»Eine lange Spur von Fragezeichen«
Seit über zehn Jahren sammelt Dr. Stephen H. Hanauer, leitender Sicherheitsbeamter bei der amerikanischen Atomüberwachungsbehörde NRC, in einem Sonderordner Kurzberichte von ernsten Störfällen und Sicherheitsmängeln in US-Kernkraftwerken -mittlerweile ist der Dokumentenstapel 30 Zentimeter hoch.
Auf einem Bericht aus dem Jahre 1973 über einen besonders krassen Konstruktionsfehler im Kraftwerk Wiscasset (US-Staat Maine) -- der zum gleichzeitigen Ausfall von vier Notsystemen hätte führen können -- schrieb Hanauer an den Rand: »Eines Tages werden wir alle aufwachen.«
Am Mittwoch vorletzter Woche, als sich in der Reaktorstation 2 des Three-Mile-Island-Atomkraftwerks nahe Harrisburg der bislang schwerste Zwischenfall in der Geschichte der zivilen Atomnutzung ereignete, schien der Zeitpunkt für das Erwachen gekommen.
Erst Mitte letzter Woche war einigermaßen sicher, daß die Ingenieure den atomaren Ausreißer wieder unter Kontrolle hatten, die ganz große nukleare Katastrophe gerade noch einmal vermieden worden war.
Erst zu diesem Zeitpunkt auch waren Untersuchungsbeamte der NRC in der Lage, den Ablauf des atomaren Dramas zu rekonstruieren: Konstruktionsfehler, »menschliches Versagen«, defekte Geräte und falsch anzeigende Instrumente hatten dazu beigetragen, daß buchstäblich jedes wichtige Sicherheitssystem des Harrisburg-Reaktors, einschließlich der 1,20 Meter dicken Betonumhüllung, überfordert wurde.
Der eigentliche Countdown für den Unfall hatte schon etwa zwei Wochen vor dem verhängnisvollen Mittwoch begonnen. Wie der für alle US-Kraftwerksreaktoren zuständige NRC-Direktor Darrell Eisenhut letzte Woche erläuterte, waren Mitte März am sogenannten Sekundärkreislauf des Reaktors Three Mile Island Wartungsarbeiten vorgenommen worden. Dabei hatten die Arbeiter die Ventile von drei Notpumpen nach der Überprüfung aus Versehen geschlossen gelassen.
Der Hinweis auf die geschlossenen Ventile blieb im Kontrollraum zwei Wochen lang unbeachtet, trotz der Bedienungsanweisung, daß sie nur bei nicht aktivem Reaktor in dieser Stellung hätten bleiben dürfen.
Als dann am Mittwoch vorletzter Woche vier Uhr morgens zwei Speisewasserpumpen versagten und damit die aus dem Reaktor kommende Hitze in den Dampferzeugern (siehe Graphik) nicht mehr abgenommen wurde, erhöhten sich innerhalb von 15 Sekunden Druck und Hitze im Reaktordruckgefäß. Eine Automatik schaltete auf das Notsystem für die Speisewasserzuführung -- aber nichts geschah, denn die Ventile waren zu.
Zu diesem Zeitpunkt schaltete sich der Reaktor automatisch ab und, gleichfalls automatisch, das Notkühlsystem für den Reaktorkern, letzte verfügbare Quelle für Kühlwasser. ein. Doch die beiden mit Hochdruck arbeitenden Pumpen, die Tonnen von Kühlwasser in den Reaktor drückten, wurden von den Technikern in der Warte, Craig Faust, 32, und Ed Frederick, 29 -- offenbar aufgrund einer falschen Druckanzeige -» wenige Minuten nach dem ersten Alarm von Hand abgeschaltet.
Zwar setzten die Techniker das Notkühlsystem vier Minuten später wieder in Gang und öffneten nunmehr auch die vergessenen Speisewasserpumpen, aber zu diesem Zeitpunkt waren offenbar einige der urangefüllten Brennstäbe im Reaktorkern bereits geplatzt oder geschmolzen.
In dem nun unter Überdruck stehenden Reaktor kam es zum »Blowdown": Aus den Sicherheitsventilen schoß das superheiße Wasser in einen dafür vorgesehenen Spezialtank. Doch als sich die Sicherheitsventile nicht wie vorgesehen wieder schlossen, wurde das Wasser aus dem überquellenden Tank in die Betonumhüllung des Reaktorgebäudes gedrückt -- 230 000 Liter bedeckten den Boden des zylindrischen Baus bis zu zweieinhalb Meter Höhe.
Ein »Konstruktionsfehler«, so Eisenhut, war schuld, daß schon zu diesem Zeitpunkt Radioaktivität aus dem Sicherheitsbehälter entweichen konnte.
