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JOURNALISMUS Eine große, gute Sache

aus DER SPIEGEL 13/1954

Während Robert Berkeley, der Senior-Korrespondent des amerikanischen Nachrichtenmagazins »Beacon«, im Lift zur Hochhaus-Wohnung seines Chefs emporfährt, verschwimmen vor seinem inneren Blick die vergangenen fünfzehn Jahre seines Lebens im säuerlichen Nebel der Fragwürdigkeit.

So setzt der soeben in Amerika erschienene Roman-Bericht »The Death of Kings« ("Das Sterben der Könige") von Charles Wertenbaker*) ein. Was den Bob Berkeley, die Hauptfigur des Romans, schmerzt, ist nicht nur die verkaterte Einsamkeit eines Zeitungsmannes, dessen Tage sich zusammen mit seinen Berichten über das flüchtige Geschehen in Altpapier verwandelt haben. Er sagt zu Louis Baron, seinem Chef: »Ich bin gekommen, um mit Dir über das Prinzip der Wahrheit zu sprechen.«

Auf das Prinzip der Wahrheit hatte die Zeitschrift »Beacon« einst ihr Geburtsrecht gegründet. Berkeley hatte inzwischen zuviel gesehen, um noch an viel zu glauben, aber er glaubte an das Prinzip aus dem mächtigsten aller männlichen Motive: aus Selbstachtung. Doch jetzt, im unruhigen Spätherbst 1950, hatte die Wahrheit nicht nur im »Beacon« sondern in ganz Amerika eine tiefe Krise. Das ist der Grund, weshalb Berkeley »etwas in sich sterben fühlt«.

Wie es kam, daß der »Beacon« zu einer journalistischen Falschmünzer - Werkstatt degenerierte, ist das erregende Thema der kraftvollen Erzählung. Der erfahrene Journalist

*) Charles Wertenbaker: »The Death of Kings.« Random House, New York. 478 Seiten. 3,95 Dollar. Wertenbaker hat ein Buch geschrieben, das nicht nur in der kleinen, aber schlagkräftigen Gattung der Presse-Stories überragt, sondern sich auch für die Schwergewichtsklasse bedeutenderer zeitkritischer Romane qualifizieren kann.

Wertenbaker weiß, worüber er schreibt. Bob Berkeley, der wie der Geist in Shakespeares »Hamlet« durch das Buch wandelt, könnte Wertenbakers Gespenst sein. Ähnlich wie Berkeley war Wertenbaker viele Jahre lang Redakteur und Korrespondent eines amerikanischen Nachrichtenmagazins ("Time"). Wie Berkeley stieg er aus, weil er glaubte, daß die Politik des »Time«-Herausgebers Henry Luce ein Verrat an dem Credo eines liberalen Journalismus sei.

Aber die Story seines fiktiven Blattes »Beacon« ist kein plumper Schlüsselroman über »Time«, eines der erfolgreichsten Produkte des modernen Journalismus. Wohl hält Wertenbaker sich so deutlich ans Tatsächliche, daß man weiß, wer gemeint ist, doch seine zugleich chirurgisch präzise und animalisch pralle Prosa sprengt die Begrenzung einer Reportage.

Wertenbaker hat diesen Stil bereits vorher erprobt Selbst »Time« bescheinigte ihrem ehemaligen Mitarbeiter Wertenbaker beim Erscheinen seines vorletzten Buches (allerdings noch vor der Veröffentlichung von »Das Sterben der Könige"): »Das Buch reicht so nahe an Balzac heran, wie das einem modernen Autor überhaupt gelingen kann.«

Im Anfang der fünfzehn Jahre, die in Bob Berkeley eine »grenzenlose Traurigkeit« hinterlassen sollen, sitzen fünf Männer im Dach-Appartement Louis Barons um ihren Chefredakteur herum: Berkeley und vier Burschen Ende Zwanzig, die jugendlichen Redakteure des »Beacon«-Nachrichtenmagazins. Sie reiten auf der Woge einer großen Idee. »Wir sind die Könige der Gegenwart«, sagt Baron mit einem halb scheuen, halb entschlossenen Blick an seiner herabhängenden Stirnlocke vorbei, »wir sind Könige, weil wir die Krone und das Zepter der Wahrheit tragen.«

