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Artikel 68 / 115

»Eine Art Kulturschock«

aus DER SPIEGEL 29/1995

SPIEGEL: Mark Harrington, wann haben Sie das letztemal die Zahl Ihrer T-Helfer-Zellen messen lassen?

Harrington: Im Februar. Der Wert lag bei 565. Ich lasse ihn alle drei bis sechs Monate messen, vor allem, um die Entscheidung zu treffen, wann es Zeit ist, mit einer Behandlung zu beginnen.

SPIEGEL: Was genau sagt Ihnen dieser Wert über Ihren Zustand?

Harrington: Das Verhältnis meiner T-Helfer- und T-Killer-Zellen ist invertiert - ein typisches Zeichen der HIV-Infektion. Aber ich kann immerhin sagen, daß der Wert seit fünf Jahren weitgehend stabil ist. Das gibt mir, zumindest für einige Jahre, ein bißchen Hoffnung.

SPIEGEL: Sie haben sich intensiv mit der Biochemie des HI-Virus befaßt. Hilft Ihnen das, besser mit der Krankheit fertig zu werden?

Harrington: Natürlich ist es eine Illusion; aber es gibt mir das Gefühl von Kontrolle. Ich bin im übrigen ein untypischer Fall. Denn ich war schon Aidsaktivist, als ich noch gar nicht wußte, daß ich positiv war.

SPIEGEL: Wann haben Sie sich den Aktivisten von Act up angeschlossen? _(Das Gespräch führte ) _(SPIEGEL-Redakteur Johann Grolle. )

Harrington: Im Jahr 1988. Damals bin ich erst mal auf jede Demo mitgegangen. Es war alles vage und amorph: Wir waren gegen den Staat, die Pharmaindustrie, den Kapitalismus und den Rassismus.

SPIEGEL: Vermissen Sie diese ersten Jahre der Aktivistenbewegung?

Harrington: Es war eine aufregende Zeit. Und es war toll, damals in New York City zu sein, wie eine zweite Jugend. Ich glaube, wir haben auch viel verändert. Aber man kann nicht ewig daran festhalten. Viele sind inzwischen so ausgebrannt, daß sie bei den Aidsaktivisten ganz ausgestiegen sind.

Ich dagegen habe plötzlich gemerkt: In der Forschung konnten wir wirklich etwas tun. Ich begann zu begreifen, daß die Antworten auf die drängenden Fragen nicht so einfach waren, wie wir geglaubt hatten.

SPIEGEL: Wann haben Sie den Aidstest gemacht?

Harrington: 1990, genau zu der Zeit, als wir erstmals an den Konferenzen und Sitzungen der Forscher teilnahmen, im Sommer der Aidskonferenz in San Francisco. Ich war gerade 30.

SPIEGEL: Hat das Ihr Verhältnis zur Arbeit als Aktivist verändert?

Harrington: Ich glaube, als ich es noch nicht wußte, war ich empfänglicher für populistische Forderungen nach Zugang zu neuen Medikamenten. Erst als ich positiv war, wurde ich mißtrauisch gegen allzu einfache Antworten, die in Wirklichkeit gar keine sind.

Ich habe auch mitgekriegt, wie die Leute im Untergrund die Substanz »Q« genommen haben, was wahrscheinlich einige das Leben gekostet hat. Es gibt eben auch so etwas wie übereilte Forschung. Man kann mit einem Medikament auch Menschen umbringen - schneller als Aids es tut.

SPIEGEL: Inzwischen liegt die Zahl Ihrer T-Helfer-Zellen nur noch knapp über dem Wert 500. Unterhalb dieses Wertes empfehlen viele US-Ärzte, mit der AZT-Therapie zu beginnen.

Harrington: Das ändert sich. Inzwischen heißt es: Nehmt AZT, wenn ihr wollt. Und wenn ihr nicht wollt, laßt es bleiben. Normalerweise neigen Amerikaner zu therapeutischem Utopismus. In Europa ist es umgekehrt. Ich halte es eher mit den Europäern: Ich warte, solange mein Immunsystem noch allein zurechtkommt.

