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Eine Katastrophe der Spezies Mensch

Von Gerhard Mauz
aus DER SPIEGEL 34/1973

Vom »größten Massenmord in der Geschichte der Vereinigten Staaten« ist die Rede. Doch die größte und angesehenste Zeitung der Vereinigten Staaten, die »New York Times«, korrigierte dieses Gerede in der Rubrik »The Nation« mit zwei Sätzen ihres Mitarbeiters James P. Sterba: »It was not a record for mass murder. Nothing like My Lai.«

27 junge Leute, vielleicht sogar noch mehr, sind Menschen zum Opfer gefallen, die Befriedigung daraus gewannen, daß sie demütigten, quälten, töteten. Doch auch was die Täter angeht, ist daran zu erinnern, was dieses Jahrhundert über die Möglichkeiten des Menschen lernen mußte. 27 junge Leute sind Menschen, nicht dem Satan oder Tieren in Menschengestalt zum Opfer gefallen. Der Mensch ist zu allem fähig, vor allem gegen den Menschen.

In der Frühe des 8. August 1973 behauptet der 17jährige Elmer Wayne Henley bei der Polizei in Houston, Texas, er habe Dean Allen Corll, 33, in Notwehr erschossen. Corll habe eine Party veranstaltet, erzählt Henley. Außer ihm seien Rhonda Williams, 15, und Timothy Kerley, 20, zu Besuch in dem von Corll bewohnten Haus gewesen.

Sie hätten Lackdämpfe eingeatmet und sich betäubt. Als er wieder zu sich kam, seien die Williams und Kerley bereits auf Bretter gefesselt gewesen, und Corll habe im Begriff gestanden, auch ihn zu fesseln.

Corll habe angekündigt, er werde sie alle töten, nachdem er seinen Spaß mit ihnen gehabt habe. Er hätte jedoch auf Corll eingeredet und schließlich angeboten, die Williams und Kerley für Corll zu töten.

Als Corll auf dieses Angebot einging und ihm seine Pistole gab, will Henley diese nicht auf die Williams und Kerley, sondern auf Corll gerichtet und geschossen haben.

Die Geschichte, die Elmer Henley der Polizei in Houston erzählt, hat dunkle Stellen. Elmer Henley bricht im Verhör zusammen. Er weiß einfach keine Antworten mehr auf die Fragen, die man ihm stellt. Auch ist ja, seit er Corll getötet hat, die Welt ihres Mittelpunktes beraubt, in der er eben noch lebte: eine Welt, die ihre totale Irrealität real machte.

Dean Corll hat während der vergangenen drei Jahre zwischen 20 und 30 Jungen im Alter von 13 bis 17 Jahren getötet, nachdem er sie gequält und mißbraucht hatte. Zumindest ein Teil dieser Jungen wurde Corll von Elmer Henley zugeführt -- und von David Owen Brooks, 18, den Henley nun als weiteren Beteiligten nennt. Brooks bekennt sofort. Was am Morgen des 8. August 1973 noch ein Fall von Notwehr sein sollte, stellt sich binnen Stunden als ein gräßliches Kapitel der Kriminalgeschichte dar.

Entsetzen, aber auch Sensationslust überrennen alle Schranken. Brooks' umfangreiche Aussage wird sofort durch Fernsehen, Funk und Presse bekannt. Brooks nennt die Namen von Opfern, und so erfahren Eltern, deren Jungen bislang nur als vermißt galten, durch Fernsehen, Funk und Presse, daß ihre Kinder getötet worden sind.

In Houston, an einem rund 200 Kilometer entfernten See und an der Küste werden Leichen gefunden. Sie sind gefesselt, in Plastiksäcke gepackt, es ist Kalk über sie gestreut worden. Die Identifizierung wird schwer.

Für Hunderte von Eltern vermißter Jungen, die angereist sind, beginnt ein Warten, das wahrscheinlich nicht für alle mit einem Ja oder Nein beendet werden kann. Am Atlantik muß die Suche unterbrochen werden, wenn die Flut kommt. Und Elmer Henley und David Brooks, die gesagt haben, wo man suchen soll, sitzen dabei.

Sitzen Henley und Brooks unbeteiligt dabei, wenn Opfer gesucht und geborgen werden? Sie haben Corll nicht nur Jungen zugeführt. Inzwischen weiß man, daß sie sich auch am Quälen und sogar am Töten beteiligt haben sollen. Beide sind wegen Mord angeklagt worden. Wie kommen Brooks und Henley in diese blutige Geschichte hinein? Auch Fritz Haarmann, der Mitte der zwanziger Jahre in Hannover wegen Mord an 24 Jungen zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, hatte einen 17jährigen, der ihm Opfer zuführte, der allerdings an den Tötungen nicht beteiligt war. Brooks behauptet, Corll und Henley hatten ihn töten wollen, so habe seine Beziehung zu beiden begonnen. Man habe ihn leben, aber, seine Angst ausnutzend, nicht mehr losgelassen.

Brooks und Henley scheinen bemüht gewesen zu sein, Distanz zu Corll zu gewinnen. Brooks ist verheiratet. Seine Frau erwartet in einigen Wochen ein Kind. Henley hatte um die Hand einer 15jährigen angehalten. Es bleibt ein Rätsel, wie Brooks und Henley von Corlls Sadismus aufgesogen wurden, auch wenn beide in den unglücklichsten Verhältnissen aufgewachsen sind.

