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»Eine lange Nacht der Lügen«

Bestseller in Kanada, aufsehenerregende Neuerscheinung in der Bundesrepublik: In dem Buch »Der geplante Tod« behauptet ein kanadischer Autor, die USA hätten nach Kriegsende Hunderttausenden von deutschen Gefangenen bewußt Hilfe verweigert und damit deren Tod in Kauf genommen. Historiker reagieren skeptisch.
aus DER SPIEGEL 40/1989

Stundenlang stand er am Zaun des Lagers. Dort draußen lag sein Dorf fast zum Greifen nah, für ihn war es unerreichbar. Eines Morgens wurde der 17jährige Bursche tot am Fuße des Zaunes gefunden - offenbar erschossen beim Versuch, heim zur Mutter zu flüchten. Ein US-Projektil hatte ihm eine Gesichtshälfte weggeschmettert.

Seine deutschen Mitgefangenen mußten am toten Körper vorbeimarschieren. »Mörder, Mörder!« schleuderten sie dem amerikanischen Kommandanten entgegen - was böse Folgen hatte: Drei Tage lang kappte der Offizier die ohnehin schmale Essensration, etliche Menschen starben vor Hunger.

In Rheinberg am Niederrhein lagerten Häftlinge »ohne Obdach tagein, tagaus«, berichtete ein Augenzeuge. Das Bild war zum Erbarmen: »Amputierte schlitterten wie Amphibien durch den Matsch, durchnäßt und fröstelnd.« Viele überlebten die Tortur nicht.

Um sich gegen die Kälte zu schützen, schmiegten Männer sich in lange Erdlöcher, die sie mit bloßen Händen gegraben hatten - Bauch an Rücken, Knie an Kniekehle. Manche tranken den eigenen Urin, weil es nichts gab, andere »leckten den Boden in der Hoffnung, ein bißchen Feuchtigkeit zu bekommen«. Sie wurden krank - und krepierten.

Hitlers Krieg war längst zu Ende, aber nicht für alle.

»Nie«, notierte ein 50jähriger Feldwebel in sein Tagebuch aus grobem Verpackungspapier, habe er »den Siegern eine solche barbarische Art der Kriegsgefangenen-Behandlung zugetraut«. Wer sich über peinigenden Durst oder peitschenden Regen beschwerte, wurde obendrein ausgelacht: »Du hast keine Rechte.«

Fast sechs Jahre nach dem Überfall auf Polen, der mit 1,5 Millionen Soldaten begonnen hatte, verharrten rund 10 Millionen Deutsche in Kriegsgefangenschaft - weltweit verteilt auf mehr als 20 Staaten. Allein in amerikanischem Gewahrsam befanden sich 3,1 Millionen Menschen.

Diese Daten sind historisch einigermaßen gesichert, und bislang galten die Amerikaner den meisten Deutschen seit damals als Erlöser. Ein Buch des kanadischen Lektors und Journalisten James Bacque, 60, könnte diese Einschätzung ins Wanken bringen*.

In dem amerikanischen »Bestseller« (so das US-Nachrichtenmagazin Time), der diesen Monat in deutscher Sprache erscheint, behauptet Bacque aufgrund neuer Archivfunde, die US-Führung habe 1945 in deutschen Camps »furchtbare Verbrechen gegen die Menschlichkeit« begangen: *___Gefangene bekamen bewußt so wenig zu essen, daß sie ____sterben mußten, »obschon genügend Lebensmittel« zur ____Verfügung standen; *___die hygienischen und sanitären Bedingungen waren ____miserabel und führten schnell zu tödlichen Krankheiten; *___Hilfsorganisationen wie dem Roten Kreuz blieb der ____Zutritt verwehrt, eine internationale Kontrolle fehlte.

Der Autor schätzt, daß in amerikanischen und französischen Lagern, in die Washington Deutsche überstellen ließ, die Zahl der Toten »wahrscheinlich bei mehr als einer Million liegt«; die Behandlung der Verlierer in anderen verbündeten Ländern des Westens wie England und Kanada sei hingegen durchaus human gewesen.

Eine konkrete Ziffer, räumt Bacque ein, werde »immer umstritten sein«, weil Akten »vernichtet, geändert oder als geheim unter Verschluß gehalten worden« seien - »bis auf den heutigen Tag«. Die Geschichtsschreibung ist bisher, offiziellen amerikanischen Quellen folgend, von lediglich einigen zehntausend Opfern ausgegangen, der Vorwurf systematisch herbeigeführter Hungersnöte ist neu. Bacque will deshalb »nach einer langen Nacht der Lügen« diese »amerikanische Tragödie« aufrollen.

Dabei beginnt die Geschichte deutscher Kriegsgefangener in US-Obhut, der Prisoners Of War (POW), durchaus entspannt. Die ersten - nur 31 - POW waren im Mai 1942 auf dem amerikanischen Kontinent angekommen. Bereits vom Sommer 1943 an fielen den US-Truppen monatlich Tausende deutscher Landser in die Hände.

