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RUSSLAND Eine Nachtigall ohne Herz

Sergej Michalkow hat drei Nationalhymnen geschrieben. Er war Stalins Günstling und Solschenizyns Erzfeind. Jetzt feiert ihn Präsident Putin als Patriarchen einer Sippe, die immer oben schwamm. Von Walter Mayr
aus DER SPIEGEL 30/2005

Das Haus der toten Dichter liegt im Herzen Moskaus, Powarskaja-Straße 52. Ein klassizistisches Stadtpalais aus der Zarenzeit, Zeugnis vergangener Größe mitten im Wildwuchs und Smog der Elf-Millionen-Metropole.

Im Inneren ist es kühl und still. Zwischen ionischen Säulen und marmorner Venus, unter Kristall-Lüstern und halbnackten Nymphen im Torbogen - kein Mensch. Aus goldbronzenem Rahmen blickt Maxim Gorki streng von der Wand. Die schwarzweiß bebilderte Ahnengalerie sowjetischen Schrifttums ziert ein Foto des Stalinpreisträgers Ilja Ehrenburg.

»1934-2004: 70 Jahre internationaler Schriftstellerverband der UdSSR«, steht auf einem Schild im ersten Stock. Als wäre der Staat, der dieses Haus für seine Dichter wählte, nicht tot seit bald 14 Jahren. Am Ende eines langen, dunklen Flurs, hinter menschenleeren Zimmern, steht eine Tür offen. Einsam an seinem Schreibtisch sitzt dort ein Greis: Sergej Michalkow.

Groß, schlank, weißhaarig ist er. Dunkler Anzug, schwarzer Stock mit Silberknauf. Stalins Hofdichter, einst Modell des schreibenden Kader-Kommunisten, trotzt der Neuzeit im Gewand des Grandseigneurs. »Prochoditje«, sagt er mit Fistelstimme: »Treten Sie näher.«

Michalkow, 92 Jahre alt, ist der letzte Held seiner Zeit. Vierfacher Stalin- und Staatspreisträger, ausgezeichnet mit drei Leninorden und dem Titel »Held der sozialistischen Arbeit«. 300 Millionen Bücher hat er verkauft, Kinderliteratur vor allem, Fabeln auch und Gedichte.

Michalkow ist der Auflage nach erfolgreichster lebender Schriftsteller Russlands. Unsterblich aber hat er sich erst durch seine Geschmeidigkeit bei Hofe gemacht. Er ist der Textautor sämtlicher Nationalhymnen in russischer Sprache seit dem Tod des letzten Zaren 1918.

Seine erste Hymne schrieb Michalkow 1943 - auf Bitten und zu Ehren jenes Mannes, der Millionen Landsleute ermorden ließ, ehe er als Feldherr zum Retter des Vaterlands aufstieg: »Uns erzog Stalin zur Treue am Volk«, so klang im Wortlaut Michalkows das Glaubensbekenntnis der Sowjetbürger, von den Siegesparaden am Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Tod des Diktators 1953.

Die zweite Hymne schrieb Michalkow 1977 für seinen Duzfreund Leonid Breschnew. Da war Stalin längst von der Partei verdammt, ein entsprechender Text aber fehlte noch. Und so reparierte Michalkow selbst den Schaden. Im Lied der Sowjets beseelte fortan statt Stalin wieder der längst einbalsamierte Lenin das Volk »für die rechte Sache«. Die Toten auf den Schlachtfeldern Afghanistans und die Sieger bei Olympia 1980 in Moskau wurden schon zum Text der neuen Hymne geehrt.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 wird vorübergehend Michail Glinkas »Patriotisches Lied«, ohne Text, zur Nationalhymne Russlands. Zehn Jahre später verordnet Wladimir Putin die Rückkehr zur Melodie der Stalin-Zeit: »Russland - unser geheiligter Staat«, heißt es seither im Hymnus

der 143 Millionen Menschen zwischen Ostsee und Stillem Ozean. Auch die Verse für das neue Land im neuen Jahrtausend schrieb Sergej Michalkow.

