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»Ein Wunder, wenn sie hinaufkommen«

»Vermessen« nennen Himalaja-Kenner das neueste Unternehmen des Super-Alpinisten Reinhold Messner: Angriff auf den K-2, den zweithöchsten Gipfel im Karakorum, über die mörderische Südwand. Die SPIEGEL-Redakteure Wilhelm Bittorf und Joachim Hoelzgen (der die Expedition bis ins Hauptlager in 5000 Meter Höhe begleitet) werden in einer Serie über das -- schon zu Beginn dramatische -- Unternehmen berichten.
Von Wilhelm Bittorf und Joachim Hoelzgen
aus DER SPIEGEL 28/1979

Der Tote, der aus dem Gletscher kam. Der Fund, den eine japanische Expeditionsvorhut im vergangenen Herbst am Fuß des Berges Latok im Karakorum machte: eine knöcherne Hand und ein Unterarm mit noch einigen Hautfetzen daran, herausragend aus dem Gesteinsschutt, der das Gletschereis bedeckt. Gehören vermutlich zur Leiche eines Polen, der dort vor drei Jahren sein Leben ließ.

Naserullah Awan vom pakistanischen Ministerium für Tourismus erzählt diese Geschichte in seinem kahlen, heißen Büro in Islamabad. Vor ihm sitzen Reinhold Messner und ein Mitglied seiner Expedition, der Mailänder Alessandro Gogna. Sie sind zum »briefing« erschienen, einem Vortrag über Verhaltensregeln vor Ort für die Chefs einer jeden Alpinistengruppe, die eine Lizenz bekommen hat, in den Bergen Nordpakistans zu operieren.

Offenkundig sei der Pole mangelhaft begraben worden, meint Naserullah Awan und streicht die graue Haarsträhne zurück, die von dem Ventilator über seinem Kopf immer wieder herabgeweht wird. Und direkt zu Messner: »Ich wünsche Ihnen das Beste. Aber wenn Sie einen Toten haben sollten, dann sorgen Sie bitte dafür, daß er möglichst tief begraben wird« Reinhold Messner grinst und bleckt aus seinem Bart heraus die Zähne. »Wir werden aber keinen Toten haben«, sagt er. Es klingt, als habe nur er ganz allein darüber zu entscheiden, ob in seiner Expedition gestorben wird oder nicht.

Einen Augenblick stutzt der Beamte der Islamischen Republik Pakistan, in der Allah über Sein oder Nichtsein befindet und nur in Ausnahmefällen der General Sia-ul Hak. »Es ist nur ein Hinweis«, sagt er dann. »Gletscher bewegen sich, und Moränen bewegen sich. Deshalb sollte man Tote so begraben, daß sie begraben bleiben.«

Das war Ende Mai. Denn Reinhold Messner, der ungewöhnliche Fels-, Eis- und Schneemensch aus Südtirol, der allein auf den Achttausender Nanga Parbat stieg und den höchsten Punkt des Globus am Everest ohne Sauerstoffmaske erreichte, ist wieder unterwegs.

Er ist inzwischen zusammen mit fünf anderen Alpinisten und 130 Trägern vom Oberlauf des Indus zum Fuß des entlegensten Bergriesen der Erde gezogen, zum Fuß der ruppigen Pyramide, die noch immer mit dem britisch-kolonialen Vermessungscode »K-2« bezeichnet wird, weil auch die Einheimischen ursprünglich keinen Namen dafür hatten. Sie kannten den Berg nicht: zu weit lag er von der letzten menschenmöglichen Behausung entfernt.

Der K-2 hockt am oberen Ende eines 60 Kilometer langen Gletschers auf der Grenze zwischen Pakistan und China im Karakorum-Gebirge. Sein Gipfel ist 237 Meter niedriger als der Mount Everest, der 1200 Kilometer weiter im Südosten in Nepal an der anderen Flanke der asiatischen Über-Alpen steht. Mit 8611 Metern ist der K-2 die zweithöchste Erhebung der Erdkruste.

Den 130 Kilometer langen Fußmarsch zum K-2 durch die Schlucht des Braldu-Flusses und über den langen Baltoro-Gletscher bewältigte Messners Truppe mit der Trägerkolonne Anfang Juni in elf Tagen. Das. war gleich schon wieder eine neue Bestleistung: Alle früheren Expeditionen zum K-2 haben erheblich länger gebraucht. Mit 21 Tagen Trekking lag das amerikanische K-2-Team vom vergangenen Jahr für bisherige Begriffe noch ganz günstig.