Wenn es auch arrogante Worte sind, so leiten sie doch ein kühnes journalistisches Experiment ein. »Beacon« soll eine Aufgabe bewältigen, vor der die Zeitungen der Welt kapituliert haben: in den Hintergrund des Zeitgeschehens einzudringen, die Oberfläche der Vorfälle zu durchstoßen und die Masken der handelnden Personen abzureißen. Baron und seine Leute sind der Ansicht, daß die Menschheit es sich nicht leisten könne, blind einherzutappen und darauf zu warten, daß die Historiker sich an die Gräber der Generationen stellen und erklären, was in Wahrheit mit ihnen geschehen ist.

In verblüffender Einfachheit konzipieren die »Beacon«-Redakteure ihre Philosophie: Die menschliche Geschichte ist eine permanente Revolution der Wahrheit gegen die Lüge, eine Revolution, »die nie gewonnen werden kann«, in der jedoch jeder Mann fechten muß, »wenn er in seinem Herzen den Lohn des Lebens empfangen will«. Die Baron-Leute finden es, wenn nicht unmöglich, so doch überflüssig, ihr »Prinzip der Wahrheit« näher zu definieren. Sie fühlen es als ihren besten Instinkt, eine Mischung aus den Erkenntnistrieben des Detektivs und des Dichters*).

Louis Baron gibt dem »Beacon« völlige Unabhängigkeit. Seine Redakteure und Autoren sind nur dem Chef verantwortlich. Sie arbeiten in befeuernder Freiheit: sie erleben das »Abenteuer der Teilnahme« am Geschehen und zugleich die Losgelöstheit

*) Neben Wertenbaker sind drei weitere namhafte Romanciers aus »Time« hervorgegangen: John Hersey ("Der Wall"), Louis Kronenberger und Nigel Dennis. forschender Betrachtung, die keiner irdischen Instanz unterworfen ist.

Sie brauchen weder auf Anzeigenkunden des Blattes noch auf eine politische Einflußgruppe Rücksicht zu nehmen. Die Tatsachen werden gedruckt, »ganz gleich, ob sie treffen«, ob sie den Lesern gefallen mögen oder nicht. »Beacon« ist vollgepreßt mit Fakten, von denen die Öffentlichkeit nirgends sonst zu lesen bekommt.

Fakten ehren oder verdammen den, der sie geschaffen hat. Wer sich in ihren Besitz bringt, gewinnt eine unwiderstehliche Macht. »Beacon« gewinnt diese Macht durch seine Tatsachen. Von Ausgabe zu Ausgabe wird das Blatt mehr beachtet, mehr gefürchtet.

Zwingend schildert Wertenbaker die seltsame Besessenheit der »Beacon«-Journalisten im Jahre vor dem Krieg, ihre Weltkenntnis, ihr Aufgehen in den Problemen der Zeit, ihren Versuch, sich zu hochsensiblen Transformatoren auszubilden, die irgendwelche Ereigniskomplexe in ein dynamisches Panorama entstehender und nicht mehr abzuwendender Geschichte umwandeln können. Sie machen sich keine Sorgen um sich selbst. Sie machen sich Sorgen über China und den Korridor.

Die »Beacon«-Leute arbeiten, streiten, trinken zusammen. Sie lieben sogar dieselben Frauen. Über Berkeley heißt es: »Sein Verlangen nach sexueller Aktivität war fast ausschließlich intellektuell. Er mußte seinen Geist von Gefühlen befreien, so daß er klar denken konnte.«

Damen sind unwichtig, und die Redakteure machen sich keine Skrupel über ihren Umgang mit ihnen, weil sie ihre ganze Moral in ihrem Beruf verbrauchen. Die Frauen versuchen, sich darauf einzustellen, und so kommt es, daß eine von ihnen durch die Umarmungen von fünf »Beacon«-Leuten wandert. Für eine kurze Zeit haben sie, die »Beacon«-Zarathustras, das Recht, sich auf eine ingrimmige Art als Könige zu fühlen. Aber Könige haben schon bei Shakespeare die Angewohnheit, im Moment ihrer Glorie den herabziehenden Kräften ihrer menschlichen Herkunft zu erliegen.