Das hochradioaktiv verseuchte Wasser wurde -- anders, als es bei anderen Reaktortypen möglich wäre -- aus dem Reaktorgebäude durch eine Abwasserleitung in ein nicht luftdicht abgeschlossenes Nebengebäude geleitet. Von hier aus strömte wenig später radioaktiver Dampf ins Freie.
Nichts spiegelt deutlicher das Chaos jener Stunden als die meterlangen bedruckten Papierstreifen des Kontrollraum-Computers. Der Datenschreiber ist so programmiert, daß er nicht nur alle Betriebsdaten und Eingriffe in den Betriebsablauf aufzeichnet; er markiert auch jedesmal ein Fragezeichen, wenn etwa Temperaturen die Grenzen der Anzeigegeräte über- oder unterschreiten oder wenn Ventile, Pumpen und Filter versagen. Den ganzen fraglichen Mittwoch über bis weit in die Nacht zum Donnerstag zieht sich auf dem Computer-Ausdruck, wie Eisenhut es formulierte, »eine lange Spur von Fragezeichen«.
Tatsächlich hatten die Bedienungsmannschaften erst in den frühen Abendstunden des Unglückstages eine Art Patt-Situation mit dem Reaktor erreicht: Sie hatten genügend Wasser in das Druckgefäß gepumpt, um ein weiteres Erhitzen des Reaktorkerns zu verhindern. Aber die Temperatur der rund 100 Tonnen Uran abzusenken vermochten sie andererseits auch nicht. Irgendein geheimnisvoller Faktor schien jetzt das Kühlwasser daran zu hindern. die Brennelemente zu erreichen.
Die Vertreter der Metropolitan Edison, Bauherren und Betreiber des Reaktors, blieben auch in dieser Situation der Devise aller Atommanager treu, Risiken stets herunterzuspielen. Als am Mittwochmittag noch immer Tausende Liter hochradioaktiven Wassers vom Druckgefäß in die Halle zischten (insgesamt lief eine Million Liter aus), erklärte Edison-Vizepräsident John G. Herbein wartenden Reportern: »Ich würde dies keinen ernsthaften Unfall nennen.«
Treffender umschrieb die tatsächliche Situation des Reaktors und seiner Mannschaft Professor Henry Kendall vom Massachusetts Institute of Technology, als er sagte: »Die sind wie Kinder, die im Wald spielen -- auf unbekanntem Gelände allein mit einem Reaktor, dessen Steuer- und Kontrollinstrumente nie dazu gedacht waren, mit dieser Situation fertig zu werden.«
Ein Einsatz von Menschen und Computern, der an das Krisenmanagement beim mißglückten Mondflug Apollo 13 erinnerte, war denn auch nötig, um mit dem rätselhaften Etwas fertig zu werden, das die Abkühlung des Reaktorkerns verhinderte: der 30 Kubikmeter großen Gasblase, die sieh in der Kuppel des Reaktordruckgefäßes gebildet hatte.
In keinem Unfall-»Szenario« war je auch nur die Möglichkeit einer hochexplosiven Gaswolke im Druckgefäß erwogen worden. Nur mit Hilfe von indirekten Schallmessungen konnten die Techniker nun versuchen, Lage und Größe des Gemischs zu bestimmen.
Am Idaho National Engineering Laboratory suchte eine Gruppe von Wissenschaftlern an einem maßstabsgetreuen Modell des gefährdeten Reaktors rund um die Uhr nach Verfahren, die Wasserstoffblase aufzulösen. Ingenieure und Techniker der Firma Babcock & Wilcox pendelten zwischen dem Entwurfsbüro im Schatten der Blue Ridge Mountains von Virginia und der Unfallstelle. Dutzende von Lastwagen karrten Bleiziegel nach Harrisburg -- als Schutzschild für die Mannschaften, die mit Hilfe von »Rekombinatoren« das Gas im Kühlwasser binden sollten. Computerbatterien in den Atomforschungszentren schließlich versuchten dem Problem theoretisch beizukommen.
Als die Blase dann am Dienstag letzter Woche praktisch verschwunden war, war das beinahe so rätselhaft wie ihre Entstehung (für die es bislang auch nur Hypothesen gibt).,, Es war ein bißchen Planung und ein bißchen Glück«, erläuterte NRC-Direktor Harold R. Denton. Pech nur, daß am vorigen Freitag, als die unmittelbare Gefahr beseitigt schien, noch eine radinaktive Wolke ausströmen konnte -- die Pumpen hatten versagt.
Genauen Aufschluß werden die Wissenschaftler erst erhalten, wenn sie frühestens in einigen Monaten den Reaktorsicherheitsbehälter betreten können. Erst dann dürfte die Radioaktivität so weit abgeklungen sein, daß an eine »Dekontamination«, eine langwierige Entgiftung, gedacht werden kann.