Doch bei eben diesem Anmarsch traf Messners Unternehmen das erste Mißgeschick. Das einzige weibliche Expeditionsmitglied, Ursula Grether, stürzte an einem Geröllhang in der Braldu-Schlucht und rutschte fünfzehn Meter dem brodelnden Wildwasser entgegen, ehe sie ein vorspringender Felsbrocken stoppte. Sie verletzte sich dabei schwer am Knöchel, mit einer klaffenden Schnittwunde bis auf den Knochen und Bänderrissen.

Die 27jährige Badenserin war im letzten Jahr Messners Campgefährtin am Everest und am Nanga Parbat. Als frisch approbierte Medizinerin sollte sie nun im Basislager als Expeditionsärztin walten. Doch ein Hubschrauber der pakistanischen Armee mußte sie aus dem Braldu-Tal holen, nachdem die anderen sie notdürftig geschient und verbunden hatten. Per Linienjet wurde sie dann von Rawalpindi aus zur Behandlung nach Deutschland zurückgeflogen.

Das Basislager der Messner-Expedition steht seit 10. Juni 4950 Meter über dem Meeresspiegel in tiefem Neuschnee auf dem Godwin-Austen-Gletscher nahe dem Südende des K-2-Massivs. Es steht in Sichtweite der Gedenktafel für die sieben Männer, die bisher an diesem Berg umgekommen sind, von denen aber nur einer, der Italiener Mario Puchoz, dort ordnungsgemäß begraben werden konnte. Alle anderen Opfer blieben unauffindbar.

Nach dem Ausfall von Ursula Grether gibt es im Team nur noch einen, der ärztliche Kenntnisse hat: den Grazer Medizinstudenten Robert Schauer, der eigentlich nur klettern wollte.

Mit 25 der Jüngste, ist er am Berg so stark, daß ihn die ohnehin kleine Truppe Messners beim Aufstieg nicht entbehren kann. Ein einziger pflegebedürftiger Krankheits- oder Verletzungsfall würde die Expedition schon in größte Bedrängnis bringen. Einen anderen Arzt aus Europa herbeizuholen ist nicht möglich: Alle erprobt höhentauglichen Mediziner sind ausgebucht. Und wer sonst könnte ohne weiteres wochenlang in 5000 Meter Höhe leben, ohne selbst wieder einen Arzt zu brauchen? Messner: »Wir haben keine Wahl. Wir müssen's drauf ankommen lassen.«

Und doch ist dieses Dilemma nur eine der zusätzlichen Schwierigkeiten, die noch hinzukommen zu dem an sich schon gewaltigen Problem, das Reinhold Messner und seine Partner sich vorgenommen haben: den Gipfel des K-2 über eine noch unbegangene neue Aufstiegsroute zu erreichen.

Gewiß, für Bergsteiger und nicht nur für den superlativischen Messner -- ist die Tour, die sie gerade vorhaben, immer auch die absolut schwierigste und kühnste, verblassen daneben alle früheren Wagnisse. Messner aber schien nach seinen beiden Bravourstücken im letzten Jahr ernstlich vor der Frage zu stehen, ob und womit er sich noch übertreffen könnte -- zumindest im Verständnis des breiten Publikums.

Sein Aufstieg mit Peter Habeler auf den Everest ohne künstliche Sauerstoffzufuhr wie seine vorsätzliche Alleinbesteigung eines Achttausenders: das waren beides Ersttaten und Höhepunkte. unter denen sich auch Seilbahn-Passagiere, Halbschuh-Kraxler und sogar die Bewohner der Insel Sylt etwas vorstellen konnten. Deshalb machten diese Taten Reinhold Messner zu einer Art Volkshelden bis hinab in die flachsten Regionen deutscher Zunge.

Ihm selbst indes war auch vor seinen Trips auf Everest und Nanga Parbat schon klar, daß es darüber hinaus durchaus noch Steigerungen gibt. »An den höchsten Bergen der Welt«, verkündete Messner 1977 in dem englischen Fachblatt »Monntain«, »gibt es noch sechs oder sieben Probleme -- sozusagen die Eigerwände des Himalaja«. An die Spitze dieser Schwierigkeiten stellte er »alle Pfeiler und Grate am K-2«.

Den Kennern der höchsten Berge sagte er damit nichts Neues. Etliche Von ihnen haben schon lange vor Messners Zeiten bekundet. daß in ihren Augen der zweithöchste Berg in Wahrheit der größte sei. »Berg der Berge«, »Obersten aller Monarchen« und »Vater der Berge« nannte der italienische Geograph und Völkerkundler Fosco Maraini den K-2.