Dean Corll ist tot. Als man die Suche nach den Opfern einstellt, nachdem man die 27. Leiche geborgen hat, ist er gerade bestattet worden. Auf seinem Sarg lag die Flagge der Vereinigten Staaten, die zusammengefaltet seinem Vater übergeben wurde. Dean Corll wurde das Zeremoniell zuteil, das jedem Amerikaner zusteht, der beim Militär gedient hat und ehrenhaft entlassen worden ist.

In seiner Umgebung hat Corll nur Fassungslosigkeit hinterlassen. 1960 ist er nach Houston gekommen. Zunächst war er ein »Candyman«, fuhr mit einem weißen Lieferwagen herum und bot Süßwaren an. Zuletzt ist er Elektriker gewesen. Er ist nie aufgefallen. Corll soll durch Scheidung seiner Eltern aus einer glücklichen Kindheit herausgerissen worden und in Heimen aufgewachsen sein. Daß Corll homosexuell war, ist in seinem Umkreis bekannt gewesen, doch hat man ihn nie als lästig, aggressiv oder auch nur peinlich empfunden. Er war niemand, vor dem man die Kinder warnte.

Der extreme Sadismus, bei dem die Befriedigung an das Quälen und Töten gebunden ist, muß auch heute noch als unerforscht gelten. Der Sexualtäter Manfred Wittmann, der 1968 und 1969 bei Coburg drei Mädchen grausam tötete, geriet im achten Lebensjahr in einen Erregungszustand, als er beim Schlachten von Schweinen zusah. Vom Eintritt der Pubertät an hat er dann ausschließlich sadistische Phantasien gehabt, die sich auf das Schlagen, Fesseln und Quälen junger Frauen bezogen.

Mit 17 versuchte er zum erstenmal, seine Phantasien zu realisieren. Als das Mädchen, das er überfallen hatte, zu bluten begann, floh er in Panik. Erst neun Jahre später war die Welt seines Phantasierens so mächtig, so sehr zu Wittmanns tatsächlicher Realität geworden, daß er wieder einen Überfall beging. Diesmal tötete er, so einer seiner Gutachter, Eberhard Schorsch, in einem »tranceartigen Zustand der Erregung«, nach dem wiederum eine Ernüchterung einsetzte, die jedoch diesmal nur wenige Wochen anhielt. Im Verlaufe eines Jahre folgten zwei weitere Tötungen, wobei der Tathergang zuletzt vollständig dem entsprach, was die Phantasie ausgemalt hatte.

Was die Entwicklung voraussetzt, in Gang bringt und fördert, auf deren Gipfel der Sadismus eine Sucht ist, eine geheime, übermächtige und tötende Realität, hat die Wissenschaft bis heute nicht klären können. Menschen wie Dean Corll, wie die sadistischen Sexualtäter Haarmann und Seefeld in Deutschland oder wie Ian Brady und Myra Hindley in England, sind Naturkatastrophen der Spezies Mensch, sind selten und überdies lange als Tiere in Menschengestalt abgetan und abgestraft worden.

Erst Sexualtäter wie der erwähnte Wittmann, vor allem aber Jürgen Bartsch, wurden gründlicher untersucht und vorurteilsfreier analysiert. Es ergab sich, daß ein breites Feld von Bedingungen und Einwirkungen an derartigen Entwicklungen beteiligt ist.

Feststellungen, wie sie etwa die Professoren Wilfried Rasch und Tobias Brocher, beide Gutachter im zweiten Prozeß gegen Jürgen Bartsch, getroffen haben, wird man berücksichtigen müssen, wenn man die Morde von Houston begreifen (nicht entschuldigen ...) will. Brocher beispielsweise bemerkt, nachdem er die Bedingungen erörtet hat, unter denen Jürgen Bartsch aufwuchs: »Er hat so konsequent später mit anderen eigentlich das getan, was andere zuvor mit ihm taten, als er ihnen hilflos ausgeliefert war ... Der Täter sucht eigentlich in seinem Opfer gleichsam ein Abbild seiner selbst als Kind, das er dann so verderben und zerstören will, wie er selbst auch als Kind zerstört wurde.«

Eines fällt bei allen Tätern auf und belegt die Macht der Abirrung, die sie geschlagen hat: Über Jahre bleiben sie unerkannt. Wo andere Straftäter längst aufgefallen und gestellt wären, schreiten sie im Griff ihrer mörderischen, sie total ausfüllenden Sucht »unauffällig«, wie in einem Tarnmantel, einher. Und so kommt es zu Zahlen von Opfern wie in Houston.

Die Öffentlichkeit der Vereinigten Staaten hat auf den Schock von Houston besonnen reagiert. Ein Versuch, die Homosexuellen zu verteufeln, ist -- jedenfalls bislang -- nicht unternommen worden. Das Thema der Vereinigten Staaten ist vielmehr angesichts von Houston die Unzahl der Jugendlichen, die alljährlich von zu Hause verschwinden, von denen man nicht weiß, ob sie nur davongelaufen oder ob sie, wie in Houston, ermordet worden sind.

Die Ursache des Davonlaufens, nur zu oft zerrüttete Ehen, wird diskutiert, die Nachforschungen nach Vermißten sollen konzentriert und intensiviert werden, man will Zentren einrichten, die eine Zuflucht für Jugendliche sein können. Und nicht empört, sondern entsetzt nimmt man zur Kenntnis, was Elmer Henley auf die Frage antwortete, wie Morde, wie die von Houston, zu verhüten seien: »Don't hitchhike« -- nicht trampen.

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