Ende letzter Woche betrug die Strahlungsintensität innerhalb der Betonkuppel 30 000 rem* -- das 60- bis 70fache der für den Menschen tödlichen Dosis. Nicht einmal der Beton vermochte
* rem: Abkürzung für »Roentgen equivalent man«
Maßeinheit für die relative biologische Wirksamkeit von Strahlung.
die Strahlung ganz einzuschließen. An der Außenfläche des Zylinders betrug sie noch fünf millirem.
Ob der angeschlagene Reaktor je wieder Dienst tun kann oder ob die Reparaturkosten etwa höher liegen als der Preis eines neuen Atommeilers, wird erst festzustellen sein, wenn Fachleute das Reaktordruckgefäß inspizieren. Dann wird sich zeigen, ob sich die offensichtlich überhastete Inbetriebnahme des Reaktors am 30. Dezember letzten Jahres -- die der Metropolitan Edison eine Steuerermäßigung von 3,3 Millionen Dollar für 1978 einbrachte -- tatsächlich gelohnt hat.
Auf ihre Weise trugen freilich auch die deutschen Atomkraftmanager dazu bei, den Glaubwürdigkeitskredit der Branche schmelzen zu lassen wie einen überhitzten Reaktorkern.
Schon in der »Heute«-Sendung des ZDF um 21 Uhr am Montag letzter Woche etwa wußte Dr. Wolfgang Braun, Sprecher der deutschen Reaktorbaufirma KWU, aufgrund detaillierter »Kenntnis vom Ablauf des Störfalls« bei Harrisburg, daß Ähnliches bei deutschen Atomkraftwerken ausgeschlossen sei.
Wie wenig Dr. Braun zu diesem Zeitpunkt tatsächlich wußte, wird aus einem Fernschreiben deutlich, das 36 Minuten vor der »Heute«-Sendung bei der KWU in Erlangen abgesetzt wurde. Absender: Dr. Braun, Adressat des »dringend«-Fernschreibens: Bundesforschungsminister Hauff. Erster Absatz des Fernschreibens: zu ihrer information möchten wir sie über ursachen und ablauf des störfalles unterrichten entsprechend dem stand unserer kenntnisse am 02. 04. 79 um 08.00 uhr mez. da unsere informationen aus quellen unterschiedlicher zuverlässigkeit stammen und zum Teil widersprüchlich sind, mußten wir informationslücken und widersprüche durch eigene vermutungen überbrücken. unsere darstellung ist deshalb nicht verbindlich und zur veröffentlichung nicht geeignet.
Exakt so wie im Falle Three Mile Island könnte sich bei deutschen Druckwasserreaktoren ein Störfall sicher nicht wiederholen: Bestimmte Notkühlanlagen etwa, die beim Harrisburg-Reaktor nur doppelt abgesichert waren, sind bei deutschen Reaktoren drei- oder gar vierfach ausgelegt.
Weniger überzeugend ist aber schon das Argument der KWU-Manager, daß von Hand abgestellte Noteinspeisungen in deutschen Reaktoren bei erneutem Absinken des Wasserpegels »automatisch« wieder in Betrieb gehen. Schließlich war es bei dem Reaktor-Störfall in Brunsbüttel vorgekommen, daß eine automatische Abschaltvorrichtung »überbrückt« wurde und so der Reaktor trotz eines Lecks im radioaktiven Kreislauf noch stundenlang weiterlief.
Wie nach jedem schweren Störfall werden auch diesmal Reaktoren gleicher oder ähnlicher Bauart mit neuen Kontrollinstrumenten und Sicherheitseinrichtungen ausgerüstet werden. Aber ob die Sicherheit von Leichtwasserreaktoren je zu vertretbaren Kosten bis zu der Grenze vorangetrieben werden kann, die ihren Einsatz auch im Umfeld von Millionen-Städten rechtfertigen würde, ist nach den Erfahrungen der letzten Jahre mehr als zweifelhaft.
Daß dieser Reaktortyp dennoch zum verbreitetsten atomaren Stromerzeuger in der westlichen Welt wurde, liegt in der Historie der Atomenergie begründet -- mit ihren Wurzeln in den militärischen Entwicklungen der 40er und 50er Jahre.
Nur eine Generation ist es her, daß Menschen erstmals den Umgang mit dem urgewaltigen, unauslöschlichen Feuer Kernkraft versuchten. Es war der Nachmittag des 2. Dezember 1942.