SPIEGEL: Daß schnell neue Aidsmedikamente auf den Markt gekommen sind, ist einer der großen Triumphe der Aktivisten. Jetzt äußern Sie sich so skeptisch?

Harrington: Es ist ein zweischneidiges Schwert. Daß wir die beschleunigte Zulassung von Medikamenten erreicht haben, ist zunächst mal gut für die Industrie. Und es ist gut für diejenigen, die schnell neue, aggressive Therapien haben wollen. Aber es ist schlecht für die, die etwas über diese Therapien wissen wollen. So haben wir Medikamente, aber zuwenig Information darüber, wie sie richtig anzuwenden sind.

SPIEGEL: Rückblickend also ein Fehler, die beschleunigte Zulassung erzwungen zu haben?

Harrington: Nicht generell. Aber wir haben uns damit eine Menge Probleme eingehandelt. Jetzt geht es darum, die Industrie zu zwingen, ihren Teil beizusteuern. Wir haben uns seinerzeit darauf geeinigt, daß bei beschleunigter Zulassung die Industrie auch nach der Markteinführung weiter über die Wirkung von Medikamenten forschen muß. Leider tut sie das oft nicht.

SPIEGEL: Es dürfte ohnehin fast unmöglich sein, ein Medikament, das erst einmal auf dem Markt ist, wieder einzukassieren, wenn sich herausstellt, daß es unwirksam ist. Jetzt knüpft sich die Hoffnung an die nächste Generation von Medikamenten, die Proteinase-Hemmer.

Harrington: In der Tat.

SPIEGEL: Wie groß ist die Gefahr, daß sich wiederholt, was wir bei AZT schon einmal erlebt haben: viel Rummel, viel Hoffnung und am Ende die große Enttäuschung?

Harrington: Fast unvermeidlich. Auch bei diesen Mitteln wird das Virus nach sechs Monaten oder einem Jahr resistent, genau wie wir es bei AZT kennen: eine typische Lückenfüllermaßnahme, bis wir etwas Besseres haben.

SPIEGEL: Sie glauben nicht daran, daß der Durchbruch durch die Kombination verschiedener Mittel gelingen könnte?

Harrington: Nein. Im Reagenzglas mag das klappen. Aber bisher gibt es keinen zuverlässigen Hinweis, daß Kombinationen besser wären. Zwei Medikamente sind genauso wirksam wie eines, nur doppelt so giftig. Mag sein, daß sich die Sicht der Dinge etwas ändert, wenn im nächsten Jahr die Ergebnisse neuer Studien rauskommen.

SPIEGEL: Was ist Ihre Alternative?

Harrington: Es gibt eine Reihe von Ansätzen. Der konventionellste ist, virale Proteine zu attackieren. Insgesamt gibt es neun verschiedene Gene und neun zugehörige Proteine. Das Problem ist nur: Egal, welches Protein ein Medikament auch blockieren mag, das Virus wird resistent. Das jedenfalls ist meine Überzeugung.

Die zweite Möglichkeit ist die, die Bob Gallo meint, wenn er von Hydroxyurea spricht. Ich weiß nicht, ob dies wirklich das Mittel der Wahl ist. Es gibt eine ganze Menge zellulärer Proteine, deren sich das Virus bedient. Wenn man, wie bei Hydroxyurea, eines dieser Proteine blockiert, kommt man zumindest um das Problem der Resistenz herum.

Der dritte Ansatz besteht darin, nicht das Virus zu attackieren, sondern die Immunabwehr zu stärken. Immerhin ist das Immunsystem bisher mit Abstand das Effektivste, was wir zur Abwehr des Virus haben. Das Problem ist nur, daß wir über die Art, wie das Immunsystem zerstört wird, noch sehr wenig wissen.

SPIEGEL: Ist es nicht vermessen, als Aktivist den Forschern Ratschläge zu geben?

Harrington: Ich habe die Erfahrung gemacht, daß Wissenschaftler häufig sehr in ihrem engen Fachgebiet gefangen sind. Virologen wissen oft wenig über das Immunsystem. Und Immunologen haben kaum Erfahrung mit infektiösen Krankheiten. Wir sind keine Experten, aber wir können Leute aus verschiedenen Forschungsfeldern zusammenbringen.

