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Artikel 38 / 57

EINE RETTUNG, DIE MÜTTERCHEN RUSSLAND GELANG?

aus DER SPIEGEL 11/1967

Die Geschichte der Anna Anderson, von der es heißt, sie sei die jüngste Tochter des Zaren Nikolaus II., die Großfürstin Anastasia Nikolajewna Romanow also, erinnert an ein Märchen der Brüder Grimm.

Nur das jüngste in dem Uhrkasten, das fand der Wolf nicht, der mit sechs Geißlein nicht langes Federlesen machte. Es könnte Anastasia heißen, als es sich schließlich aus dem Uhrkasten meldet und damit die Rettung seiner Geschwister aus dem Bauch des Wolfes einleitet. Denn Anastasia bedeutet »die Wiedererstandene«.

In der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 wurde die Zarenfamilie im sibirischen Jekaterinburg, im Erdgeschoß des Hauses Ipatjew, ermordet: Nikolaus II., die Zarin, Zarewitsch Alexei, die Töchter Olga, Tatjana, Marija -- und das siebte Familienmitglied, die jüngste Tochter Anastasia.

Anastasia soll das Blutbad überlebt haben. Nicht gleich 1918, erst drei, vier Jahre später flackerte das Gerücht auf, überall, wo entkommene Russen in der Fremde vegetierten. Erst 1921, 1922 war die Sehnsucht nach einem hoffnungspendenden Zeichen des Himmels unerträglich geworden. Die Spekulation auf einen raschen Zusammenbruch der Revolution hatte sich als trügerisch erwiesen. Die Seelen hungerten in einem immer endloseren Winter der Emigration. Zweifel am Untergang der gesamten Zarenfamilie waren buchstäblich Nahrung für alle, denen die russische Revolution die Welt zerstört hatte.

Wenn einer von dem hohen Blut überlebt hätte, Anastasia gar, die Wiedererstandene, welch ein Zeichen wäre das. Wenn Mütterchen Rußland eine derart wunderbare Rettung gelang, eine Auferstehung, dann war es auch fähig, nächstens den Nachtmahr abzuschütteln, der über den Osten gekommen war -- und über die Erde. Nicht nur die russischen Emigranten waren bereit für jeden Rappen Hoffnung. Daß die Welt nie mehr die alte sein würde, in Rußland und überall, das spürte jeder.

Die Frage, ob Anastasia tatsächlich die Mordnacht von Jekaterinburg überlebte, muß im Anblick der Bühne erörtert werden, auf der sich die Heimkehr der geretteten Anastasia abzuspielen hatte, ob sie nun Anastasia war oder nicht. Allzusehr bot sich auch eine echte Anastasia den Träumen an, wie eine gemeine Kalkulation auf das Bedürfnis nach einem verheißenden Zeichen oder wie ein gegen die Verzweiflung ersonnenes Märchen.

Die junge Frau, die am 17. Februar 1920 versuchte, ihr Leben im Berliner Landwehrkanal zu beenden, trug den Zweifeln, die eine falsche oder echte Zarentochter in gleicher Weise bedrohten, Rechnung: Sie wurde gerettet, machte aber, in das Elisabeth-Krankenhaus eingeliefert, keine Angaben über ihre Person. Ende März 1920 wurde sie in die Anstalt Dalldorf überwiesen, aber auch dort, unter Geisteskranken, hielt sie an ihrem Schweigen fest. Am 30. Mai 1922

* Rechts neben Nikolaus II. Großfürstin Anastasia.

wurde die junge Frau aus dem Landwehrkanal von der Anstalt Dalldorf der Pflege einer russischen Emigrantenfamilie anvertraut. Es gibt -- zwei Ansichten über das; was bis zu diesem Datum, vom 17. Februar 1920 an, geschehen ist.

Nach der Ansicht der Anna-Anderson-Gegner schlüpfte eine bedauernswerte junge Frau, ordinärer Herkunft, halb getrieben von psychischer Verwirrung, halb von der Wunderbereitschaft ihrer Umwelt gedrängt, in die imaginäre Gestalt einer überlebenden Zarentochter. Illustrierte dienten ihr dabei als erster Anhalt, Geschwätz, das Anstaltsklima, in dem gewöhnlich nicht wenige vorgeben, nicht der zu sein, als der sie gelten. 1920 war man eben in der Anstalt nicht Napoleon oder der Papst, sondern lieber ein geheimnisvoller Schiffbrüchiger aus der jüngsten, die Gemüter bewegenden Katastrophe.