In der windigen Stadt Chicago trieb Schnee über das Football-Stadion der Universität. Drinnen, in einem umgebauten Squash-Spielraum unter der Westtribüne, waren 30 Wissenschaftler um einen Meiler aus Uranbrocken und Graphitziegeln versammelt.
Die 23jährige Doktorandin Leona Marshall Libby, einzige Frau in der Runde, verfolgte an ihrem Meßgerät den Fluß von Neutronen -- jener Teilchen von Atomkernen, die beim spontanen radioaktiven Zerfall frei werden und nun, gebremst vom Graphit, andere Uran-Atome zur Spaltung bringen sollten.
Gegen drei Uhr begann der italoamerikanische Physiker Enrico Fermi zu grinsen und verkündete: »Die Kurve ist exponentiell.« Sein Kollege Eugene Wigner entkorkte eine lange für diesen Moment aufgesparte Flasche Chianti: Die erste kontrollierte Kettenreaktion war in Gang gekommen.
Zweieinhalb Jahre später erinnerte sich der feingeistige Bombenbauer J. Robert Oppenheimer an einen heiligen Hindu-Text. Es schien ihm, wie »wenn die Strahlen von tausend Sonnen auf einmal in den Himmel schießen«, als über der Wüste von Alamogordo der erste nukleare Sprengsatz detonierte; den Rest der Welt, bis dahin ahnungslos, erschütterten erst die Wolkenpilze von Hiroshima und Nagasaki.
Doch gleich nach Kriegsende versprach Oppenheimer eine neue Energie für friedliche Entwicklung. »In naher Zukunft«, erklärte er in einer amerikanischen Rundfunksendung, würden Atomreaktoren billige Elektrizität die Menge liefern -- Antrieb unabsehbaren Fortschritts.
Dieses Ziel beflügelte die Phantasie der Energieplaner. Erhebliche Forschungskapazitäten fast aller Industrieländer wurden darauf ausgerichtet, global rund 500 Milliarden Mark dafür aufgewendet.
Dutzende physikalisch und technisch interessanter Möglichkeiten, die bei der Kernspaltung frei werdende Energie zu nutzen, schienen zur Verfügung zu stehen. In der ersten Phase des Atomzeitalters entwarfen die Forscher ganze Generationenfolgen von Meilern nicht nur immer größere, sondern auch zuverlässigere und vielseitig einsetzbare, etwa für Fernheizung, Meerwasser-Entsalzung und neuartige chemische Prozesse.
Doch diese Visionen sind, selbst nach mehr als drei Jahrzehnten, nicht annähernd Wirklichkeit geworden. Von den hoffnungsvollen Plänen haben die USA und in ihrem Gefolge ein Großteil Westeuropas und Japan nur einen realisiert -- den zivilen Ausbau erprobter militärischer Technologie: > Den Weltmarkt beherrschen nun die sogenannten Leichtwasserreaktoren, deren Uranladung von normalem Wasser als Neutronenmoderator und Kühlmittel umströmt wird; bewährt hatten sich ihre Urmodelle beim Antrieb amerikanischer U-Boote.
* Betrieben werden diese Reaktoren mit Brennstoff, dessen Anteil an spaltbarem Uran künstlich erhöht wird -- zumeist noch nach jenem Verfahren, das die USA zur Gewinnung von Bombenmaterial entwickelt hatten.
Für die Aufarbeitung abgebrannten Kernmaterials schließlich nutzt die westdeutsche Industrie (einstweilen noch in Versuchsanlagen) denselben Prozeß, mit dem die Amerikaner das Plutonium für ihre strategischen Waffen aus bestrahltem Reaktorbrennstoff extrahieren.
Erst letzte Woche rühmte sich das Kernforschungszentrum Karlsruhe, dem Institut für Heiße Chemie sei es gelungen, sogar plutoniumhaltigen Brennstoff (mit dem seit Jahren das Kernkraftwerk Obrigheim betrieben wird) erneut aufzubereiten. In großem Maßstab soll diese Technologie, die US-Präsident Carter aus kommerzieller Anwendung zu verbannen trachtet, im geplanten »Entsorgungspark« Gorleben eingesetzt werden.
Mittlerweile haben 440 von den 569 fertigen und geplanten Kernkraftwerken der Erde Leichtwasserreaktoren. Dieser Typ, im Prinzip ein riesiger Topf mit eingebautem Tauchsieder, ist inzwischen auch bundesdeutscher Standard.
Kein Zweifel besteht unter den Fachleuten, daß Meiler dieser Baulinie keineswegs einen optimalen Wirkungsgrad haben. Nur etwa 30 Prozent der eingesetzten Energie lassen sich damit in elektrischen Strom umwandeln; jedes herkömmliche Kohlekraftwerk leistet da mehr.