SPIEGEL: Sie waren einer der ersten, die gefordert haben: »Zurück zu den Grundlagen.« Inzwischen applaudieren Ihnen die Wissenschaftler dafür.

Harrington: Nun, im Jahr 1990 haben wir Tony Fauci gezwungen, uns an den Sitzungen der klinischen Forscher teilnehmen zu lassen. Da sahen wir, bei wie dürftiger Beweislage bereits Medikamente zugelassen wurden. Und wir sahen all die Studien mit ihren negativen Ergebnissen. Also haben wir, Gregg Gonsalves und ich, 1992 unseren Bericht an die National Institutes of Health geschickt, wo wir schreiben: Die Aidstherapie wird nicht aus der klinischen, sondern aus der Grundlagenforschung kommen.

Außerdem hatte ich damals einen Freund, der überhaupt keine T-Zellen mehr hatte. Sein Immunsystem war regelrecht ausgelöscht, aber er war kerngesund. Deshalb dachte ich: Warum nicht solche Leute erforschen? Damals haben wir propagiert, die Langzeit-Überlebenden zu untersuchen. Zwei Jahre hat es gedauert. Jetzt arbeitet jeder daran.

SPIEGEL: War es schwierig, in der Welt der Aidsforscher ernst genommen zu werden?

Harrington: Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. Ich glaube, einige waren erstaunt. Und anfangs war es eine Art Kulturschock.

SPIEGEL: Sie selbst haben früher in Harvard über Walter Benjamin gearbeitet. Was waren Ihre ersten Eindrücke aus der Welt der Naturwissenschaft?

Harrington: Das größte Problem ist, daß die Leute nicht bereit sind, enttäuschende Ergebnisse zu akzeptieren. Zum Beispiel beharren die Virologen auf AZT. Irgendwie glauben sie alle, sie könnten mit all ihren neuen Mitteln AZT wiederholen, nur diesmal besser.

SPIEGEL: Kennen Sie unter den Aidsforschern Homosexuelle oder HIV-Positive?

Harrington: Ich kenne wenige schwule Wissenschaftler und keinen, von dem ich weiß, daß er HIV-positiv ist. Die Naturwissenschaftler sind ausgesprochen schwulenfeindlich - die Biologen vielleicht sogar noch am wenigsten. Ich wette, es gibt kaum offen schwule Physiker.

SPIEGEL: Ihre Entscheidung, sich mit der Aidsforschung zu befassen, hat Sie zugleich von Ihren Freunden bei Act up entfremdet.

Harrington: Wir haben Act up verlassen und unsere eigene Organisation gegründet. Bei Act up gab es Ideologen, die alle Kommunikation zwischen Wissenschaftlern und Forschern abbrechen wollten.

SPIEGEL: Sie haben damit eine Spaltung der Aktivistenbewegung in Kauf genommen.

Harrington: Wir haben gemerkt, daß wir realistisch sein müssen, nicht marktschreierisch. Viele Aktivisten haben die Bedeutung der Medizin überschätzt. Wir dürfen nicht vergessen: Die Leute trauen uns. Sie nehmen die Mittel, die wir ihnen raten zu nehmen.

SPIEGEL: Viele haben Ihnen verübelt, daß Sie sich gegen Clintons Plan gewandt haben, nach dem Vorbild des Atombombenbaus ein »Manhattan Project« für Aids ins Leben zu rufen.

Harrington: So ist das halt in Gruppen. Wenn sie einmal auseinanderbrechen, hassen sie einander mehr als irgendwen sonst.

Das Manhattan Project haben wir uns im übrigen genau angesehen und sind zu dem Schluß gekommen: Auf Aids läßt es sich nicht anwenden. Damals war klar, was man brauchte: angereichertes Uran und Plutonium, um eine Bombe zu bauen. Bei Aids ist völlig unklar, was wir eigentlich brauchen.

SPIEGEL: Eine Organisation wie TAG ist einzigartig. Weder bei Krebs noch bei Alzheimer, Schizophrenie oder irgendeiner anderen Krankheit mischen sich Patienten so in die Forschung ein.

