»Eine Krise, aber keine Alternative«
Stundenlang saß Willy Brandt stumm und düster dabei, als im Bonner Abgeordneten-Silo »Langer Eugen« die Prominenz der SPD-Bundestagsfraktion am vergangenen Montag einen letzten Versuch unternahm, die Abweichler vom rechten Kurs des Antiterror-Gesetzes doch noch umzustimmen.
Kurz vor Mittag brach der Vorsitzende sein Schweigen: »Die Koalition überlebt diese Woche nicht, wenn das Gesetz platzt.« Und: »Ich sage offen. was wird aus diesem Land, wie wirkt sich das auf Europa aus, wenn diese Koalition weggedrückt wird. Das können wir nicht verantworten.«
Der SPD-Chef gab Weisung, einen Brief des Freidemokraten Hans-Dietrich Genscher an die FDP-Funktionäre zu vervielfältigen. damit die Genossen den Ernst der Lage erkannten. Eindringlich hatte Genscher in dem Schreiben gemahnt, die Koalition sei »gefordert, die beabsichtigten rechtsstaatlichen Regelungen aus eigener Kraft im Deutschen Bundestag zu verabschieden«.
Am Montagabend dann, bei einer Sitzung des SPD-Präsidiums in Brandts Villa auf dem Bonner Venusberg« war die Epistel wieder Top-Thema. Die Runde war sich einig: Obgleich nach Genscher-Art vorsichtig formuliert, komme die Mahnung. die der FDP-Vorsitzende auch noch im Fernsehen wiederholt hatte, einer unmißverständlichen Drohung gleich.
immerhin, so meinten die Spitzengenossen, sei der Aufruf des Liberalen »sehr hilfreich« (SPD-Vize Hans Koschnick), wenigstens einige der Opponenten gegen die Antiterror-Vorlage zur Räson zu bringen. Und das gelang auch.
Die Sozialliberalen brachten bei der dritten Lesung des Gesetzes die Ein-Stimmen-Mehrheit von 245 zu 244 nur zusammen, weil einige SPD-Abgeordnete trotz schwerer Bedenken mit Ja votierten, um, wie sie meinten, die Koalition zu retten.
Dabei war das Bündnis -- diesmal noch -- nicht ernsthaft in Gefahr. Denn trotz seiner Drohung hätte es sich Genscher gar nicht leisten können. von einem Tag auf den anderen Helmut Schmidt zu stürzen und CDU-Chef Helmut Kohl samt seinem CSU-Aufpasser Franz Josef Strauß zur Macht zu verhelfen.
Selbst wenn das Antiterror-Gesetz am Nein linker SPD-Parlamentarier gescheitert wäre, konnte der FDP-Chef wohl kaum die Koalition über das Thema »Rechtsstaat« zerbrechen lassen. Daß es nötig sei, mit Hilfe der Union den Rechtsstaat abzubauen, um die Bürger zu schützen, wäre gerade liberalen Wählern schwer klarzumachen gewesen.
Und wie sollte Genscher aus diesem Anlaß seine FDP-Fraktion geschlossen auf den Kanzler einer Christenunion einschwören, die über Programm und Personen total zerstritten ist?« Man muß sieh diese Leute doch nur mal ansehen«, so der Genscher-Vertraute Gerhart Baum, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium, »da ist doch klar, wir haben jetzt eine Krise, aber keine Alternative.«
Dennoch zeigt Genschers Briefsignal, wie weit die Erosion des Bonner Bündnisses fortgeschritten ist. »Wir bewerten das«, analysiert SPD-MdB Conrad Ahlers, »als vorbereitende Handlungen für den Koalitionswechsel.« Wie Ahlers fragen sieh viele Sozial- und Freidemokraten, ob die Koalition noch bis 1980 hält.
Innerhalb von acht Monaten ist die Regierung in der vergangenen Woche zum drittenmal haarscharf an einem Debakel im Bundestag vorbeigeschrammt:
Im Juni 1977 stimmten fünf Sozialdemokraten einem Gesetz nicht zu, das die Unternehmen -- um die Konjunktur zu beleben -- mit Steuererleichterungen beglückte.
Im September verweigerten 21 Koalitionsabgeordnete dem Kanzler die Gefolgschaft beim Kontaktsperre-Gesetz, das die Verbindung einsitzender Terroristen zur Außenwelt unterbinden soll. Nur mit Hilfe der Union kam die Vorlage durchs Parlament.
FDP-Bundesgeschäftsführer Günter Verheugen sieht die Gefahr der Serie: »Jeder sagt doch jetzt: »Ach, schon wieder.«
Die Schuld am Bröckeln des Bundes versucht der kleine Partner soweit wie möglich von sich wegzuschieben. Genscher will alles vermeiden, was die FDP vor Mitgliedern und Wählern in den alten Ruf der Pendlerpartei bringen könnte; er möchte vielmehr als der Partner dastehen, an dem ein Bündnis nicht scheitert. Er braucht dieses Zeugnis für den Tag X« wenn der Wechsel zur Union fällig wird. Dann will er als Getriebener erscheinen, nicht als der Antreiber.
Deshalb auch hat Genscher seit Wochen keine Mühe gescheut, die freidemokratischen Fraktionslinken auf das Antiterror-Gesetz einzuschwören. In zahlreichen Einzelgesprächen versuchte er die Zaudernden davon zu überzeugen, die Liberalen seien beim Wähler, beim sozialdemokratischen Partner wie auch bei der Opposition im Wort: Während der Schleyer-Entführung hätten die Sozialliberalen versprochen, für wirkungsvollere Gesetze im Kampf gegen den Terror zu sorgen. Dieses Versprechen müsse eingelöst werden.