»Ich habe dem Vaterland gedient«, sagt der alte Dichter soldatisch. Was auch kommen, wer auch herrschen mochte, Michalkow war auf Posten. Unter all jenen Schriftstellern, die einst als »Ingenieure der menschlichen Seele« von Stalin aufgerufen waren, den Aufbau des Sowjetstaats mit ihrem Werk zu begleiten, hat keiner die Erschütterungen des abgelaufenen Jahrhunderts überstanden wie er.

»Ich habe sie alle gekannt«, sagt Michalkow an seinem Schreibtisch mit kalter Genugtuung: »Sie sind alle tot.«

Zu seinen Weggefährten zählten Gorki, Babel, Ehrenburg, auch Scholochow und Pasternak, die Nobelpreisträger. Männer, die den Schriftstellerverband prägten oder unter ihm litten.

Mit dem großen Gorki, der nebenan im Sitzungssaal die ersten Versammlungen leitete, war Michalkow bereits beim Gründungskongress des Verbands vor 71 Jahren zusammengetroffen. Damals, als der Sozialistische Realismus zum Leitmotiv erkoren wurde. Eine Kunstform, die den Schriftsteller zum Werkzeug der Partei machte und die Sowjetliteratur erniedrigte zum »Lob der politischen Führung in Worten, die sie versteht«, wie Wladimir Woinowitsch später spottete.

Ihn, sagt Michalkow, habe das nicht gekümmert: »Ich schrieb, was ich wollte.« Er schaut dabei drein, als erwarte er nicht einmal, dass ihm geglaubt wird.

Mit anderen, denen das Tauwetter unter Stalins Nachfolger Chruschtschow zu weit ging, gründete Michalkow 1958 den orthodox kommunistischen Russischen Schriftstellerverband. Boris Pasternak, der im selben Jahr den Nobelpreis für »Doktor Schiwago« zugesprochen bekommt, muss unter dem Druck der Partei verzichten. »Pasternak war ein großer Dichter, aber er hat sein Buch zuerst im Ausland veröffentlicht und so gegen sowjetische Gesetze verstoßen«, sagt Michalkow mitleidslos.

1970 erhält Alexander Solschenizyn den Nobelpreis. Michalkow, inzwischen Vorsitzender des Russischen Schriftstellerverbands, führt das Feld der Hetzer gegen den Chronisten des »Archipel Gulag« an. Er nennt Solschenizyn einen »literarischen Wlassowez« - einen, der gegen sein Vaterland an der Schreibmaschine kämpfe. Der Gescholtene flieht ins amerikanische Exil und weigert sich noch heute, den Namen Michalkow auch nur in den Mund zu nehmen: »Das ist nicht mein Niveau.«

»Solschenizyn«, sagt der alte Michalkow in seinem Büro und lässt die Augen scheinbar ziellos durchs Fenster ins Freie schweifen, Solschenizyn sei ohne Zweifel »ein tapferer Journalist« gewesen, aber: »Er war kein Tolstoi.« Tolstoi steht draußen im Hof. Sie haben ihm ein Denkmal gesetzt, dem Nationaldichter Russlands. Nicht zuletzt, weil er das Palais hier in der Powarskaja-Straße als Stadtresidenz des Fürsten Rostow in »Krieg und Frieden« unter den Schauplätzen der Weltliteratur verankert hat.

Es gibt keinen anderen Ort im Land, der gleichermaßen als Kulisse für Blüte und Niedergang der russischen Literatur taugte wie die Powarskaja 52. Nach der Oktoberrevolution 1917, als für fortschrittliche Dichter vorübergehend alles möglich schien, lasen hier Blok, Zwetajewa, Achmatowa und Pasternak. All jene, die dann im Giftschrank der Sowjetliteratur landeten, als Michalkow und seine Freunde im Apparat das Sagen hatten.

Michalkow verteidigt als Letzter seinen Schreibtisch im Schatten des Tolstoi-Denkmals und mit ihm die Errungenschaften der Sowjetmacht - gegen die Zumutungen der neuen Zeit. »Sie arbeiten hier nicht mehr«, hat ihm neulich ein Wächter am Eingang zugerufen. Moskaus Oberbürgermeister möchte die wertvolle Immobilie zu Geld machen und versucht deshalb, den greisen Nachlassverwalter der Sowjetliteratur vor die Tür zu setzen.

