitunter nur mehr vergeblichen Aufwand betreibt. Dreieinhalb Jahre verhandelte beispielsweise ein Hamburger Gericht, 1972 bis 1976, gegen sechs SS-Männer unter Mordanklage. In dieser Zeit reisten Richter und Anwälte zur Zeugeneinvernahme viermal nach Nordamerika, dreimal nach Israel, zweimal in die Niederlande und nach Österreich, je einmal nach Großbritannien und in die Sowjet-Union. Am Ende des Verfahrens standen sechs Freisprüche.
Verteidiger entwickelten Verzögerungstaktiken, wie beim Düsseldorfer Majdanek-Prozeß« »zu einer hochspezialisierten Routine« (Rückerl). Die Verfahrensdauer von der Vorermittlung bis zum Abschluß einer Hauptverhandlung stieg von 3,6 Jahren (1962) auf 16,8 Jahre (1977).
Während früher noch mancher Tatverdächtige »reinen Tisch« machte, »stoßen Ermittlungsbeamte und Richter heute«, berichtet Rückerl« »gegen eine Gummiwand von Ausflüchten oder eine Mauer des Schweigens« -- nicht nur bei Angeklagten und keineswegs nur aus Altersgründen.
Derweil sind die früher verurteilten NS-Täter, wie Jurist Oppitz ermittelte, mitunter längst wieder zu geachteten Bürgern geworden. In Berichten der Polizei über den Lebenswandel der vorzeitig Entlassenen stehen Sätze wie: »Er hat einen guten Ruf in der Nachbarschaft«; »bei seinen Untergebenen genießt er großes Ansehen«; »über ihn ist nur Gutes zu berichten«.
Unter den Fürsprechern von Begnadigungen fand Oppitz nicht nur Verwandte und Verteidiger, sondern auch Landräte, Abgeordnete, Verbände oder Handelskammern. Der ehemalige FDP-Justizminister Ewald Bucher befürwortete 1966, mittlerweile Wohnungsbauminister geworden, auf einem Briefbogen seines Ministeriums das Gnadengesuch eines wegen Mordbeihilfe verurteilten Elektromeisters aus Aalen mit der Bemerkung: Aalen habe bis vor kurzem zu seinem Wahlkreis gehört, und der Mann sei ein »ehrenhafter Bürger«.
Auch Richter schalteten sich gern ein: Die Strafaussetzung für den 1968 in Stuttgart wegen vierfachen Mordes und fünffacher Mordbeihilfe zu zehn Jahren verurteilten einstigen Lemberger Arbeitslagerinspekteur Rudolf Röder empfahl das Landgericht Stuttgart 1974: »Gerade bei ihm beruht die Verstrickung auf einer blinden, vermeintlichen Liebe zum Führer, Volk und Vaterland.« Am 30. September 1974 war Röder frei.
Nach ihrer Freilassung ortete Oppitz viele Verurteilte wieder in ihren erlernten Berufen. Die wegen zahlreicher Tötungen durch »Abspritzen« in Krankenanstalten 1948 in Berlin zu 40 Monaten Zuchthaus verurteilte Pflegerin Edith Korsch betätigte sich 1958 als Krankenpflegerin in einer Berliner Nervenklinik.
»In großer Zahl«, stellte Oppitz fest, hatten Arbeitgeber den Entlassenen »die Arbeitsplätze erhalten«; die Wiedereingliederung wurde dadurch erleichtert, »daß den Entlassenen gegenüber nach der Strafverfolgung keine Vorurteile deutlich wurden«. Oppitz: »Die weitverbreitete Ansicht« die Verbrechen seien schicksalhaften Verstrickungen entsprungen, wirkte sich zugunsten der Entlassenen aus.«
Wieviel Verständnis, Vergessen und Verdrängen sich im Laufe der Zeit selbst zugunsten von NS-Tätern auswirkte, die in der eigenen Heimat Verbrechen begangen hatten, zeigt der Fall des Gendarmeriemeisters Oskar Bresler aus Arnum hei Hannover, der kurz vor Kriegsende Mitbürger erschossen hatte und 1948 von einem Gericht in Hannover zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde. Als Bresler 1957 begnadigt werden wollte, wehrte sich die Arnumer Gemeindeverwaltung: »Die Tat ist Gemeindeangehörigen noch stark in Erinnerung und wird verabscheut. Eine Rückkehr des B. würde große Beunruhigung« hervorrufen.
Vier Jahre später kam der Ex-Gendarm dennoch durch einen Gnadenakt frei und siedelte unauffällig in die Gegend von Arnum. Wiederum drei Jahre später konnte die Polizei berichten: »Herr B. führt zurückgezogen ein bescheidenes Dasein und ist stets freundlich und hilfsbereit. Die allgemeine Anteilnahme an seiner goldenen Hochzeit zeigte, daß er in kurzer Zeit regelrecht beliebt geworden ist.«