Angesichts der Gefangenenflut entstanden Lager, die nach einem Standardplan für jeweils 2000 bis 4000 Gefangene ausgelegt waren. Vom Speisesaal über Werkstatt und Kaufladen bis zum Sportplatz sahen sie den Ausbildungslagern der U.S. Army sehr ähnlich - bis auf die Stacheldrahtzäune und die Scheinwerfer.

Nicht wenigen Amerikanern erschienen die Lager zu fein für die gefangenen Gegner.

In Anspielung auf ein Pariser Luxus-Hotel und den Spitznamen der Deutschen bürgerte sich die Bezeichnung »The Fritz Ritz« für die Lager ein.

Nach und nach besetzten deutsche Kriegsgefangene frei gewordene Posten vor allem in der Landwirtschaft, aber auch in der Holz- und Fleischwarenindustrie, bei der Eisenbahn und selbst in den Schreibstuben der Army. Diese Männer, befand der amerikanische Historiker Arnold Krammer, »erfüllten eine lebenswichtige Rolle beim Ausgleich des akuten heimischen Mangels an Arbeitskräften«.

So unentbehrlich war »Fritz« mittlerweile gerade für die US-Farmer geworden, daß sie den längst zum Oberbefehlshaber der Alliierten Truppen in Europa ernannten General Dwight D. Eisenhower aufforderten, sofort weitere 150 000 Gefangene als Arbeitskräfte nach den USA in Marsch zu setzen. Amerikas höchster Offizier, später 34. Präsident der Vereinigten Staaten, zeigte wenig Neigung, denn mittlerweile war ihm die Problematik deutscher POW auf dem Kriegsschauplatz Europa zur Last geworden.

»Ein Jammer, daß wir nicht mehr umgebracht haben«, notierte er ins Postskriptum eines Briefes an General George C. Marshall. Eisenhower »haßte« die Deutschen, wie er seiner Frau Mamie schrieb. Bei einem Besuch des britischen Botschafters forderte er, alle Offiziere des deutschen Generalstabes sollten »ausgerottet« werden, auch alle Führer der Nazi-Partei vom Bürgermeister an aufwärts sowie alle Angehörigen der Gestapo.

Je weiter seine Truppen ins Innere des Hitler-Reiches eindrangen, desto schroffer wurde Eisenhowers Haltung den Deutschen gegenüber. Bei ihrem Vormarsch über den Rhein hinweg machten die US-Soldaten schaurige Entdeckungen, als sie, so der Passauer Zeitgeschichtler Winfried Becker, »auf die Spuren der letzten Morde der Gestapo und der SS« stießen.

Wo sie es konnten, ließen sie die Leichen exhumieren und neu bestatten - meist wurden die örtlichen Parteigenossen zu diesen Arbeiten herangezogen. Bald schämte sich Eisenhower, daß er »einen deutschen Namen« trug.

»Die Deutschen«, sagt der Passauer Becker, hätten folgerichtig »kaum erwarten« können, daß die Entdeckung der »zuletzt begangenen Scheußlichkeiten und die Greuel der Konzentrationslager ohne Rückwirkung auf das Verhalten der Alliierten ihnen gegenüber« blieben.

Und so kam es auch. Am 10. März 1945, gerade war mit Köln einer der wichtigsten Brückenköpfe genommen, regte Eisenhower bei den Combined Chiefs of Staff (CCS) schriftlich die »Schaffung einer neuen Klasse von Gefangenen« an. Immer noch galt Artikel 7 der Anlage zur Haager Landkriegsordnung, wonach Kriegsgefangene »in Beziehung auf Nahrung, Unterkunft und Kleidung auf demselben Fuße zu behandeln« seien wie die siegreichen Truppen; eine ähnliche Verordnung enthält auch die Genfer Konvention von 1929.

Eisenhower störte das nicht. Ihm erschien es angesichts der Versorgungsnotlage im Lande »nicht wünschenswert«, deutschen »Streitkräften Rationen zuzuteilen, die weit über das für die Zivilbevölkerung verfügbare Maß« hinausreichten; die andere Kategorie Kriegsgefangener wurde Disarmed Enemy Forces (DEF) genannt, entwaffnete Feindkräfte.

Es handelte sich um Soldaten, die - aus welchen Gründen auch immer - nicht die Menschlichkeit der völkerrechtlichen Vereinbarungen erfahren sollten oder durften, wobei das zum damaligen Zeitpunkt noch fiktive Datum einer bedingungslosen Kapitulation entscheidend fürs Wohl und Wehe war: vorher POW, nachher DEF.