Zudem erinnerte er an den Alptraum der Freidemokraten: Wenn die FDP nicht geschlossen votiere und so die Regierungsmehrheit in Frage stelle, könne dies nur Neigungen in der SPD zur Großen Koalition mit den Unionschri-
* Otto Graf Lambsdorff, Hans Matthofer, Hans. Jochen VogeL, Werner Maihofer, Hans-Dietrich Genscher.
sten wecken. Fraktionschef Wolfgang Mischnick assistierte vor der Fraktion: »Ich warne zu glauben, die Gruppe derer, die auf breitester Basis die Probleme lösen will, habe abgenommen. Sie ist eher größer geworden.«
Genscher gelang bei den Seinen, was die SPD-Oberen vergebens versuchten -- ein einheitliches Ja zu dem Antiterror-Gesetz.
Noch Anfang der Woche schien es, als bringe die Regierung keine Mehrheit zusammen. Zum harten Kern der Nein-Sager zählten mindestens sechs SPD-Abgeordnete. Bis zum Donnerstag blieb es eine ungewisse Zitter-Partie, ob Fernreisende rechtzeitig zurückkehren, Kranke transportfähig und Abweichler noch umzudrehen seien.
Rainer Offergeld, gerade als neuer Chef des Entwicklungshilfe-Ministeriums vereidigt, war am Donnerstagmorgen darauf gefaßt, schon am Abend nach verlorener Abstimmung wieder zurücktreten zu müssen: »Vielleicht werde ich als Eintagsminister in die Geschichte eingehen.«
Mit ungewohntem Langmut versuchte Justizminister Hans-Jochen Vogel in stundenlangen Sitzungen, den Dissidenten Zweifel auszutreiben: Auch nach dem neuen Gesetz genüge eine anonyme Denunziation nicht, um einen Anwalt von der Verteidigung auszuschließen. Und die Polizei dürfe trotz erweiterter Befugnisse keineswegs bei einem Streik demonstrierende Arbeiter in einem Stadion, wie in Chile, zusammentreiben und dort zur Identitätskontrolle festhalten.
Am Ende verstand sich die SPD-Fiihrung sogar in fünf Punkten noch zu
freilich nur kosmetischen -- Retuschen. Gerhard Jahn, Parlamentarischer Geschäftsführer der Sozialdemokraten, räsonierte: »Eine Energieverschwendung, die wir uns eigentlich in der Politik nicht leisten können.«
Aus Jahn sprach das gesunde Volksvertreter-Empfinden. Die Fraktion hätte mit den Nein-Sagern am liebsten kurzen Prozeß gemacht.
Im linken Leverkusener Kreis forderten Genossen die in ihren Augen allzu konsequenten Gesinnungsfreunde auf, das Mandat niederzulegen. Und von rechts tönte es, »die sollte man rausschmeißen« (Arbeitsminister Herbert Ehrenberg). Kanalarbeiterchef Egon Franke höhnte verbittert: »Rausfeuern kann man die nicht. Man muß mit ihnen leben. Die fahren ja nicht einmal bei Glatteis mit dem Auto.«
Bilanz des Großeinsatzes: Einige ließen sich umstimmen, doch die Abgeordneten Manfred Coppik, Karl-Heinz Hansen, Dieter Lattmann und Erich Meinike blieben standhaft. Die Widerständler bilden, so fürchtet die SPD-Spitze, den harten Kern einer Gruppe, die lieber in die Opposition gehen will, als weiterhin sozialdemokratische Grundwerte der Koalitionsräson zu opfern. Er habe den Eindruck, erläuterte der SPD-Chef Brandt vor der Fraktion, »daß bei dem einen oder anderen Dinge mitschwingen, die nichts mit dem Gesetz zu tun haben«.
Die Koalitionsmanager rechnen denn auch bei nächster Gelegenheit mit neuen Kraftproben. Anlässe gibt es genug, das Bündnis weiter zu strapazieren.
Schon bahnt sich, geschürt von den Gewerkschaften, ein Konflikt über den gerade gefundenen Rentenkompromiß an.
Und einen anderen Streitpunkt sagte
SPD-Fraktionschef Herbert Wehner vor jungen Parteifreunden voraus. Wenn die FDP-Fraktion, wie geplant, auf Drängen Genschers in dieser
Woche für die Stationierung der Neutronenbombe in Europa votiere, werde offenkundig, daß die SPD-Fraktion sieh auch bei diesem Thema nicht zur Geschlossenheit durchringen könne.
Dabei gerät allzu leicht in Vergessenheit, daß die vielbeschworene Geschlossenheit nicht immer ein politischer Wert an sich ist, die neue Macht der Abweichler vielmehr manch weiteren Schritt in Richtung polizeistaatlicher Verhältnisse schon im Vorfeld verhindert: So zweifelhafte Vorhaben wie das Meldegesetz mit seinen die Intimsphäre berührenden Hotelkontrollen und die Legalisierung des gezielten Todesschusses mag die Regierung aus Unsicherheit über die Fraktionslinken inzwischen gar nicht mehr im Bundestag einbringen.
Auf der anderen Seite überträgt sich die Resignation der Bonner Führung schon auf die SPD/FDP-regierten Länder. Noch ist nicht ausgemacht, ob in Nordrhein-Westfalen nach einem Rücktritt des Ministerpräsidenten Heinz Kühn alle Freidemokraten ihre Stimmen für einen SPD-Nachfolger abgeben.
Undurchsichtig ist die Lage auch in Hessen. Eine große Gruppe der Liberalen will sich nicht auf die Fortsetzung der Koalition mit der SPD festlegen, um frei zu sein für einen Wechsel zur CDU. Innen-Staatssekretär Baum: »Die Hessenwahl ist der neuralgische Punkt dieses Jahres.«