Aber Michalkow ignoriert das. Er spaziert einfach weiter mit seinem Gehstock durch den Innenhof, wo nun aserbaidschanische Wirte Lammnieren für die neue Elite grillen und gelegentlich Roman Abramowitsch, der Tycoon, der sich den FC Chelsea leistet, vorbeischaut. Und lässt sich dann vom Chauffeur nach Hause fahren, in einem schwarzen Mercedes 500 - Geschenk seiner Söhne zum 90. Geburtstag.

Wladimir Putin war damals persönlich in Michalkows Wohnung, um zu gratulieren. Er hatte einen Vaterländischen Verdienstorden als Geschenk für den Alten im Gepäck und jede Menge Fotos »aus den Archiven«. Man trank gemeinsam Tee, und Putin erklärte Michalkow, den Autor der Stalin-Hymne und Zuchtmeister des sowjetischen Literaturbetriebs, feierlich zum »Menschen unserer Epoche«.

Überhaupt ist Michalkow seit Putins Amtsantritt im März 2000 aufgeblüht wie ein alter Frontkämpfer unter neuem Oberbefehl. Seine Satire-Klamotte »Zündschnur« läuft nun wieder sonntags zur besten Zeit im Staatsfernsehen - eine staubige Sechziger-Jahre-Erfindung des Zentralkomitees der Partei, in der gegen Beamtenwillkür gewettert werden darf. Und auf dem Kulturkanal ist zu sehen, wie Michalkow im Moskauer Meyerhold-Theater andächtigen Zuhörern von Stalin erzählt.

Es ist ja nicht nur die Stalin-Hymne, die Putin wieder zu Ehren gebracht hat. Es ist der ganze Symbolhaushalt aus ruhmreicheren Zeiten. Aus jener Zeit, als die Sowjetunion noch groß war und mächtig und ihre Armee gefürchtet. Dazu kommen, bruchlos eingefügt in den Mythenfundus des neuen Russland, Chiffren aus gottesfürchtiger Zarenzeit.

Sergej Michalkow ist der Patriarch einer Sippe, die mit ihrem Wurzelwerk den Kulturboden Russlands durchwuchert wie ein alter Baum das Erdreich. Den Stand der vornehmeren Russen, der »Traberhengste und Vollblüter«, für den der Alte schon zu Sowjetzeiten öffentlich Vorrechte forderte, verkörpern am entschiedensten die Michalkows selbst. Keine andere Familie von altem Adel ist aus der Revolution 1917 und dem Ende der Sowjetunion 1991 ähnlich unbeschadet hervorgegangen. Man muss sie nur sehen, im Bauch der wiedererbauten Christ-Erlöser-Kathedrale

am Ufer der Moskwa, wie sie da an einem bitterkalten Februar-Abend zu Ehren Michalkows versammelt sind. Der »Goldene Falke« wird ihm verliehen. Eine Auszeichnung, für die zuvor Präsident Putin höchstselbst, Gerhard Schröder und Jacques Chirac nominiert waren.

Angetreten sind zur Feier des Tages alte Armeegeneräle, angeführt von Marschall Wiktor Kulikow, einst Oberkommandierender der Warschauer-Pakt-Streitkräfte; dazu KGB-Veteranen und ihre Nachfolger vom Inlandsgeheimdienst FSB, dessen Leiter Putin war; und schließlich Sechsjährige in Uniform, die den ausgewachsenen Kameraden Spalier stehen.

Vor einer Kulisse aus Heiligenbildern, zaristischen Doppeladlern und einem Foto der KGB-Terrorzentrale Lubjanka, inmitten der bizarren Dreifaltigkeit also von Putins Russland, feiert sich die Nachhut der gottlosen Weltrevolution. Sie singen Trinklieder auf den Geheimdienst, danach ertönt Marschmusik: »Idut, batalony, idut, a schenschiny schdut« - die Bataillone marschieren, doch die Frauen, sie warten.

Michalkow, feierlich mit Schärpe über dem Anzug, lässt sich seine Genugtuung kaum anmerken. Zwei Minuten von hier, in der Wolchonka-Straße, ist er 1913 geboren. Spaziergänge zur Kathedrale hat er mit dem Kindermädchen noch zur Zarenzeit unternommen. Als Stalin zum Entsetzen der Gläubigen das größte Gotteshaus Moskaus sprengen ließ, stand Michalkow am Anfang seiner Karriere. Nun, da es neu aufgebaut ist, wird ausgerechnet er, die Nachtigall der Stalin-Ära, hier gefeiert.