Sie zeichnen sich weder durch besonders sparsamen Verbrauch von Spaltmaterial aus noch durch höchste systemeigene Sicherheit. Niemand käme auf den Gedanken, eine solche Anlage in Hamburg-Langenhorn oder München-Bogenhausen zu errichten oder mitten im Ruhrrevier.
Insbesondere stellt sich nun als bedrohliches Problem von internationalem. Ausmaß heraus, was Forscher und Firmen lange als Vorteil darzustellen suchten: Die bisherige zivile Nukleartechnik macht so recht erst Sinn, wenn sie durch plutoniumerzeugende Schnelle Brüter -- die beim Betrieb größere Mengen neuen Spaltmaterials erzeugen sollen, sich aber noch in langwieriger, schwieriger und teurer Entwicklung befinden -- ergänzt wird.
Die angestrebte Plutonium-Wirtschaft aber, die vielen Staaten, Gruppen und Einzelpersonen den Zugriff auf atomare Waffentechnik erleichtern würde, macht nicht erst US-Präsident Carter Sorge. »Viele Fehler« seien gemacht worden, erklärte schon 1976 Fred C. Iklé, damals Chef der amerikanischen Arms Control and Disarmament Agency.
»Wir können viele Gabelungen auf dem Weg bisher, viele Wendepunkte sehen, wo wir eine andere technologische Richtung hätten einschlagen sollen«, erläuterte der Abrüstungsfachmann. »Wir hätten einen Kurs nehmen können, der die Risiken nuklearer Proliferation drastisch verringert hätte, ohne (daß die Wirtschaftlichkeit der Leistungsreaktoren gemindert worden wäre.
Neuerungen hei der Brennstoff-Herstellung und andersartige Reaktoren, so wissen die Physiker, könnten nahezu die Hälfte der gegenwärtig eingesetzten Uranmengen einsparen (SPIEGEL 13/1979). Damit würde es sich womöglich erübrigen, aus bestrahlten Brennelementen Uran und Plutonium zurückzugewinnen; außerdem sind Aufbereitungsverfahren bekannt, bei denen Plutonium nicht mehr in waffentauglicher Form anfällt.
Versäumt wurde auch, frühzeitig Konzepte größtmöglicher Sicherheit der Anlagen selbst zu entwickeln. Die US-Atomenergiekommission zum Beispiel hatte bereits 1962 in einem Report an Präsident Kennedy vorgeschlagen, zum Schutz der Bevölkerung vor Atomkatastrophen wie zum Schutz der Kraftwerke vor FIugzeugabstürzen, vor Sabotage, Terroranschlägen und Kriegseinwirkungen könnten die Reaktoren unterirdisch installiert werden.
Erst neuerdings werden solche Überlegungen aufgegriffen, nachdem Riesenmeiler in immer dichterer Nachbarschaft zu Bevölkerungszentren aufwuchsen. Das Bundesinnenministerium etwa leitete 1974 eine Studie darüber ein.
Technisch sei solcher Sicherheits-Einschluß möglich, erklärten inzwischen Tiefbau-Fachleute. Den zusätzlichen Aufwand schätzen Wissenschaftler der Kernforschungsanlage Jülich auf 15 his 19 Prozent der Baukosten eines Kernkraftwerks. Folgerungen sind aber noch nicht gezogen worden.
Inzwischen fragen viele Experten nicht mehr, ob, sondern wie Euphorie und trügerische Wachstumsschübe diese riskante einseitige Entwicklung begünstigten.,, Wie der nukleare Traum verwehte«, so untertitelten nun etwa der amerikanische Management-Dozent Irvin C. Bupp und der französische Ingenieur und Physiker Jean-Claude Derian einen kritischen Rückblick*: Der neue Wirtschaftszweig Atomindustrie etablierte sich nach ihrem Urteil nicht einmal auf der Grundlage verläßlicher ökonomischer Analysen.
Bürgern, die ihren Haushalt einigermaßen ordentlich bewirtschaften, mögen solche Thesen abwegig vorkommen. Wie aber ein Weltkonzern sich mit unbedachtem Atomkraft-Engagement an den Rand des Ruins bringen kann, lehrt das westdeutsche Beispiel AEG.
Fehlkalkulationen, technische Rückschläge, Bauverzögerungen und Reaktorpannen häuften sich derart, daß der Konzern schließlich wieder aus dem Atomgeschäft ausstieg. Allein die Auflösung der zeitweiligen Partnerschaft mit dem Konkurrenten Siemens kostete 1,215 Milliarden Mark.