Die Ereignisse zwischen 1939 und 1941 erschüttern das Vertrauen der »Beacon«-Rotationsfürsten in ihre eigene Unfehlbarkeit und in das »Prinzip der Wahrheit«. Was Hitler-Deutschland anlangt, so liegt »Beacon« von Anfang an richtig. Aber als Rußland von der anderen Seite her in Polen einmarschiert und kurz darauf sogar Finnland überfällt, stellt sich heraus, daß auch die »Beacon«-Redakteure mit einer alten menschlichen Schwäche behaftet sind: sich gegen Tatsachen zu sträuben, die den eigenen Überzeugungen und Illusionen widersprechen.

Max Freeman, der Chef der Auslandsredaktion, streicht jede Zeile in den Berichten von der finnischen Front, die sich gegen die Sowjet-Union richten. Das Motiv des Prinzipienbruders: Freeman ist kurz vorher der KP in Amerika beigetreten. In der Schere zwischen seiner Anschauung und den Tatsachen verfängt Freeman sich ausweglos. Er beginnt reinen Unsinn zu tippen, wirre Sätze. Er wird beurlaubt und verbringt eine Zeit in der Heilanstalt.

Weil »Beacon« fast die einzige ehrliche und unabhängige Publikation ist, kaufen die Leute sie. Die Zeitung wird - gerade weil sie nicht auf ein Geschäft ausgeht - ein Geschäft. Und während die steigenden Auflageziffern den Redakteuren die anspornende Genugtuung geben, daß eine redliche Sache auch einen redlichen Absatz zu finden scheint, wird Louis Baron von den Zahlen selbst fasziniert.

Er sieht die Macht, welche der »Beacon« ausübt. Er sieht nicht, daß - wenn das die Macht der Ehrlichkeit und des Anstands

ist - er dieser Macht nur um ihrer selbst willen dienen, sie aber niemals dazu benutzen kann, sie zu seiner eigenen Macht zu machen, will er sie nicht scheußlich pervertieren. Er tut in seiner Hybris genau das. Louis Baron ist ehrgeizig. Er hungert nach Anerkennung durch die bedeutenden Männer seines Landes, weil er nicht König genug ist, um zu erkennen, daß er als Diener des »Beacon«-Prinzips immer einsam bleiben muß. Er sehnt sich nach einem Interview mit Präsident Roosevelt.

Zuerst »hielt Louis die meisten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens für ein Freiwild seines Spottes«. Jetzt aber landen immer mehr Manuskripte, die solchen Persönlichkeiten wehtun könnten, in seinem Papierkorb, denn Louis hat mit diesem und jenem Politiker diniert.

Baron unterstützt den Präsidentschaftskandidaten Tom Dewey, weil Roosevelt dem »Beacon«-Chef keine Audienz gab. Später rückt er wieder zu Roosevelt hinüber, weil er auf den Posten des US-Botschafters bei Tschiang Kai-schek reflektiert. Jeden Stimmungsumschwung begleitet »Beacon« mit wechselnden »Meinungen, die hinter den Tatsachen verborgen werden«. Wenn die Tatsachen nicht zu der Meinung passen, stutzt man sie zurecht.

Die kommentarlose Berichterstattung, in sauberen Händen ein wertvolles Informationsmittel, verdirbt bei Zweckschreibern zu einem heimtückischen Instrument des Betrugs: Das Vertrauen des Lesers, nur gewissenhaft abgewogene Fakten vorgesetzt zu bekommen, wird dazu mißbraucht, ihn falsch zu unterrichten und dadurch seine Meinung zu formen.

Eine Finsternis voller Haß und Bestürzung senkt sich über die »Beacon«-Redaktion, als die Mitglieder merken, daß sie nicht mehr einem Prinzip, sondern Barons Machtsucht dienen. Die Alten unter ihnen haben zu lange rebelliert, um sich jetzt vor Baron zu beugen.

Joe Abel geht als Kriegskorrespondent an die Front und fällt. Dick Elgin verläßt den »Beacon«, um in einem Buch die Wahrheit über Tschiang Kai-schek zu schreiben, die der »Beacon« nicht veröffentlichen

will, weil Baron sich in den »Gimo« (Generalissimo) verliebt hatte.