Sergej Michalkow verkörpert, immer noch oder schon wieder, den Geist seiner Zeit. Putins Russland ehrt in ihm den vollkommenen Untertan.

Der russische Atheismus sei eine »zutiefst religiöse Erscheinung« gewesen, kein Wunder, wenn nun die Helden von gestern in den neuen Kathedralen gefeiert würden, sagt lächelnd Andrej Kontschalowski. Der drahtige, braungebrannte Mann von 67 Jahren ist Michalkows Sohn und mit zur Preisverleihung erschienen.

Er hat Seite an Seite mit Andrej Tarkowski das Regisseur-Handwerk erlernt und später in Hollywood mit Max von Sydow, Keith Carradine und Isabella Rosselini gedreht. In den Neunzigern nach Russland zurückgekehrt, gewann Kontschalowski mit dem Tschetschenien-Film »Narrenhaus« 2002 den »Großen Preis der Jury« von Venedig.

Früh hat er den Namen seiner Mutter angenommen, weil er »kein Sohn des großen Michalkow mehr sein« wollte. Weil er an das Tauwetter unter Chruschtschow geglaubt hatte, während sein Vater Chruschtschow verdammte. Weil er Solschenizyn bewunderte, während der Alte von der Powarskaja 52 aus Solschenizyn erledigen half. »Du mit deinem Mundwerk bringst uns noch alle in den Gulag«, sprach Sergej Michalkow zu seinem Sohn.

Kontschalowski sagt, er erinnere sich noch an den Tag im Jahr 1943, als der Vater telefonisch zu Stalin bestellt wurde, der neuen Hymne wegen: »Er war aufgeregt, ich musste ihm die Militärstiefel wachsen und schmierte dabei Wachs auf die Sohlen. Er schlug mir auf den Kopf und ging.«

Kontschalowski, der sich dem aufgeklärten Erbteil Russlands verpflichtet fühlt, urteilt nicht über das Leben seines hochdekorierten Vaters im Schlagschatten der Herrscher. Allenfalls abstrakt skizziert er Distanz: »Eine Hymne hat nichts mit Kunst zu tun, sie ist ein politisches Dokument«, sagt er, oder: »Kultur definiert das Verhältnis zwischen dem Individuum und der Macht. In dieser Hinsicht ist Russland 400 Jahre hinter Europa zurück.«

Das sieht nicht nur der Vater anders, sondern auch der stattliche Mann mit dem Walross-Schnurrbart, der an diesem Abend neben Andrej und dem alten Michalkow steht, und der grundsätzlich so gut wie nie fehlt, wenn im Moskauer Kulturbetrieb Orden und Preise von Rang zu vergeben sind: Nikita, Andrejs jüngerer Bruder.

Nikita Michalkow ist 1945 geboren, im »Jahr des Sieges«, wie der Vater sagt, und der berühmteste Filmemacher und Schauspieler des Landes. Er begreift sich als Apologet alter russischer Größe, deren Familienteil er im väterlichen Stammbaum durch ein halbes Jahrtausend Dienst am Zaren verankert sieht, und mütterlicherseits durch bestes Kosaken- und Künstlerblut.

Er bevorzugt große nationale Stoffe - die letzten glanzvollen Tage des Zarenreichs, die Stalin-Zeit, den Zweiten Welt-

krieg. Den Oscar als Regisseur gewann er 1995 für seinen Film »Die Sonne, die uns täuscht": ein Sittenbild aus dem Jahr 1936, als auf dem Gipfel der Stalinschen Repressionen Scharen nonkonformer Künstler im Gulag landeten oder, gezwungenermaßen, im inneren Exil.

Nikita Michalkows Vater erging es umgekehrt. Er geriet zur gleichen Zeit unter Stalins Sonne. Sein in der »Prawda« abgedrucktes Gedicht »Swetlana«, angeblich einer blonden Studentin gewidmet, war vom Sowjetführer instinktsicher als poetisches Bewerbungsschreiben für höhere Aufgaben gewertet worden - Stalins Tochter hieß Swetlana.