Für die Anna-Anderson-Anhänger trat eine unglückliche junge Frau, die eine gnädige und unheimliche Fügung dem Tod entrissen hatte, unter heftigem Widerstreben den Weg an, der sie zu ihrer wahren Identität zurückführte.

Als sich russische Emigranten der jungen Frau in Dalldorf näherten, von der es heute heißt, sie sei Anastasia, zeigten sie ihr auch ein gewisses Photo. Sie gingen wie Zweifler vor, die besiegt werden möchten, die dein Propheten einen Kranken zuführen, damit er ein Wunder an ihm tut.

Da »packte es mich so, daß ich jede Vorsicht vergaß und ausrief: 'Das ist meine Großmutter'«. Das Photo zeigte eine Großmutter der Anastasia. Ein andermal heißt es in den Erinnerungen der jungen Frau aus dem Landwehrkanal, die heute Anastasia sein, will: »Ich zitterte am ganzen Leibe und begann auch zu weinen, so erniedrigt fühlte ich mich. Meine Besucher ließen sich jedoch nicht abhalten, mir zuzureden, ich möge mich doch zu erkennen geben. Ich konnte sie nur aus meinem Versteck (unter der Bettdecke) heraus anflehen, mich wieder zu verlassen, ich hätte sie nicht zu mir gebeten.«

Ob wir es mit der echten oder einer falschen Anastasia zu tun haben: Das Verhalten der jungen Frau in der Anstalt Dalldorf paßt zur echten wie zur falschen;

so ist es denn auch kein Wunder, daß später Angaben über ihren Aufenthalt in Dalldorf gemacht wurden, die sich hoffnungslos widersprechen. Eine Pflegerin erinnert sich, die Patientin habe russisch gesprochen. Eine andere bestreitet das. In den Krankenpapieren findet sich am 19. Februar 1921 die Eintragung: »Sie spricht zweifellos ein affektiertes Süddeutsch ...«

Die junge Frau aus dem Landwehrkanal, ob nun damals eine der phantastischsten (Selbst-)Täuschungen der Geschichte begann oder sich ein Wunder auf den steinigen Weg aller Wunder unter Menschen machte, wagte viel. Die umstrittene Identität ist ein Abenteuer auf einem Kreuzweg der Existenz. Wer seine Identität dem Streit aussetzt, wagt einen Gang mit nichts Geringerem als der Metaphysik. Die kann ihn so furchtbar schlagen, daß er schließlich selbst mitten im Leben keine Antwort mehr weiß auf die Frage, auf die eine Antwort zu finden die anderen wenigstens bis zum Ende hoffen dürfen: Wer bin ich?

Die Frau aus dem Landwehrkanal spielte mit ungeheurem Einsatz. Wie der Prophet offenbarte sie ihre Beweise nur in jenen Szenen, die im Sinne des Wortes »Dein Glaube hat dir geholfen« enden konnten. Ein hohes Spiel, das einem kaiserlichen Blut aus dem Hause Romanow angemessen sein kann; das aber auch zu einer Person paßt, die sich auf der Flucht vor sich selbst eines fremden Ich bemächtigt hat.

Die Geschichte der Anna Anderson, die Anastasia sein will, gleicht peinlich einer Geschichte, »die das Leben schrieb«. Aber auch eine echte Anastasia könnte fraglos nur eine solche Geschichte vorbringen, da sich die Wunder nie den dramaturgischen Vorstellungen anpassen, die an den Akademien gelten.

Sie sei bei der Exekution in Jekaterinburg nur verletzt worden. In einem unbeobachteten Augenblick habe der Pole Alexander von Tschaikowsky sie fortgeschafft und zusammen mit seinen Familienangehörigen in einem Bauernwagen nach Rumänien gebracht. Dort habe sie beschämt und entsetzt festgestellt, daß sie von ihrem Retter geschwängert war.

Sie habe das als Schande empfunden, nicht gewagt, sich Königin Maria von Rumänien anzuvertrauen und mit Tschaikowsky die Ehe geschlossen. Ihr Sohn sei auf den Namen Alexei getauft; als ihr Mann bei einer Schießerei umkam, habe sie sich, von einem Bruder ihres Mannes begleitet, nach Deutschland durchgeschlagen. Ihre letzten Wertstücke, Schmuck, der in ihrer Kleidung eingenäht war, habe sie für ihr Kind zurückgelassen, das wahrscheinlich in ein Heim gekommen sei. In Berlin sei sie seelisch zusammengebrochen, als sie ihren Begleiter verlor, und so habe sie versucht, sich im Landwehrkanal das Leben zu nehmen. Auf diesem Weg soll Anastasia buchstäblich aus der Grube aufgefahren sein.