Die Briten in der CCS lehnten Eisenhowers Vorschlag ab, der wählte daraufhin den Alleingang. Vor der Öffentlichkeit verbarg Eisenhower sein Vorhaben: Auf einer Pressekonferenz in Paris erklärte er, die »gesamte Geschichte der Vereinigten Staaten« bestehe »auch darin, einem besiegten Feind gegenüber großmütig zu sein: Wir beachten alle Gesetze der Genfer Konvention«.

Als im April und im Mai vor allem am Rhein entlang für Hunderttausende deutscher Soldaten die Prisoner of War Temporary Enclosures (PWTE) eingerichtet wurden, schaltete sich Eisenhower persönlich ein. Er ordnete an, die Gefangenen dürften weder »Obdach noch irgendeinen anderen Komfort« haben - was er nicht ironisch meinte.

Die Camps, ob in Remagen oder Sinzig, Rheinberg oder Andernach, waren lediglich mit Stacheldraht umzäunte Weiden und Wiesen, feste Unterkünfte gab es nicht. Ursprünglich sollte jeder Gefangene 16 Quadratmeter Platz haben, meist blieben nur 2 oder 3.

Manche Männer standen tage- und nächtelang apathisch in ihren Erdlöchern, unfähig, »um sich krank zu melden noch um zu essen«, wie ein US-Leutnant notierte - sofern es überhaupt etwas zu beißen oder zu trinken gab.

Autor Bacque hegt den Verdacht, die Amerikaner hätten »alles für die Gefangenen Notwendige absichtlich in Mangel gehalten«; darunter mußten vor allem jene Soldaten leiden, denen das Eisenhower-Verdikt den gängigen POW-Status einfach wegbefahl - allein zwischen dem 2. Juni und dem 28. Juli 1945 wurden fast 600 000 Soldaten in den »tödlichen DEF-Status überführt«.

Eisenhowers Truppe hingegen lebte im Überfluß. »Wir hatten Lebensmittel reichlich«, bemerkte ein hoher Offizier, »unser Problem bestand darin, alles zu kochen.« In den Akten der Quartiermeisterei fand Bacque die Bestätigung für den »gewaltigen Lebensmittelüberschuß« - in den Monaten April bis Juli besaß die Army einen ungenutzten Vorrat, der für 400 Tage gereicht hätte.

Auch Hilfe von außen wurde verwehrt. Das Rote Kreuz lagerte 13 Millionen Lebensmittelpakete, jedes einzelne hätte einen Menschen zwei Wochen lang mit täglich 1000 Kalorien versorgen können. Das Oberkommando wußte, ausweislich eines Protokolls, spätestens seit dem 13. Juni 1945 von den riesigen Vorräten - sie blieben eingebunkert.

Statt dessen nahm es in Kauf, daß ihm die Gefangenen in den Enclosures zu Tausenden umkamen. Nach internen Statistiken und Berichten starben bis zu 15 Prozent »eindeutig an Unterernährung und Flüssigkeitsmangel sowie an Erschöpfung«. Die anderen erlagen »Krankheiten«, schreibt Bacque, »die durch die elenden und schutzlos allen Witterungseinflüssen ausgesetzten Lebensbedingungen verursacht und zweifellos durch Aushungerung verschärft« worden seien.

Von Mai bis Mitte Juni registrierten Ärzte und »4000-Kalorien-Offiziere« (Bacque) entlang des Rheins eine Sterblichkeitsrate, die 80mal höher lag als normal, eine Zahl, die es »seit dem Mittelalter« nicht gegeben habe. Bacque: »Die medizinische Terminologie selbst reicht nicht mehr ganz aus angesichts dieser Katastrophe.«

Seinen Berechnungen zufolge kamen in den amerikanischen Lagern 793 239 Gefangene zu Tode, in französischen rund 167 000. »Other losses«, »sonstige Verluste«, hießen sie in der nüchternen Sprache der US-Kriegsstatistiker, Paris sprach von Menschen, die »perdus pour raisons diverses« seien, also »verloren aus verschiedenen Gründen«.

Amerikanische Wissenschaftler haben auf Bacques Buch skeptisch bis abwartend reagiert. »Kein Historiker könnte dieses Buch geschrieben haben«, kritisierte der Geschichtsprofessor Gabriel Kolko aus Toronto die Bacque-Methode, Daten aus nur bruchstückhaft erhaltenen Statistiken zu Gesamtzahlen hochzurechnen.

Der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler begrüßt gleichwohl das Erscheinen des Buches: Bacque solle »veröffentlichen, wo immer er will, und wir können über seine Quellen debattieren«. Das Magazin Time allerdings warf letzte Woche die Frage auf, ob die deutsche Geschichtswissenschaft zu dieser Debatte genug beitragen könne: Sie habe sich seit dem Kriege »mehr auf die Verfehlungen Deutschlands konzentriert als auf die seiner jetzigen Verbündeten«.

Autor Bacque spricht zu Recht von einer politischen Konzession. Den Amerikanern sei »verziehen« worden, »ohne daß sie auch nur angeklagt waren«.

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