Die Krisen der Atomindustrie, konstatierten Bupp und Derian, wurzeln in lange durchgehaltenem Selbstbetrug: »Wissenschaftler mit intellektuellem Einsatz in den Erfolg der Kernkraft, Politiker mit politischem, Bürokraten mit organisatorischem und Geschäftsleute mit kommerziellem Einsatz bestärkten einander.«
Vor allem sollte die Atomkraft nicht nur volkswirtschaftlichen Zwecken,
* Irvin C. Bupp, ]ean-Claude Derian: »Light water. How the Nuclear Dream Dissolved Basic Books, New York; 256 Seiten; zehn Dollar.
sondern -- so Bupp und Derian -- übergeordneten Zielen dienen: »dem Schutz amerikanischen Unternehmertums gegen »sozialistische' Unterwanderung, der politischen Einigung Westeuropas, der wirtschaftlichen Entwicklung der Dritten Welt und, natürlich, als Antwort auf die Gier der Opec«.
Die Erdölkrise von 1973 war ein Segen für die von davonlaufenden Bau- und Brennstoffpreisen, schärferen Sicherheitsauflagen, zögernder Genehmigung und Bürgerprotest geplagte Kernindustrie. Da schien das unvergleichlich hohe Gefährdungspotential von Nuklearanlagen wieder leichter hinnehmbar. Da übernahmen staatliche Zentren weitere Vorleistungen und Nachholarbeiten für Strahlenschutz, Betriebssicherheit und die Behandlung des radioaktiven Mülls; allein die westdeutschen Atomprogramme kosteten bislang mehr als 20 Milliarden Mark.
Und wenn es gleichwohl Probleme gab, verließen sich die Behörden auf eingeübte Deklamation. Was den Verantwortlichen bis vor kurzem als vermeintliche Fachinformation zuging, stammte häufig genug -- wie Bupp und Derian spotten -- aus jenem atomtechnischen »Katechismus, dessen Hauptfunktion es war, Ungläubige zu beschwatzen und den Glauben der Überzeugten zu festigen«.
Was gar die Schreck-Chiffre »Super-Gau« an grausiger Realität für die Menschen im Umfeld eines Kernkraftwerks bezeichnet, blieb so bislang wohl auch selbst in der Vorstellungswelt der Experten ziemlich verschwommen. Erst recht mußten Laien im dunkeln tappen beim Versuch, sich die Katastrophe auszumalen -- meist hatten sie bis zur letzten Woche noch am ehesten die Untergangsbilder von Hiroshima und Nagasaki vor Augen.
Die aber trügen. Denn über Harrisburg wäre im Fall eines »Super-Gau« kein Explosionsblitz aufgezuckt, kein Rauchpilz donnernd emporgeschossen. Kein Feuersturm hätte jählings ganze Stadtviertel entvölkert und in qualmende Trümmerwüsten verwandelt.
Vielmehr, die zivile Variante des atomaren Endspiels hätte kaum sichtbar und fast lautlos begonnen: Der geschmolzene, mehr als 3000 Grad Celsius heiße Reaktorkern hätte sich durch das Fundament seines geborstenen Stahlbehälters gefressen und wäre, rund 100 Tonnen schwer, langsam in die Tiefe gesunken.
Bei seiner Berührung mit dem Grundwasser wäre über Three Mile Island eine giftige Dampfsäule aufgestiegen, die der Wind allmählich am Himmel von Pennsylvania verteilt hätte.
Harrisburg, soviel scheint sicher, hätte den »Super-Gau« äußerlich vollkommen unversehrt überstanden -- wäre aber fortan zur Geisterstadt geworden, strahlenverseucht und auf lange Zeit unbewohnbar. Und wer immer sich während des Reaktor-Holocaust im Umkreis des Katastrophenorts aufgehalten hätte, müßte nun für Leib und Leben ebenso schlimme Folgen befürchten wie die Atombombenopfer von Hiroshima und Nagasaki.
Vielleicht sogar schlimmere, jedenfalls was die Schäden durch radioaktive Strahlen betrifft. Mit den Dämpfen und Gasschwaden nämlich, die aus dem Lavaschlund eines hinabgeschmolzenen Reaktorkerns hochsteigen, gelangen vermutlich weit größere Mengen radioaktiver Partikel ins Freie als bei der Explosion eines Nuklearsprengkörpers vom Typ der Hiroshima-Bombe.
Ein 1300-Megawatt-Atomkraftwerk, so haben Wissenschaftler ermittelt, birgt nach drei Jahren Betriebszeit so viel Radioaktivität wie rund 4000 Hiroshima-Bomben; der havarierte Reaktor in Harrisburg -- Betriebsdauer nur drei Monate -- enthält laut Schätzungen ein Strahlungspotential, das 1700 Hiroshima-Bomben entspricht.