Diese Geschichte tropfte zusammen solange die Frau aus dem Landwehrkanal in der Berliner Anstalt Dalldorf war. Sie wurde dichter, nachdem sie unter russischen Emigranten Zuflucht gefunden hatte, und sie schloß sich zu dieser endgültigen Form zusammen, während sich Parteien für und gegen die Frau aus dem Landwehrkanal bildeten. Als Unbekannte aus dem Landwehrkanal verließ die junge Frau die Anstalt. Sie war damals, wenn sie Anastasia war, am 5. Juni 1901 auf Schloß Peterhof, unweit von St. Petersburg, geboren, knapp 21 Jahre alt.

Sie trat in eine Welt hinaus, in der ein der Revolution entkommener ehemaliger Flügeladjutant des Zaren sagte, als er auszog, das Himmelszeichen zu prüfen, das sich unter dem Namen Anastasia einzustellen schien, es sei besser, eine Falsche anzuerkennen als die Richtige nicht. Sie nannte sich bald Frau von Tschaikowsky. Und während sie von 1928 bis 1931 in den Vereinigten Staaten lebte, nahm sie den Namen Anna Anderson an, den sie seither führt.

Sie geriet in Prüfungen peinlichster Art. Ihr Äußeres wurde betrachtet, ihre Kenntnisse gewogen, ihr Wesen diskutiert. Sie war oft krank, und ihre Ärzte waren nie allein um ihre Gesundheit besorgt, sondern stets auch um ihre Identität. 1926 etwa erstattete Professor Bonhoeffer, ein bekannter Berliner Psychiater, ein Gutachten über die Frage, ob hier vielleicht von einer »pseudologia phantastica« zu sprechen sei. Um einen »autosuggestiven Erinnerungsausfall« handle es sich, so schrieb er, erwachsen aus »dem Wunsch nach Verdrängung des Erlebten«. Zu beiden paßt das, zu einer falschen und einer echten Anastasia.

Sie wurde anerkannt, ihre Identität mit Anastasia wurde glatt bestritten, sie sei Anastasia, sagte mancher zuerst, der später widerrief, und andere bestritten sie zunächst, um sie später anzuerkennen. Von Anfang an und mit jedem Jahr intensiver verweigerte sie sich immer wieder Situationen, die sie derartigem aussetzten. Sie erkannte einen nicht, der sie aufsuchte, gab aber hinterher an, ihn sehr wohl zu kennen. Nur habe er sich unter falschem Namen eingeführt und sei deshalb von ihr geschnitten worden.

Stellvertretend für diese Situationen ist die folgende, und es handelte sich um eine für die Frau aus dem Landwehrkanal besonders wichtige Situation, denn es war die These aufgekommen, sie sei in Wahrheit die polnische Landarbeiterin Franziska Schanzkowski, die, geboren am 16. Dezember 1896, seit dem 17. Februar 1920 als verschwunden galt -- und eine Besucherin sollte dazu eine Aussage machen. Doch die Frau aus dem Landwehrkanal ließ sich auf keine Diskussion ein. Sie kehrte sich vielmehr im Bett zur Wand und verlangte: »Das soll 'rausgehen.«

Sie ließ es bei Andeutungen bewenden, wo man Kampf von ihr erwartete. Um ihre tatsächlichen oder verschütteten Sprachkenntnisse senkte sich schon in Dalldorf ein Schleier der Abwehr. Dieser Punkt ist für die Anastasia-Anhänger ein heikler Punkt. Und so beschäftigt sich Frau Lamartine, die derzeitige Betreuerin der Anna Anderson in Unterlengenhardt im Schwarzwald, in einem Artikel, den sie dem SPIEGEL zur Verfügung· stellte, auch eingehend mit ihm ("Weshalb spricht sie nicht Russisch, wird man immer wieder gefragt").

»Als am 6. Dezember 1966 ein Russisch sprechender St. Nikolaus erschien, dessen Begleiter ihr einige russische Lieder sang, antwortete sie auf dessen in russischer Sprache an -- sie gerichtete Fragen -- englisch und dankte -auch in englisch dem -- Sänger. »Keine Lieder sind so schön und so voller Musik wie die russischen«, versicherte sie. Ihr Lieblingslied ist das Wolgalied von Stenka Rasin, das sie sich auch immer zum Geburtstag wünscht.

