Zur Ausgabe
Artikel 20 / 117

Eine Arche Noah für die Bäume

aus DER SPIEGEL 1/1994

Im Wald der Zukunft ist es still: Kein Vogel zwitschert, kein Reh huscht durch den Tann. Statt Sonne bestrahlt Neonlicht die Bäume, im Hintergrund surrt ein Kühlaggregat, ein zweites steht als Notfallreserve parat.

Größer als ein paar Zentimeter ist keiner der Bäume. Stückweise werden die vom Waldsterben bedrohten Buchen, Eichen, Lärchen, Fichten und Tannen, in sterile Einmachgläser verpackt, auf künstlichen Nährlösungen gehalten.

In der hessischen Forst-Genbank im niedersächsischen Hannoversch Münden ist der deutsche Wald im Zwergenformat auf Regalen in Kühlräumen gestapelt, die selbst gegen Flugzeugabstürze gesichert sind. In den Bunkern soll der Wald, nach dem Prinzip der Arche Noah, die verdreckte Jetztzeit überleben.

Das Erbgut der verschiedenen Baumarten und ihrer - zum Teil schon im Aussterben begriffenen - regional angepaßten Varianten muß erhalten werden, wenn Wiederaufforstungsprojekte kommender Generationen erfolgreich sein sollen. Nur so können die ökologischen Fehler früherer Zeiten vermieden werden.

Fachwissenschaftler nämlich stimmen darin überein, daß die Luftschadstoffe nicht die einzige Ursache für die Immunschwäche des Waldes sind. Anfällig für verschiedene Schadfaktoren, vom Windbruch bis zum Käferbefall, sind die Forsten auch deshalb, weil aus einseitigen ökonomischen Erwägungen jahrzehntelang artenarme Monokulturen angelegt worden sind.

Durch künstliche Aufforstungen ist die ökologisch stabile Vielfalt heimischer Bäume und Sträucher verdrängt worden. Standortfremde Koniferen wurden gezwungen, auf Böden und unter Klimabedingungen zu wachsen, an die sie nicht angepaßt sind. So stehen in Deutschland auf 23 Prozent der Waldfläche Laubbäume und auf 77 Prozent Nadelbäume - eine glatte Umkehrung der natürlichen Relation.

»Willst du einen Wald vernichten, pflanze Fichten, nichts als Fichten«, reimen die Autoren einer soeben erschienenen Forst-Streitschrift**. Die Fachleute plädieren darin für eine »Waldwende« vom Försterwald zur »naturnahen Waldwirtschaft«.

Genbanken wie in Hannoversch Münden sollen nicht nur dafür sorgen, daß für künftige Wiederbewaldungsaktionen jeweils standortgerechte Baumtypen zur Verfügung stehen. Die Forstforscher sind auch dazu übergegangen, im Laborwald gezielt nach anpassungsfähigeren Bäumen zu suchen.

Womöglich können, so der Projektleiter der hessischen Forst-Genbank, Karl Gebhardt, eines Tages »umweltstreßtolerante Sorten« gefunden und, endzeitgerecht, in die Wälder gepflanzt werden.

Mit ihren Bemühungen, den Wald an die kaputten Verhältnisse zu gewöhnen, stehen die Hessen nicht allein. Baumforscher begasen, etwa in Essen, zu Testzwecken Bäume mit Luftschadstoffen oder evakuieren heimische Gewächse in ferne Klimaregionen, um ihre Toleranz für den Klimaschock zu prüfen. Andere Wissenschaftler manipulieren sogar Baumgene mit dem Fernziel, tote Zonen wie das Erzgebirge mit einer schadstoffresistenten Anti-Streß-Fichte wiederaufforsten zu können.

Der Freiburger Baumphysiologe Heinz Rennenberg, der an Erstversuchen mit genmanipulierten Pappeln arbeitet, denkt »an eine Vorsorge für den Fall, daß das Gesamtsystem kippt«. Vorerst müsse jedoch alles getan werden, die Luftschadstoffe »ernsthaft zu reduzieren«.

Den Baumphysiologen Rennenberg beflügeln die kühnsten Forscherphantasien. Zusammen mit französischen ** Wilhelm Bode, Martin von Hohnhorst: »Wald- _(wende. Vom Försterwald zum Naturwald«. ) _(Verlag C. H. Beck, München; 200 Seiten; ) _(22 Mark. * Oben: in der Forst-Genbank ) _(Hannoversch Münden; unten: Anlagen des ) _(Instituts für angewandte Botanik in ) _(Essen. ) Kollegen tüftelt er, weltweit erstmals, im Rahmen des deutsch-französischen Waldforschungsprogramms Eurosilva an genetisch veränderten Bäumen.

In Begasungskammern sollen die transgenen Pflanzen sogenanntem oxidativem Streß mit Ozon ausgesetzt und auf ihre Resistenz getestet werden. Objekt der forscherlichen Neugier sind zunächst Pappeln, andere manipulierte Laub- oder auch Nadelbäume sollen folgen.

Ausnutzen wollen die Baumforscher einen natürlichen Entgiftungsstoff im Pflanzenstoffwechsel, das Enzym Glutathion-Reductase. Die Pflanze schüttet das Enzym verstärkt bei Streßsituationen aus, es entgiftet die Zellen und schützt das Chlorophyll, den grünen Pflanzenfarbstoff.

Gelänge es, so Baumprofessor Rennenberg vorsichtig im Konjunktiv, mit manipulativen Eingriffen am Erbgut der Bäume die Produktion des Entgiftungsenzyms anzukurbeln, könnten die »neuen Baumprodukte« den Umweltgiften oder langen Trockenperioden besser trotzen - eine Vorstellung, die ökologisch orientierte Forstleute wie den Leiter der Forstlichen Versuchsanstalt in Freiburg, Werner Schumacher, schockt: »Das bedeutet den genetischen Ausverkauf.«

Naturschützerisch wirkende Waldexperten vergleichen solche Forschungsvorhaben mit dem Versuch, »Kanarienvögel für Kohlenminen« zu züchten. Andreas Krug vom Bund für Umwelt und Naturschutz würde derlei Ansinnen am liebsten mit einem Denkverbot belegen: »Dann können wir doch den Plastikwald pflanzen.«

Der Direktor des Instituts für Forstgenetik an der Bundesforschungsanstalt für Forst- und Holzwirtschaft in Hamburg, Hans J. Muhs, hat derweil damit begonnen, nach überlebensfähigen Tannen- und Fichtensorten zu suchen - für den drohenden Klima-GAU.

Seit 1992 evakuiert Muhs eine »repräsentative Auswahl« heimischer Tannen aus deutschen Wäldern auf Versuchsflächen in die spanischen Pyrenäen. Dort will er sehen, ob sich die Waldbäume an Trockenbedingungen anpassen, wie sie dereinst auch im nördlichen Mitteleuropa vorherrschen könnten.

»Vielleicht«, sinniert der Hamburger Forscher über den Baum des Jahres 2100, »müssen wir uns an eine neue Tanne gewöhnen - nicht schön, nicht groß, aber hart im Nehmen.«

** Wilhelm Bode, Martin von Hohnhorst: »Waldwende. Vom Försterwaldzum Naturwald«. Verlag C. H. Beck, München; 200 Seiten; 22 Mark. *Oben: in der Forst-Genbank Hannoversch Münden; unten: Anlagen desInstituts für angewandte Botanik in Essen.

Zur Ausgabe
Artikel 20 / 117
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren