NEW YORK Eine Beleidigung
Arbeitslose Massen ziehen plündernd und raubend durch die Straßen, und kein Polizist ist da, den Mob zu zügeln. In den Krankenhäusern verkommen die Patienten. Ganze Straßenzüge versinken in Schutt und Asche. An der Fifth Avenue türmen sich Abfallhalden, auf denen Ratten turnen.
Solche Visionen von der »größten Geisterstadt der Welt« kamen der »Soho Weekly News« vorige Woche, als es schien, daß New York den Konkurs anmelden müßte.
Der ist inzwischen wenigstens vorläufig abgewendet; das Schreckbild aber blieb: 51 000 städtische Angestellte -- fast ein Sechstel der von der Stadt Beschäftigten -- will Bürgermeister Abraham Beame entlassen, um das Defizit im neuen Haushalt (641 Millionen Dollar) zu decken. Unter anderen sollen 7281 Polizisten, 8941 Angestellte der Schulbehörde, 3500 Mitglieder im Gesundheitsdienst, 2304 Feuerwehrleute, 2882 Müllmänner, 2280 Angestellte aus dem Universitätsbereich und 2121 Sozialarbeiter bis zum 30. Juni ihre Kündigung bekommen.
Rund 13 000 andere Mitarbeiter im öffentlichen Dienst hatten schon vorher auf der Abschußliste gestanden. »Ein Horrormärchen« nannte der Vorsitzende des Finanzkomitees, Mark Troy, das »Krisenbudget«, und Albert Shanker, Vorsitzender der Lehrergewerkschaft, sah »massive soziale Unruhen« voraus, bei der »Leute auf offener Straße vergewaltigt, beraubt und niedergemacht werden würden«. Bürgermeister Beame selber beklagte die Sparmaßnahmen, zu denen er gezwungen worden sei, als »Beleidigung für jeden New Yorker«.
Zu den drakonischen Einschränkungen hatte sich Beame entschließen müssen, nachdem alle anderen Versuche, New Yorks Finanzkrise zu lösen, gescheitert waren: Der Stadt fehlten bis zum 30. Juni eine Milliarde Dollar für die Ablösung kurzfristiger Schuldverschreibungen, 280 Millionen Dollar waren schon am vorigen Freitag fällig.
Seit einem Jahrzehnt hatten die Bürgermeister New Yorks die Löcher im Haushalt der Megalopolis überkleistert. Abraham Beame hatte -- erst als oberster Finanzverwalter der Stadt, dann als ihr Bürgermeister -- mit imaginären Einnahmen vollendet jongliert: Geld gepumpt auf Einnahmen, die entweder noch gar nicht bewilligt oder in ihrer tatsächlichen Höhe nicht voraussehbar waren.
Bei dem erfolglosen Versuch, kurzfristige Schuldverschreibungen unter die Leute zu bringen, verloren New Yorker Banken dieses Jahr rund 50 Millionen Dollar. Unverblümt erklärten sie dem Bürgermeister daher, daß sie kein Geld mehr für ihn auftreiben könnten, wenn er Ausgaben und Einnahmen in seinem Budget nicht in ein realistisches Verhältnis bringen würde.
Beames Bittgänge nach Washington und Albany, der Hauptstadt des Bundesstaates New York, verliefen ergebnislos. Gouverneur Carey erklärte sich nur bereit, 200 Millionen Dollar aus Sozialgeldern vorzuschießen« damit der Bürgermeister wenigstens vorige Woche seine Angestellten bezahlen konnte.
Angesichts der Milliarde, die bis zum 30. Juni fällig ist, sieht die Zukunft der Stadt noch düsterer aus: Denn diejenigen, die zahlen könnten, sind vor den Plagen New Yorks längst in die Vororte geflohen. Nachgeströmt oder geblieben aber sind einkommensschwache Bewohner. die ohne das weitläufige System von Sozialleistungen nicht überleben können, an denen New York jedoch finanziell zugrunde geht.
New York könnte nur durch massive Hilfe aus Washington gerettet werden. Dem aber steht die tiefverwurzelte Stadtfeindlichkeit der Amerikaner entgegen. Ende des 18. Jahrhunderts hatte Thomas Jefferson sie gewarnt: Nur ein ländliches Amerika könne den Staat vor der Korruption bewahren, wie sie in den Städten Europas üblich ist.