Würde auch nur ein Teil der mörderischen Reaktorfüllung freigesetzt, so wäre, einem Geheimbericht der US-Atomenergiekommission (AEC) zufolge, mit einem »Katastrophengebiet« zu rechnen, das -- Ironie der Ereignisse -- »der Fläche des Staates Pennsylvania gleicht«.
Ebendort, in der Pennsylvania-Hauptstadt Harrisburg, drohte letzte Woche die Probe auf das AEC-Exempel: Zehntausende wären im Ernstfall binnen weniger Stunden Opfer einer akuten Strahlenkrankheit geworden.
Für alle, die eine Strahlendosis von mehr als 700 rem erlitten hätten, wäre jeder Rettungsversuch zu spät gekommen. Die Betroffenen im inneren Kreis der Strahlenhölle wären nach spätestens zwei Wochen unter Dauerblutungen aus Mund und Nase, Erbrechen, Durchfall, Fieberkrämpfen und rapidem Gewichtsverlust sämtlich gestorben.
In der zweiten Strahlenzone -- etwa 400 rem -- hätten rund 50 Prozent der Opfer überlebt, freilich als Schwerkranke: Die Symptome, die vollständig erst nach zwei Wochen aufgetreten wären, sind vielfältig -- Haarausfall, Entzündungen von Mund und Rachenhöhle, plötzliche Blutungen, Hinfälligkeit.
Noch bei einer Strahlendosis von rund 100 rem ist mit einem ähnlichen, wenn auch abgeschwächten Krankheitsbild zu rechnen, wobei das akute Stadium ungefähr drei Monate dauert; alle Überlebenden bleiben fortan von gravierenden Spätfolgen bedroht.
Allerdings, die Strahlung, die bei dem Zwischenfall auf Three Mile Island frei wurde, liegt weit unterhalb derartiger Werte; auch in der Nähe des Kraftwerks, so hieß es offiziell, bleibe die zwar leicht erhöhte Radioaktivität deutlich diesseits der Risikoschwelle.
Doch der amerikanische Strahlenphysiker Ernest Sternglass, mit dem Geigerzähler vor Ort, widersprach letzte Woche den Beruhigungsversuchen. Seine Meßergebnisse reichten ihm für die Vorhersage, daß demnächst die Zahl der Leukämiefälle bei Kindern im Raum Harrisburg um fünf bis 20 Prozent steigen werde.
Sternglass gehört, wie etwa auch der US-Biologe und Nobelpreisträger George Wald, zu der wachsenden Gruppe von Wissenschaftlern, die bezüglich der Strahlenwirkung eine Gefahrenschwelle schlechthin bestreiten. Wald: »Jede Dosis ist eine Überdosis, es gibt keine Schwelle -- ein bißchen Strahlung verursacht ein bißchen Schaden, eine größere Menge mehr.« Daß jegliche radioaktive Strahlung -- nach dem griechischen Alphabet als Alpha-, Beta- und Gammastrahlung klassifiziert -- in hoher Dosierung Krebs auslösen kann, ist seit je unumstritten. Da aber alle irdischen Lebewesen zeitlebens einer geringen »natürlichen Grundstrahlung« ausgesetzt sind, nahmen die meisten Wissenschaftler bis vor kurzem an, daß eine gewisse niedrige Strahlenbelastung harmlos sei.
Erst vor einigen Jahren, als die Ära der Kernkraftwerke schon begonnen hatte, wurde das Schwellen-Problem zum erbittert umkämpften Streitpunkt. Denn nun plötzlich berührte die vorher eher akademische Festlegung einer Risiko-Grenze etwa die Sicherheitsbestimmungen für Atomstromfabriken oder die Frage, wieviel Strahlung den Arbeitnehmern in den Kraftwerken zuzumuten sei.
Mittlerweile haben zahlreiche Untersuchungen den Verdacht erhärtet, daß auch geringe, einst für harmlos gehaltene Mengen Radioaktivität auf lange Sicht verhängnisvolle Gesundheitsschäden verursachen können. So liegt beispielsweise bei einer Gruppe von britischen Arthritis-Patienten, die vor Jahren mit einer Röntgen-Kur behandelt worden waren, die Krebsrate heute beträchtlich höher als bei der übrigen Bevölkerung.
Zu ähnlichen Erkenntnissen kamen Wissenschaftler bei der Analyse von insgesamt 1450 Todesfällen unter amerikanischen Werftarbeitern, die seit 1959 Atom-U-Boote der US-Marine gewartet und dabei teilweise immer wieder mit radioaktivem Material umzugehen hatten. In der Gruppe der radioaktiv Gefährdeten, so zeigte sich, war Leukämie sechsmal so häufig aufgetreten wie beim Bevölkerungsdurchschnitt; andere Krebsarten wurden doppelt so häufig festgestellt.
