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»Eine Lehre, die sie nicht vergessen«

Nach den Gefechten am Ussuri verstärkte die Sowjet-Union 1969 ihren Truppenaufmarsch an der chinesischen Grenze dramatisch. Aber schlug sie den USA auch vor, gemeinsam einen Atomkrieg gegen China zu führen, und ließ sie sich nur von Präsident Nixon davon abbringen? Das behauptet Nixons Ex-Stabschef Haldeman.
aus DER SPIEGEL 8/1978

Ende 1969: Diplomaten-Party bei Jugoslawen in Warschau. Unter den Gästen: der chinesische Geschäftsträger Lei Jang und Amerikas Botschafter Walter Stoessel.

Monatelang waren sich die Repräsentanten der beiden Großmächte geflissentlich aus dem Wege gegangen, hatte es keinerlei Kontakt zwischen Amerikanern und Chinesen gegeben. Diesmal jedoch steuerte Stoessel direkt auf den Chinesen zu und versuchte, ihn anzusprechen. Vergebens. Lei Jang wandte sich brüsk ab und verließ die Party.

Doch nun geschah Ungewöhnliches: Der Amerikaner hastete hinter dem Chinesen her und erwischte ihn schließlich am Fuß der Treppe: Seine Regierung, so offenbarte er Lei Jang, schlage die sofortige Wiederaufnahme der seit Jahren eingefrorenen amerikanisch-chinesischen Botschafter-Gespräche in Warschau vor.

Zur selben Zeit schickte der Geheimdienst der amerikanischen Luftwaffe eine unverschlüsselte Meldung in den Äther. Inhalt: Ein sowjetischer Atomschlag gegen China werde automatisch auch den Tod Tausender von Russen in sibirischen Städten zur Folge haben.

Sinn der amerikanischen Doppelaktion: Die Chinesen sollten erkennen, daß Washington keineswegs in feindseliger Haltung verharre; die Sowjets sollten lernen, daß die USA einen atomaren Präventivschlag Moskaus gegen China nicht stillschweigend hinnehmen oder sich gar an ihm beteiligen würden.

Daß die führenden Männer Amerikas so etwas überhaupt für vorstellbar hielten, behauptet der einst nächst Präsident Richard Nixon mächtigste Amerikaner im Weißen Haus: Nixons Stabschef Harry R, Haldeman.

In seinem Buch »The Ends of Power«, das in diesen Tagen nach einer intensiven Werbekampagne in den Vereinigten Staaten auf den Markt kommt, gibt Haldeman, derzeit noch Watergate-Häftling im Gefängnis von Lompoc, Kalifornien, nicht nur seine Darstellung der Watergate-Affäre (Quintessenz: schuld war Chef Nixon persönlich); Nixons früherer Bürovorsteher wartet auch mit einer außenpolitischen Sensation auf:

Im Laufe des Jahres 1969 hätten die Sowjets mehrmals versucht, die Amerikaner zu einem gemeinsamen Atomschlag gegen Chinas Nuklear-Anlagen zu bewegen, seien aber jedesmal von Nixon abschlägig beschieden worden.

Die Sowjets hätten daraufhin beschlossen, den Schlag allein zu führen. Amerikanische Luftaufnahmen« so Haldeman weiter, zeigten, daß »Hunderte sowjetischer Atomsprengköpfe ... zwei Meilen von der Grenze entfernt« stationiert waren und daß die Sowjets »über Nacht in 2,70 Meter hohem Schnee 18 000 Zelte für ihre Streitkräfte errichtet« hatten. Doch die harte amerikanische Reaktion schreckte die Russen schließlich vor einem Alleingang ab -- wie Haldeman vermutet.

Daß die Sowjets ihre Streitkräfte entlang der chinesischen Grenze damals mit taktischen Atomwaffen ausgestattet hatten, war schon immer vermutet worden. Nach den Gefechten am Ussuri und in Singkiang hatte die Moskauer »Prawda« die Chinesen im August 1969 ausdrücklich vor den nuklearen Einsatzmöglichkeiten der UdSSR gewarnt.

Und ein hoher sowjetischer Funktionär hatte dem SPIEGEL später geheimnisvoll erklärt: »Wir haben ihnen mit außergewöhnlichen Mitteln eine Lehre erteilt, die sie nicht vergessen werden.«

Neu ist mithin nur die Haldeman-Behauptung, Moskau habe die USA zur Mittäterschaft eingeladen und schließlich allein losschlagen wollen

und beides verweisen all jene, die damals mit Amerikas Außenpolitik zu tun hatte:;, mehr oder minder deutlich in den Bereich der Phantasie.