Nicht auszuschließen, dass Michalkow, der später als Belohnung in der Loge des Bolschoi-Theaters mit Stalin sitzen und im Kreml mit ihm Filme sehen durfte, die Schattenseite des Mannes nicht sah, mit dem er sich einließ. »Seine Leichtigkeit ist erstaunlich«, urteilt Nikita Michalkow über den Vater. Der Alte führe zwei parallele Leben und habe sich so, allem Rampenlicht zum Trotz, »das tiefgründige Leben des Kinds in sich selbst« bewahrt.

»Es ist schwer, über einen zu reden, über den alles bekannt ist«, sagt der Oscar-Preisträger Nikita Michalkow über den Stalinpreisträger Sergej Michalkow: »Ich selbst jedenfalls kenne ihn nicht.«

Um an diesem Zustand noch zu Lebzeiten des Alten etwas zu ändern, drehte Nikita Michalkow einen Film. Herausgekommen ist der Streifen »Vater«, ein tragikomisches Dokument dynastischer Binnenschau: Zwei Herren, Michalkow junior und senior, sitzen in Freizeitzivil bei laufender Kamera vor künstlichem Kaminfeuer und geben Einblick ins Innenleben der mächtigsten Künstlersippe Russlands.

Sohn Nikita, betont sachlich: »Wurde bei euch zu Hause geprügelt?« - Vater: »Nein.« - Sohn: »Warum hast du mich dann ausgepeitscht?« - Vater, verstört: »Habe ich nicht.« - Sohn, zur Kamera gewandt, den Moderator mimend: »Was erzählen Sie uns da, Sergej Wladimirowitsch?« Ein alter Brief des Vaters, in dem vom Sinn des Prügelns die Rede ist, kommt zum Vorschein. »Das weiß ich alles noch von meinem eigenen Arsch her«, sagt der Sohn, »aber, bitte - kein Vorwurf.«

»Ein Berg ohne Herz und ohne Tür« sei der alte Michalkow, urteilt eine Enkelin. »Im Geiste 13 geblieben«, sagt die zweite Ehefrau, selbst erst Anfang 40. »Er hat das Land seiner Kindheit nie verlassen«, sagt Nikita. »Er ist auf eine kindische Art zynisch«, sagt Andrej Kontschalowski.

Wenn die Enkel fragen: »Opa, warum kommst du so selten?«, dann brummt der Alte: »Damit ich euch seltener sehe.« Der Autor, dessen Held »Onkel Stjopa« Hunderte Millionen Sowjetbürger durch die Kindheit begleitete, sagt von sich, er hasse es, unter Kindern zu sein: »Weil ich weiß, dass auch Kinder schäbige Greise werden und ich keine Greise mag.«

Stalins alter Verseschmied brettert zum Amüsement seiner Enkel lieber »wie ein neuer Russe« im Mercedes über Land und hört dabei seit Jahren »Tum Balalaika« - »weil er nicht weiß, dass in den Recorder auch andere Kassetten reinpassen«. Sollen sie denken, was sie wollen, die berühmten Söhne, Enkel und Schwiegertöchter, die als Regisseure, Schauspieler, Models, Designer und Betreiber von

Nobelrestaurants den Einfluss des Clans mehren.

»Mein Land, spürst du das Jucken? Drei Michalkows kriechen auf dir«, heißt ein im Volksmund beliebtes Bonmot, bezogen auf die vom Vater an die Söhne vererbte Begabung, das Phänomen höfischer Kunst in die Neuzeit zu retten. Nikita Michalkow zeigt, wie das geht. Er sichert sich staatliche Dollar-Millionen für Filmprojekte, bringt Putin dafür mit Jack Nicholson und Sean Penn zusammen und verliert bei alledem nie seinen Vater aus dem Blick.

»Russland - unser geheiligter Staat, Russland - unser geliebtes Land«, singt eines Abends im Jahr 2000 ein eigens aus Moskau angereister Chor auf Nikitas Wochenendgrundstück in Nikolina-Gora westlich der Hauptstadt, wo hinter hohen Mauern und unter alten Kiefern der Kulturadel der Metropole seit den Zeiten Prokofjews und Schostakowitschs die Füße hochlegt.

