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»Ein unheimlicher Eindruck«

Gerhard Mauz zu einem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts *
Von Gerhard Mauz
aus DER SPIEGEL 5/1986

Man fügt einem Menschen etwas zu. Er wehrt sich dagegen. Und nun gilt seine Gegenwehr als Beweis dafür, daß es richtig und notwendig ist, ihm das zuzufügen, wogegen er sich wehrt.

Unmöglich, das gibt es nicht? Doch, es gibt das. Die Psychiatrie macht es möglich. Sie bietet sich an, sie läßt sich benutzen. Sie ist das Vehikel, mit dem Menschen in den Teufelskreis eingeliefert werden, in dem ihr Widerstand gegen die Einlieferung der Beweis für die Notwendigkeit der Einlieferung ist.

Denn mittels der Psychiatrie läßt sich die splitternackte Tatsache, daß man einem Menschen etwas zufügt, so herausstaffieren daß des Kaisers neue Kleider dagegen Lumpen sind.

Man fügt nichts zu - nein, man gewährt einem Menschen etwas, was er als richtig und notwendig gar nicht erkennen kann. Und man schützt nicht nur seine Mitmenschen vor ihm. Vor allem bewahrt man ihn vor sich selbst.

Am 10. März 1970 wurde der 1943 geborene Paul L. Stein (der wahre Name wurde ersetzt, warum er durch diesen Namen ersetzt wurde, wird später erklärt) in Essen wegen Diebstahls im Rückfall zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Es ging um einen Pelzmantel, den Paul L. Stein gestohlen hatte.

Paul L. Stein ist nämlich 1970 nicht nur verurteilt worden. Das Gericht ordnete auch seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Denn es war nach Anhörung eines psychiatrischen Sachverständigen zu der Erkenntnis gelangt, Paul L. Stein habe die Tat im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit begangen. Er leide »zeitweise« an einer »schizophrenen Psychose«. Es sei also damit zu rechnen, daß er in Zukunft in gleicher Weise wie bisher straffällig werde.

Das Gericht sah auch eine »absolut negative Zukunftsprognose« für gegeben an. Paul L. Stein hatte Vorstrafen. 14 Jahre alt, war er der Fürsorgeerziehung überantwortet worden. Die Frage, ob es für ihn, einen in elenden Verhältnissen aufgewachsenen Menschen, nicht doch einen Weg zur Sozialisierung geben könnte (die hatte nie stattgefunden, von Resozialisierung konnte nicht die Rede sein), stellte sich indessen nicht ernsthaft. Schließlich gab es einen psychiatrischen Befund.

1968 an dem Tag verhaftet, an dem er unter Alkohol den Pelzmantel gestohlen hatte, ist Paul L. Stein selbstverständlich in einer Psychiatrie beobachtet worden bevor er 1970 verurteilt und seine Unterbringung angeordnet wurde. Da heißt es etwa 1969 in der Krankenakte: »Sieht verwahrlost aus, starker Bart, ablehnendes Verhalten.« Auch ein starker Bart kann zur Diagnose »schizophrene Psychose« beitragen.

Paul L. Steins »ablehnendes Verhalten« steigerte sich, nachdem er untergebracht worden war. Seine Einschließung war zeitlich nicht begrenzt. Daß ihm etwas Schlimmeres drohte als lebenslang, blieb ihm nicht verborgen. Er mußte nur die Schicksale um sich herum zur Kenntnis nehmen. »Findet sofort einigen Kontakt mit den Psychopathen«, heißt es in der Krankenakte. Die Psychopathen erkennt doch, bitte, jeder, der seine Sinne zusammen hat, sofort. Sehr interessant, daß Paul L. Stein Kontakt mit ihnen aufnimmt: »Es wird geflüstert und getuschelt.«

Auch findet sich in der Krankenakte die Feststellung: »Patient ist undurchsichtig.« Transparent sollte man sich schon machen, wenn man Patient in der Psychiatrie ist; vor allem als ein auf gerichtliche Anordnung untergebrachter Patient. Patient ist man selbstverständlich auch als auf gerichtliche Anordnung Untergebrachter, sogar dann, wenn eigentlich

nichts mit einem geschieht, außer daß einem Medikamente verabreicht werden, wenn man es mit dem »ablehnenden Verhalten« übertreibt.

Daß man Patient ist, ergibt sich auch daraus, daß man ständig von kundigen Augen beobachtet wird. Da heißt es doch tatsächlich einmal über Paul L. Stein in der Krankenakte: »Er macht einen unheimlichen Eindruck.« Präziser läßt sich die - fortdauernde - Gefahr, die von Paul L. Stein ausgeht, nicht beschreiben.

Paul L. Stein begreift nicht, daß man ihm keineswegs etwas zufügt, daß ihm vielmehr etwas gewährt wird. Und mit jedem Aufbegehren gegen seine Unterbringung beweist er, daß es richtig und notwendig war, ihn unterzubringen.