Immer mehr Leukämiefälle wurden in den letzten Jahren auch bei ehemaligen US-Infanteristen registriert, die vor mehr als zwei Jahrzehnten zu Manövern bei Atombomben-Tests abkommandiert waren. Und auffällig erscheint den Forschern auch eine Serie von Krebserkrankungen in manchen Regionen der US-Staaten Arizona und Utah, wo in den fünfziger Jahren mitunter radioaktiver Fallout niederging -- herübergeweht vom Atombomben-Testgelände im Nachbarstaat Nevada.
Die Verdachtsliste wird immer länger: Sie verzeichnet vermehrte Lungenkrebsfälle bei Arbeitern im Uranbergbau, aber auch bei den Beschäftigten in Amerikas größter Plutoniumfabrik in Hanford -- dennoch markiert sie erst den Beginn einer Forschungsarbeit, die sich mit den Langzeitwirkungen radioaktiver Strahlung befaßt.
Zwar werden die von Wissenschaftlern und Behörden festgelegten Risikoschwellen neuerdings allenthalben herabgesetzt. Doch andererseits kommen immer mehr Menschen mit der unsichtbaren Gefahr in Berührung. Und seit Ende vorletzter Woche ist auch der »Super-Gau« mit seinen noch unkalkulierbaren Folgen nicht mehr nur ein Hirngespinst technikfeindlicher Pessimisten.
Daß die Furcht vor dem Versagen der Super-Technik -- wie einst nach dem Untergang der »Titanic« -- nun real geworden ist, zeigte sich letzte Woche auch in der Bundesrepublik; in Baden-Württemberg wurden an die Anrainer der Kernkraftwerke einige Millionen Jod-Tabletten ausgeteilt: Sie sollen im Katastrophenfall verhindern, daß sich in der Schilddrüse von Strahlenopfern radioaktives Jod einnistet.
Was sonst noch gegen den atomaren Massentod schützen könnte, blieb weitgehend im ungewissen. Für eine Evakuierung ist offenkundig nirgendwo vorgesorgt, sie würde wohl auch, zumindest in den Ballungsgebieten der Republik, nur zu einer Anschlußkatastrophe führen.
Die Ärzteschaft, so haben »Super-Gau«-Simulationen etwa in Süddeutschland unlängst bewiesen, ist für die Behandlung von Strahlenopfern gleichfalls nur dürftig gerüstet. Dennoch verbreiten ihre Sprecher Zuversicht: »Wir leben gefährlich«, so versicherte der Karlsruher Strahlenbiologe Dr. Vladimir Volf, »aber wir sind auch in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen.«
Mit Kochsalz-Spülungen der Lungenflügel, einer Reinigung von Magen und Darm sowie allerlei Diätmaßnahmen will Exil-Tscheche Volf die »Radiotoxizität« im Organismus strahlenverseuchter Patienten bekämpfen -- kein Hoffnungsschimmer bei einem möglichen Massenunglück, wenn vermutlich Tausende eine derart umsichtige Behandlung nötig hätten.
Und gewiß auch kein Heilmittel gegen das vielfältige, fortdauernde Leiden der Überlebenden -- gegen Verstörung, Psychosen, gesteigerte Krebsangst oder die Furcht vor mißgebildetem Nachwuchs.
In Harrisburg, das von dem atomaren Unheil gleichsam nur gestreift wurde, sind die Wartezimmer der Psychiater seit einer Woche überfüllt; die Besucher klagen über Spannungsgefühle, Angstzustände oder unklare Schmerzen im Magen oder Rücken.
Andere erwehren sich ihrer Angst durch Waffenkäufe; Revolver und Gewehre sind in Harrisburg ausverkauft. »Die Leute«, meint ein Händler, »können die Strahlen weder sehen noch begreifen, und so richtet sich ihre Furcht auf Dinge, die sie verstehen, auf Plünderer oder Einbrecher.«
Das alles aber, so rechtfertigte sich die Kraftwerksfirma Metropolitan Edison, könne dennoch nicht als »Katastrophe« gelten; schließlich sei bei dem Reaktorzwischenfall »kein einziges Menschenleben verlorengegangen«.
»Kann es nicht auch eine Katastrophe sein«, fragte bitter eine Lokalzeitung in Harrisburg, »wenn verschüchterte Kinder, zu jung um zu begreifen, in überfüllte, unwirtliche Evakuierungszentren gebracht werden und wenn Menschen sich genötigt sehen, fluchtartig ihre Häuser zu verlassen, in denen sie ihr ganzes Leben verbracht haben?«
»Und wenn in zehn, 20 Jahren viele von uns mit Krebs geschlagen werden, wird uns dann eine Katastrophe heimgesucht haben?«