Wladimir Putin, der um die Ecke wohnt, ist gekommen, dazu der alte Michalkow mit seiner Frau, und Andrej Kontschalowski. Es geht um die Frage, welchen Text die Bürger des größten Lands der Erde künftig zu ihrer Nationalhymne singen sollen, um eine Frage also von nationaler Tragweite. Die Entscheidung allerdings fällt en famille - im Haus Nikitas, gegen den Einspruch Andrejs, der die Rückkehr zur Zarenhymne fordert, für die Stalin-Hymne und den Text des Vaters.

Dass einer nacheinander unter Stalin, Breschnew und Putin bei Hofe gelitten sein könne, habe mehr mit Russland zu tun als mit seinem Vater, sagt Kontschalowski: »Russland ist strukturell ein Renaissance-Land, und wir sind die Borghese oder Medici.« Und so wie Italiens Renaissance-Fürsten schwarze Familienschafe diskret entsorgten, so hat auch Sergej Michalkow durchgegriffen. Der, den es traf, wohnt in einem heruntergekommenen Fünfstöcker in der Moskauer Nowolesnaja-Straße hinter dem Weißrussischen Bahnhof: Michail Michalkow ist groß, schlank und sieht, wenn er sich zusammennimmt, beinahe so distinguiert aus wie sein neun Jahre älterer Bruder, der Stalinpreisträger.

Zwischen mickrigen Topfpflanzen, vollen Bücherregalen und einer mechanischen Schreibmaschine von Rheinmetall-Borsig Sömmerda verwaltet der jüngere Michalkow in seiner einzigen Stube die Spuren eines romanreifen Lebens: Als junger Mann im Krieg zwischen die Fronten geraten, dient er der Panzerdivision Großdeutschland als Dolmetscher, während sein älterer Bruder bereits bei Stalin ein- und ausgeht.

Dass Michail Michalkow nach dem Krieg mit fünf Jahren Haft davonkommt und überlebt, verdankt er Bruder Sergej. Der entschädigt für den Makel eines Wehrmachtskollaborateurs in der Familie durch bedingungslosen Gehorsam gegen das Regime. Er wird dafür beim Bankett im Hotel Metropol von Stalin an den Tisch mit Mao geholt und gewinnt 1950 seinen dritten Stalinpreis - für ein hohntriefendes Stück über den des Formalismus geziehenen Komponisten Dmitrij Schostakowitsch.

»Mein Bruder hat von seinem 15. Geburtstag an Lobgesänge auf Stalin angestimmt«, sagt Michail Michalkow, so etwas zahle sich aus. Als Michail 1950 aus der Haft entlassen wird, bezahlt Sergej für ihn Ärzte, Kuren, Lebensunterhalt. Er stellt nur eine Bedingung: »Suche dir einen anderen Namen und sprich nicht darüber.«

Und so wird aus Michail Michalkow in Freiheit Michail Andronow - ein Mann, der unter falschem Namen 140 überwiegend unbeachtete Bücher schreibt und ein schäbiges Zimmer im Haus des Schriftstellerverbands belegt. Erst nach dem Ende der Sowjetunion darf Michail zurück in seine alte Haut und hält sich seither in seinem Verschlag hinter dem Bahnhof vor allem durch die Hoffnung aufrecht, Nikita oder Andrej, einer der Neffen, würden ihm in Hollywood filmisch ein Denkmal setzen.

Im Haus der toten Dichter fällt dazu kein Wort. »Mein Bruder hat mir nicht geschadet«, sagt Sergej Michalkow nur, kurz und kühl. Vom Gartenring her dringt das stete Rauschen des Feierabendverkehrs durchs offene Fenster. Im Palais selbst herrscht Totenstille. Er habe sich nichts vorzuwerfen, sagt Michalkow, nicht in Bezug auf seinen Bruder, nicht in Bezug auf andere: »Ich habe alles richtig gemacht.«

Was Stalin angehe, sagt Michalkow, da habe er sich auf sein Gefühl verlassen: »Für mich war er vertrauenerweckend.«

Im Gästebuch von Stalins Geburtshaus steht: »Ich habe an ihn geglaubt. Er hat mir vertraut.« Gezeichnet: Sergej Michalkow.

* Mit seiner Ehefrau, der Schauspielerin Julija Wyssozkaja, 2002 auf dem Filmfestival in Venedig. * Als Zar Alexander III. im Film »Der Barbier von Sibirien« (1998).

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