Paul L. Stein liegt in der Osthalle der Klinik auf der Bank und schläft. Er wird geweckt und aufgefordert, sich zu setzen. »Nachdem ich diese Aufforderung wiederholt hatte, sprang Patient auf und schlug nach mir. Dies konnte verhindert werden« - welch ein Glück. Und nachdem Paul L. Stein 1979 einmal während des Gottesdienstes aufsteht und dem Pastor widerspricht (er hält ihm doch tatsächlich vor, anders zu handeln, als er oft von der Kanzel spräche), muß man davon ausgehen, »daß Patient noch immer von krankhaften Ideen beeinflußt wird und daß er unberechenbar ist«.

1967, vor der Unterbringung, hieß es einmal über Paul L. Stein, daß man das Vorliegen einer Schizophrenie nicht mit Sicherheit ausschließen könne, daß man es aber vielleicht auch mit der abnormen Erlebnisreaktion eines intellektuell minderbegabten Menschen zu tun habe. Von 1970 bis 1981 beherrscht dann die Diagnose Schizophrenie das Feld.

Danach wird plötzlich von einer »schweren Charakteropathie mit einer chronifizierten psychogenen Psychose« gesprochen - und endlich von einer schweren »anderen seelischen Abartigkeit«. Doch die Korrektur macht die Bejahung der verminderten Schuldfähigkeit und damit die Fortdauer der Unterbringung weiterhin »vertretbar«.

Worin diese andere seelische Abartigkeit besteht, erfährt man übrigens nicht. Aber das ist auch nicht nötig, denn wenn »etwa der Faktor Alkohol hinzukommt, dürfte mehr oder weniger generell davon ausgegangen werden, daß die ohnehin geringen Hemmungen hinsichtlich des Begehens von Rechtsbrüchen ... so geschwächt werden, daß von einer erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit gesprochen werden kann«.

Von 1980 an hat Paul L. Stein in dem Rechtsanwalt Lutz Eisel, Bochum, einen Verteidiger, dessen Engagement auch nicht dadurch unterbrochen wird, daß man ihm einmal die Bestellung zum Pflichtverteidiger ablehnt. Doch Lutz Eisel scheitert vor dem Landgericht Paderborn und vor dem Oberlandesgericht in Hamm. 1980 und 1982 wendet er sich an das Bundesverfassungsgericht (BVG) in

Karlsruhe. Und dann gehen weitere Jahre dahin.

In der vergangenen Woche hat nun der Zweite Senat des BVG eine einstimmig ergangene Entscheidung vom 8. Oktober 1985 veröffentlicht (2 BvR 1150/80 - 2 BvR 1504/82). »Je länger die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus andauert, um so strenger werden die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzuges sein«, lautet ein Satz im vorangestellten Leitsatz.

Gelegentlich taucht aus dem Qualm seiner immer umfangreicheren Befassung mit politischen Beschwerden denn doch noch der Umriß eines höchsten Gerichts auf, das prüft, ob Grundrechte einzelner Bürger verletzt wurden - gelegentlich, nachdem Jahre vergingen, in denen ein Grundrecht weiter verletzt worden ist, wenn am Ende auf die Verletzung eines Grundrechts erkannt wird.

Manchem wird noch immer einiges fehlen in dem Beschluß des Zweiten Senats. Doch seine Substanz stellt einen Einschnitt dar: »Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist mit Verfassungsrang ausgestattet. Er beherrscht Anordnung und Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.«

Die Entlassungsprognose erfordert nicht »die sichere Erwartung zukünftigen Wohlverhaltens des Untergebrachten«. Die vom Untergebrachten ausgehende Gefahr ist »hinreichend zu konkretisieren«. Die bloße Möglichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten »vermag die weitere Maßregelvollstreckung nicht zu rechtfertigen«. Die Entscheidung »obliegt allein dem Richter«. Das Freiheitsgrundrecht gewinnt wegen des sich mit der Dauer der Unterbringung verschärfenden Eingriffs »immer stärkeres Gewicht für die Wertungsentscheidung des Strafvollstreckungsrichters«.

Für Paul L. Stein, dessen Situation jetzt erneut zu prüfen ist, könnte es zu spät sein. Im Erleiden einer endlosen Unterbringung und im Kampf gegen sie ist er vielleicht zerstört worden. Für ihn wird dann kein Trost sein, daß dieser Beschluß des BVG einigen helfen wird, die wie er untergebracht sind - und jenen, deren Unterbringung in Zukunft erörtert wird.

In der Zeitschrift »Recht & Psychiatrie«, Heft 1, 1984, erschien ein Aufsatz »Der Fall Paul L. Stein«, verfaßt von dem Juristen Dirk Fabricius und dem Psychiater Erich Wulff. Der Psychiater Professor Wulff hatte sich 1981 gegen eine weitere Unterbringung von Paul L. Stein ausgesprochen, doch ein Gericht ist im Januar 1982 dem Inhalt seines Gutachtens, wie nun das BVG feststellt, »nicht gerecht« geworden. Professor Wulff (und sein Mitautor) haben den Mann, dessen Verfassungsbeschwerden jetzt Erfolg hatten, in ihrem Aufsatz Paul L. Stein genannt. Deshalb heißt er auch hier so.

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