»Eine Nation der Flicker«
SPIEGEL: Mr. Buckton, trotz einer Inflationsrate, die südamerikanische Dimensionen angenommen hat, fordern Britanniens Gewerkschaften Lohnerhöhungen von 30 Prozent und mehr. Kann Ihre Nation das überleben?
BUCKTON: Wir wollen Britannien nicht zugrunde richten. Sie mögen es nicht für möglich halten, aber mit unseren Forderungen versuchen wir auch, unsere Nation zu unterstützen. Wenn das Transportwesen nicht funktioniert, leidet die Wirtschaft. Deshalb müssen wir auch die besten Leute haben. Das Beste ist aber auch das Teuerste.
SPIEGEL: Dabei nehmen Sie ein Anheizen der Inflation in Kauf?
BUCKTON: Die Inflation kann mithelfen, die Gesellschaft zu verändern. Inflation kann manchem Zögernden über den Zaun und zu einem aktiveren Engagement für gesellschaftliche Reformen verhelfen. Wir haben das konservative Regime gestürzt. Als die Konservativen regierten, waren wir frustriert und böse. Millionen von Arbeitern fühlten sich einmal mehr beschuldigt, verantwortlich zu sein für alles, was in dieser Gesellschaft nicht in Ordnung ist.
SPIEGEL: Wer ist denn schuldig, die Industrie?
BUCKTON: Ganz unschuldig ist keiner. Management und Arbeiter haben sich nicht verstanden und sprechen auch heute nicht dieselbe Sprache. Schuld ist auch das politische System. Wir haben einfach zu viele Regierungen mit unterschiedlicher Politik. Einige Leute behaupten, das sei vorteilhaft, weil wir auf diese Weise unser politisches Gleichgewicht halten. Aber das hilft uns nicht, vorauszuplanen. Wir haben viele Pläne und Strategien. die Zeit zur Verwirklichung brauchen.
SPIEGEL: So argumentieren auch die Industriellen.
BUCKTON: Die Industriellen sind immer gegen die Gewerkschaften gewesen, die sie als einen Feind ihres kapitalistischen Systems gesehen haben. Doch sehen Sie sich die Tatsachen an: diese ungeheuren Mengen Kapital, die unsere Industrie im Ausland investiert hat. Solange ich lebe, ich bin 1922 geboren, hat sich die Philosophie nicht geändert: Wir kaufen keine neuen Maschinen, statt dessen flicken wir, eine große Nation der Flicker, ein Volk der Reparatur. Seit der Industriellen Revolution hat die britische Industrie nur repariert, deshalb eignet sie sich nicht für moderne Zeiten.
SPIEGEL: Häufig haben sich die Gewerkschaften dem Fortschritt widersetzt. Warum brauchen Sie einige hundert Gewerkschaften?
BUCKTON: Es wäre außerordentlich schwierig, ja fast unmöglich, die Gewerkschaftsstruktur mit einem Federstrich zu ändern, das müssen die Mitglieder entscheiden Wenn morgen jemand zu den Eisenbahn-Gewerkschaften käme und sagte: Jungs, ab heute existiert nur noch eine statt drei Gewerkschaften, würde das nicht bedeuten, daß wir weniger Probleme oder Streiks hätten Selbst eine Einheitsgewerkschaft kann Streiks nicht verhindern.
SPIEGEL: Obgleich die Regierung Wilson den Gewerkschaften gewogen ist wie kaum eine ihrer Vorgängerinnen, häufen sich Streiks und Demonstrationen. Warum?
BUCKTON: Hin und wieder verstehen sich die besten Freunde nicht. Aber wir stimmen überein in den Fragen des »social contract«, wir unterstützten die Verstaatlichungs-Politik. Eisenbahnen erhalten Millionen von Pfund, damit sie funktionieren. Millionen werden ausgegeben, um Autobahnen zu bauen, auf denen dann die staatlichen Fuhrbetriebe mit der Eisenbahn konkurrieren. Millionen erhalten die Fluggesellschaften Und dann sagen sie: Hier habt ihr Geld, nun kämpft mal schön gegeneinander. Jemand muß verlieren.
* Ray Buckton ist Generalsekretär einer der drei britischen Eisenbahnergewerkschaften, der Associated Society of locomotive Engineers and Firemen.