Harrington: Ich glaube, in westlichen Gesellschaften ist ein Schwarzweißbild der Wissenschaften sehr verbreitet. Entweder denken die Leute, daß die Wissenschaft irgendwelche Wundermittel aus dem Nichts hervorbringt, oder sie glauben, Wissenschaftler sind böse Verrückte. Und zwischen diesen Standpunkten können sie erstaunlich schnell hin- und herspringen.

Tatsächlich besteht Wissenschaft aus vielen Rückschlägen und winzigen Schritten vorwärts. Die Aidstherapie wird es nicht in zwei Jahren geben. Wir werden noch viele verlieren auf dem Weg dorthin, und trotzdem ist es der Mühe wert. Das einzusehen ist ein Ergebnis unserer Zusammenarbeit mit Ärzten und Forschern.

SPIEGEL: Stellen Sie sich selbst für die Forschung zur Verfügung?

Harrington: An den Medikamententests wollte ich mich nicht beteiligen, weil ich nicht glaube, daß sie für Patienten in meinem Stadium sinnvoll sind. Aber als sich die Frage stellte, welche Rolle die Lymphknoten im Infektionsverlauf spielen, ließ ich mir einen Lymphknoten entfernen.

SPIEGEL: Sie haben dabei die Viren aus Ihrem Körper unmittelbar zu Gesicht bekommen?

Harrington: Ja. Es waren viele. Und es war bestürzend.

SPIEGEL: Sie interessieren sich vor allem für die Entwicklung neuer Therapien - für einen Infizierten verständlich. Aber wird dabei nicht wichtiges Geld aus der Impfstoff-Forschung abgezogen?

Harrington: Immerhin kriegen Impfprogramme auch rund 100 Millionen Dollar. Wenn wir im übrigen mehr Grundlagenforschung fordern, dann kommt das auch der Entwicklung von Impfstoffen zugute. Denn gerade dort gilt: zurück zu den Grundlagen.

Im übrigen: Wenn das Ziel Vorbeugung ist, dann wird es auch anderswo vernachlässigt. Denn vorbeugen läßt sich auch, indem man Verhalten beeinflußt. Und da sieht es in diesem Land schrecklich aus: Forschung über Drogen ist Anti-Drogen-Forschung. Und Forschung über sexuelles Verhalten ist Anti-Sex-Forschung.

SPIEGEL: Was, glauben Sie, haben Sie bisher mit Ihrer Arbeit erreicht?

Harrington: Wir haben zur Demokratisierung der Wissenschaft auf dem wichtigen Gebiet Aids beigetragen. Und es wäre gut, wenn sich das auf andere Gebiete übertragen ließe. Auch Homosexualität ist öffentlicher geworden. Es gibt Vorbilder dafür, wie man aktiv auf die Gesellschaft einwirken kann - wenn der Preis auch sehr hoch war. Über 100 000 Schwule sind tot. Und weitere Hunderttausende werden sterben.

SPIEGEL: Wird Ihr Kampf für eine bessere Therapie auch den heute schon Infizierten zugute kommen?

Harrington: Es ist immer schwer, die Zukunft vorauszusagen. Aber immerhin haben wir seit 1985 die Überlebenszeit von HIV-Infizierten schon verdoppelt. Meine Prognose ist: 15 bis 50 Jahre wird es dauern, bis Aids zu einer kontrollierbaren Krankheit geworden ist.

SPIEGEL: Was folgt daraus für Sie selbst?

Harrington: Ich hoffe, es bis ins nächste Jahrhundert zu schaffen. Vielleicht werden Medikamente mir dabei helfen - ich spreche ja nur über einen Zeitraum von fünf Jahren. Natürlich ist man darauf programmiert zu denken, daß man 70 wird. Aber das ist nur eine Art Phantasie. Realistisch ist sie nicht.

SPIEGEL: Herr Harrington, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Y

»Gerade für die Impfstoffe gilt: zurück zu den Grundlagen«

Das Gespräch führte SPIEGEL-Redakteur Johann Grolle.

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