Henry Kissinger, Chef-Architekt der US-Außenpolitik jener Jahre, zu der »Enthüllung«, die Sowjets hätten den Amerikanern vorgeschlagen, gemeinsam gegen China vorzugehen: »Das ist nicht wahr. Alle Papiere zu Fragen der Außenpolitik gingen über meinen Tisch. Ich kann mich an kein derartiges Ereignis erinnern, und ich würde das bestimmt nicht vergessen haben.«

Daß Haldeman seine Enthüllung erfunden hätte, mag Kissinger allerdings nicht glauben: »Er hat seine Grenzen, aber er ist nicht unehrenhaft. Ich glaube nicht, daß er gelogen hat.« Dem SPIEGEL erläuterte Kissinger, wie es zu Haldemans Darstellung gekommen sein könnte:

Haldemann hatte keine Möglichkeit, irgend etwas zu erfahren, es sei denn, Nixon erzählte es ihm ... Nixon hatte einen recht phantasievollen Charakter, daß er Haldeman Sachen erzählte, nur um zu zeigen, was für ein heldenhafter Präsident er sei ... Nixon war durchaus fähig, mit Dingen zu prahlen, die sich überhaupt nicht ereignet hatten.

Von den Sowjets war eine Bestätigung der Haldeman-Thesen erst recht nicht zu bekommen, im Gegenteil. Vadim Sagladin, Vize der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU, zum SPIEGEL:

Mit Us-Präsident Nixon und Außenminister Kissinger 1969 im Weißen Haus.

Das ist ja unerhört. Die Amerikaner haben uns zur Zeit der Ussuri-Krise eine Nachricht zukommen lassen: Wenn Ihr einen Schlag gegen die Chinesen führt, dann bitte nicht mit Atomwaffen, sondern konventionell. Und das haben wir als durchsichtige Provokation zurückgewiesen. Und vorigen Freitag nannte Moskaus Nachrichtenagentur Tass Haldemans Behauptungen »eine Lüge von Anfang bis zum Ende«.

Haldeman, vom SPIEGEL um Aufklärung der Widersprüche gebeten. verweigerte jegliche Stellungnahme.

So bleibt die Wahrscheinlichkeit, daß der außenpolitische Laie Haldeman etwas läuten gehört, die Geräusche aber falsch interpretiert hat. Denn als Kissinger am 10. Dezember 1969 laut Haldeman einen sowjetischen Angriff auf China bis Mitte April 1970 prophezeite. hatte bereits eine Kehrtwendung der amerikanischen Außenpolitik stattgefunden, die Haldeman allerdings entgangen war. Kissinger zum SPIEGEL: Zu Anfang hatten wir die Ussuri-Krise falsch interpretiert. Wir dachten, die Chinesen hätten die Russen angegriffen. Als wir erkannten, was tatsächlich geschehen war, stellten wir uns mit Nachdruck auf die chinesische Seite.

Die von Haldeman beschriebene Warschauer Kontaktaufnahme zwischen Amerikas Botschafter Stoessel und Chinas Lei Jang war denn auch keineswegs der erste Versuch der Amerikaner, wieder mit den Chinesen ins Gespräch zu kommen. Solche Versuche hatte es, so der damalige US-Außenminister William Rogers, schon vorher gegeben -- seit dem Augenblick, in dem die Amerikaner die wahre Lage an der chinesisch-sowjetischen Grenze erkannt hatten.

Was von den »Enthüllungen« des Häftlings Nummer 01489-163 (B) bleibt, ist mithin die attraktive Schlagzeile »Sowjets schlugen den USA 1969 gemeinsamen Atomangriff gegen China vor«. Und was weiter bleibt, sind Anekdoten aus Haldemans Zeit im Weißen Haus, die ein Licht auf ihn und seine Kollegen werfen.

Beispiel: Nixons innenpolitischer Chefberater John Ehrlichman, derzeit ebenfalls Watergate-Häftling, vertrieb sich einen Großteil seiner Zeit damit, Nacktphotos von Starlets zu sammeln, die zuvor -- angezogen natürlich -- mit Henry Kissinger in der Öffentlichkeit gesehen worden waren.

Die Photos gingen dann in offiziellen Umschlägen des Weißen Hauses mit »bizarren Anweisungen für bestimmte Aktionen« (Haldeman) an Kissinger, an dessen »Liebesleben«, so Haldeman, der Stab des Weißen Hauses und Nixon selbst »insgeheim ihren Spaß hatten«.

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