»Killer« nennt ihn der britische Himalaja-Star Chris Bonington, der im vergangenen Jahr seinen Freund Nick Estcourt am Westgrat durch eine Lawine verlor. Für Bergautor Toni Hiebeler ist es zugleich »der schönste Achttausender«. Seine Form erinnert an das Matterhorn doch nicht weniger als 41 Matterhörner wären nötig. um die Felsmasse zusammenzubekommen, aus welcher der K-2 gebaut ist.

1953 wurde der Gipfel des Everest von Edmund Hillary und dem Sherpa Tensing Norgay erstmals betreten. Ein Jahr später erreichte eine erstaunliche Expedition aus Italien die Spitze des K-2 -- ein Überraschungserfolg, der den Chef der Equipe, Ardito Desio, zu den Worten hinriß: »Erhebt eure Herzen, meine lieben Kameraden! Durch euer Verdienst wird heute unserem Italien ein grandioser Sieg beschert. Ihr habt ... bewiesen, was Italiener zu leisten imstande sind, wenn sie der feste Wille zum Gelingen beseelt!«

Von Hillary bis heute sind auf dem Everest 16 Expeditionen zum Ziel gekommen. Nicht weniger als 86 Menschen, darunter auch drei Frauen. je eine aus Japan, Tibet und Polen. haben bis Ende 1978 auf dem höchsten Punkt der Erde gestanden, und diese Zahl wuchst ständig schneller mit wachsendem Andrang. Denn die »Normalroute« zum Gipfel weist bis auf den Khumhu-Eisfall mi unteren Teil rein bergsteigerisch keine großen Schwierigkeiten auf.

»Wenn die Höhenstürme nicht waren, die Wetterstürze und die grimmige Kälte und wenn das Ganze viertansend Meter niedriger angesiedelt wäre, dann könnten Bergrouristen mit einiger Kondition ohne weiteres auf den Everest wandern, so wie sie in Scharen auf dem Normalweg von der Hörnli-Hütte aufs Matterhorn gehen«, meint Messner ironisch »Wenn man irgendwann den ersten Achttausender pauschal im Reisebüro buchen kann, wird das wahrscheinlich der Everest sein.«

Der K-2 dagegen ist seit der Erstbesteigung vor 25 Jahren nur zweimal bewältigt worden. 1977 hat eine Großexpedition aus Japan die Aufstiegsroute von 1954. den »Abruzzengrat«, wiederholt und sieben Kletterer auf den Gipfel gebracht -- sämtlich mit Sauerstoffmasken.

1978 gingen 14 Amerikaner den Berg auf einer im unteren Teil neuen Route an, mußten aber im entscheidenden oberen Drittel gleichfalls auf die Italiener- Route einschwenken. Vier Amierikaner drangen zum Gipfel vor -- zwei davon ohne Sauerstoffmaske. Zur gleichen Zeit scheiterte Bonington mit dem Tod Estcourts auf der gegenüberliegenden Seite des K-2 bei seinem Versuch, eine neue, schwierigere Route zu meistern. Auch alle früheren Anläufe, über andere als die italiener-Route hinaufzugelangen, schlugen fehl.

Nun ist Reinhold Messner dran -der Mann, den der Boß des erfolgreieben K-2-Teams vom letzten Jahr, Jim Whittaker, bewundernd als »the premier mountaineer of all time« bezeichnet hat, als den »Ersten der Bergsteiger aller Zeiten": der Erste der Bergsteiger vor der schwersten aller Wände. Denn die Südroute am K-2, die Messner anvisiert, ist nach dem Urteil von Gerhart Klaniert, Vorstand der »Himalaja-Stiftung« im Deutschen Alpenverein, »unzweifelhaft der schwierigste Achttausender-Anstieg überhaupt«.

»Der K-2 ist so schlimm, daß es auch bei den allerbesten Leuten nach wie vor ein Wunder ist, wenn sie überhaupt hinaufkommen«, sagte Galen Rowell, Veteraiieiner 1975 gescheiterten K-2-Expedition der Amerikaner. »Diesen Berg auch noch über die schwierigste Seite anzugreifen ist vermessen -bei allem schuldigen Respekt vor Reinhold.«

Der SPIEGEL wird über Messners »vermessenes« Unternehmen am K-2 in mehreren Folgen exklusiv berichten. Joachim Hoelzgen, 33, SPIEGEL-Redakteur und Amateur-Alpinist (Bergtouren bis zum 3. schwierigkeitsgrad -- von sechs möglichen), begleitet Reinhold Messner und dessen fünf Partner: die Italiener Alessandro Gogna und Renato Casarotto, den Südtiroler Friedl Mutschlechner, den Grazer Robert Schauer und den Oberbayern Michl Dacher.