Als der Gimo aus China hinausgeworfen ist - was Elgin vorausgesagt hat - , taucht Max Freeman als desillusionierter Ex-Kommunist wieder bei Baron auf, um dem »Beacon«-Chef mit erlogenen Geständnissen zu helfen, Elgin als roten Umstürzler anzuprangern.

Phil Chatham allein bleibt übrig. Resignierend versucht er so zu tun, als ob er den »Beacon« davon abhalte, McCarthys Hausblatt zu werden. In Wirklichkeit ist er ein müder Beamter geworden, der sich ausrechnet, in wieviel Jahren er sich zur Ruhe setzen kann.

Die journalistischen Prinzipien, unter denen »Beacon« begann, werden in einem großartigen Mausoleum aufgebahrt: in der reichen, weltweiten »Beacon«-Organisation. Sie ist zu einer mächtigen Nachrichtenfabrik geworden. Talent und Enthusiasmus sind zum Fenster hinausgeflogen. Hereingekommen sind die Karrieremacher, die Ja-Sager, die Intriganten.

All das wäre nicht so schlimm, hätte sich nicht auch die Aussicht auf eine Wahrheitsfindung in der Gegenwart verdüstert. Bob Berkeley selbst wird sich schockartig darüber klar, als er bei dem Schlußgespräch mit Baron dessen neue »höhere Wahrheit« attackiert, die - laut Baron - Pflicht jedes patriotischen Journalisten ist: mit Hilfe vorgefaßter Meinungen über den Kommunismus das Vaterland zu mobilisieren. Die »höhere Wahrheit« ist die gleiche Sache, wegen der er während des Finnlandkrieges Max Freeman beurlaubte.

Bob Berkeley hatte im Herbst 1945 aus der Tschechoslowakei berichtet, daß Kommunisten und Demokraten in Prag zusammenarbeiten. Das war die Wahrheit - damals. Was er nicht berichtet hatte, war, daß die Kommunisten sich schon in den Besitz des Innenministeriums und der anderen Machtquellen gebracht hatten und die Demokratie würden stürmen können.

Auch das war 1945 schon eine Tatsache, aber sie war dem Korrespondenten verborgen geblieben, obwohl er sich gewissenhaft um ein Gesamtbild der Situation bemüht hatte. Louis Baron hatte Berkeleys Bericht nicht drucken lassen, weil er persönlich nicht glaubte, daß Kommunismus und Demokratie je würden zusammenarbeiten können. Baron war nie in der Tschechoslowakei gewesen. Wenn er hingefahren wäre, hätte er aus dem Gesichtswinkel seiner - unobjektiven - antikommunistischen Gesinnung heraus mit Sicherheit die Tatsache entdeckt, die Bob Berkeley übersehen hatte.

Louis Baron behielt in diesem Falle recht. Seine vorgefaßte Meinung - nämlich, daß der Kommunismus immer schlecht und umstürzlerisch ist - half ihm zu erkennen, daß die Kommunisten 1945 in der Tschechoslowakei bereits mit der Vorbereitung der Revolution von 1948 begonnen hatten, sich jedoch tarnten, um den Objektivismus der westlichen Beobachter zu täuschen.

Dieselbe vorgefaßte Meinung aber, die ihn hier die tatsächlichen Verhältnisse erkennen ließ, kann ihn in einem anderen Fall genau so in die Irre führen, wie in Prag Berkeley ein Opfer seiner vorgefaßten Meinung wurde: Sein inniger Wunsch nach einer Demokratisierung der Kommunisten und seine Freude, sie angewandt zu sehen, hatten ihn fehlgeleitet.

Damit bringt Wertenbakers Bestandsaufnahme ein negatives Ergebnis. Seine Prognose ist pessimistisch: Es kann allenfalls Meinungen geben in dieser Zeit. Die Wahrheit selbst bleibt verborgen. Was dafür ausgegeben wird, schlägt immer gleich wieder dialektisch in Lüge um. Die Revolution gegen die Unwahrheit kann nie gewonnen werden. Der Tod der Könige ist ein tragischer Fall.

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