Vom Basislager auf dem Godwin-Austen-Gletscher aus hat Hoelzgen über tragbare UKW-Sprechfunkgeräte, die von der Firma SEL für die Messner-Expedition geliefert wurden, Kontakt mit den Gipfelkletterern.

Andererseits kann er über eine robuste Kurzwellen-Funkanlage, die AEG-Telefunken zur Verfügung stellte, mit SPIEGEL-Autor Wilhelm Bittorf Verbindung aufnehmen, der knapp 200 Kilometer entfernt in Gilgit sitzt, einem Balti-Provinznest nördlich vom Nanga Parbat. In Gilgit gibt es Elektrizität zwei authentische Flohkinos und einen Flugplatz, der von zweimotorigen Focker-27-Propellermaschinen der Pakistan Airline aus Rawalpindi angeflogen wird -- doch nur bei bestem Wetter.

In Funkgesprächen zu festgesetzten Zeiten schildert Joachim Hoelzgen, was am Berg geschieht. Um die gemeinsam erarbeiteten Berichte aus Gilgit herauszubringen, gibt es für Bittorf nur eine praktische Möglichkeit, die Fokker nach Rawalpindi wenn sie fliegt -, dann weiter per Fernschreiber nach Hamburg.

Fällt die Fokker aus, bleibt nur der 600 Kilometer lange Landweg von Gilgit nach Rawalpindi über den erst im vorigen Jahr fertiggestellten Karakorum-Highway durchs Industal. Das aber sind anderthalb knochenbrechende Tagesreisen im Jeep auf einer Straße, die zum beträchtlichen Teil unter Erdrutschen und Gerdilhalden verschwunden ist. Nach jeder Gesteinslawine bahnen Bulldozer neue haarsträubende Pfade durch die Schuttmassen.

Hoelzgen, Bittorf und die SPIEGEL-Redaktion lassen sich auf ein journalistisches Problem ein, das fast so unbewältigt ist wie die Südwand des K-2 -- das Problem der Expeditionsberichterstattung. Obwohl er mit seinen Büchern über den Everest und den Nanga-Alleingang nacheinander die Bestsellerliste erklomm, ist auch Reinhold Messner keineswegs zufrieden: »Ich kann immer erst schreiben, wenn alles vorbei ist. Damit entfällt die große Ungewißheit, die eine Expedition nicht nur spannend macht. Sie ist das beherrschende Element überhaupt.«

Mißlingt ein Unternehmen, erfährt man gar nichts darüber, obwohl doch spätestens seit Scotts Fahrt zum Südpol klar ist, daß eine scheiternde Expedition bewegender und enthüllender sein kann als jede geglückte. Zu oft erschöpft sich deren Erkenntniswert wortreich in der Auskunft, mit der die beiden legendären Freudenmädchen von Gumbinnen in Ostpreußen ihre Mühen während des Herbstmanövers zu kommentieren pflegten: »Wir ham jeweint, aber wir ham's jeschafft.«

Nach gründlicher Erkundung des Bergs, nach der Akklimatisierung der Teilnehmer an die schneidend dünne Höhenluft und nach der zeitraubenden Vorbereitung der Anstiegsroute hoffen Messner und seine Partner, daß sie um den 15. Juli einen ersten Angriff auf den Gipfel des K-2 beginnen könnern Wenn das Wetter mitspielt, von dem einer der ersten Besucher des K-2, der Engländer Conway, schon 1892 bemerkte: »Wenn hier normales Wetter herrscht, bedeutet dies, daß es ganz außerordentlich abscheulich zugeht.«

Sein Versprechen an Naserullah Awan in Islamabad jedoch, daß es auf seiner Expedition keinen Toten geben werde, hat Reinhold Messner schon jetzt nicht halten können. Bei der Ankunft am Fuß des K-2 stürzte der Träger Ali Quasir aus dem Dorf Shigar achtzehn Meter tief in eine verborgene Gletscherspalte.

Friedl Mutschlechner seilte sich als erster zu ihm ab, kurz darauf auch der Medizinstudent Robert Schauer. Sie fanden Ali Quasir ohne Leben, den aufgeschlagenen Kopf in einer Pfütze mit Schmelzwasser.

* Mit Expeditionsteilnehmer Mutschlechner beim Abtransport zum Hubschrauber.

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