»Und doch spricht sie nie mit den Freunden- Russisch, von denen sie weiß, sie sind darin perfekt. Wohl -aus einem psychologischen Grunde: Es -- sind nun 50 Jahre her, daß sie diese Sprache nicht mehr hörte und sprach. Sicher hat sie vieles vergessen, besonders das Grammatikalische, das nie ihre Stärke war. Schon Gilliard, der französische Privatlehrer der Zarenkinder, erzählte, wie eigenwillig die kleine Anastasia darin war, kurzerhand ihre eigene Grammatik anwendend, unbekümmert um alle Regeln. Auch heute noch spricht sie in dieser Weise englisch. Aber im Russischen hat sie Hemmungen, so eigenwillig zu verfahren, und will als Zarentochter keine Fehler in ihrer Heimatsprache machen.«

Frau Lamartine, die in Anna Anderson einen zweiten Kaspar Hauser sieht: »Nie würde sie um eines äußeren Vorteils willen in einer Sache nachgeben. Deshalb ist es auch so schwierig, sie von der Notwendigkeit, selbst den Beweis zu geben, daß sie Russisch spräche, zu überzeugen. Denn es geht so gegen ihren Stolz, daß sie immer wieder »beweisen« soll, wer sie ist. Wer wäre dessen nicht auch überdrüssig nach 40 Jahren Kampfes um seine Anerkennung.«

Anna Anderson war hinsichtlich dieses Beweises stets voll Überdruß. Ist sie nicht Anastasia: nur zu verständlich. Ist sie Anastasia: nicht uneinfühlbar. Man ist, man erklärt sich nicht. Bedeutsam erscheint freilich eine Zäsur: der Augenblick, in dem sich Anna Anderson entschließt, ihre Anerkennung vor Gericht zu betreiben. Hat sie ganz allein diesen Entschluß gefaßt, der zur falschen Anastasia überhaupt nicht, aber auch nicht recht zu einer echten Anastasia paßt,. deren Stolz dagegen aufbegehrt, daß sie sich beweisen soll? Hier ist ein Bruch in der Geschichte. Ihn könnte erklären, daß es auch um ganz massive materielle Interessen geht; nicht gerade um irgendwo außerhalb der Sowjet-Union verborgene »Zarenschätze«, aber wohl doch auch um nicht ganz geringe Beträge, die Nikolaus II. bei ausländischen Banken deponiert haben soll.

Bei Frau Lamartine findet sich ein interessanter Satz: »Die Freunde sind nun entschlossen, durch ein gerichtliches Urteil Anastasias Anerkennung zu erzwingen.«

Die Gerichte, seit 1938 mit dem Fall zivilrechtlich befaßt (damals beantragte Anna Anderson die Einziehung eines der Herzogin zu Mecklenburg 1933 erteilten Erbscheins, der davon ausgehend erteilt war, daß alle Kinder der Zarenfamilie tot sind), befinden sich dabei in der Rolle des Theaterbesitzers. Sie stellen nur die Bühne für ein Stück, über das sie keine Macht haben. Und während sie durch die Instanzen entscheiden, wie am Dienstag vergangener Woche das Oberlandesgericht Hamburg gegen Anna Anderson entschied, werden sie selbst zum Teil einer Handlung, deren Verfasser und Regisseur schon lange die Handlung selbst ist.

Ausgerechnet im heimlichen Königreich des Rechts, im Zivilprozeß, wird die Ohnmacht aller Mühe um Wahrheit vorgeführt. Auch das Oberlandesgericht Hamburg konnte nicht mehr erkennen als dies: daß Anna Anderson nicht ausreichend bewiesen hat, Anastasia zu sein.

In der Sache der Anna Anderson geht es für die beklagte Herzogin zu Mecklenburg, für die Verwandten der Romanows darum, daß sie nicht leichtfertig oder aus Eigennutz die Anerkennung versagen. Für die Welt, in der seit über 45 Jahren ein Anspruch zäh und inzwischen nahezu unsterblich im Gespräch ist, geht es um mehr.

In den letzten Tagen der Beweisaufnahme vor dem Oberlandesgericht Hamburg kam es zu zwei Auftritten, die erklären könnten, was das Rätsel Anna Anderson so hartnäckig macht.

Es wurde gehört der Zeuge Bruno Grandsitzki, 68, heute Rentner. Von 180 Mark muß er leben, hutzlig saß er auf dem ihm angebotenen Stuhl, seine Augen konnten gerade über die Platte des erhöhten Richtertischs spähen. Er blickte wie einer, den man aus dem Schlaf geholt hat, aus dem Traum, aus dem Bilderbuch seiner Anastasia-Geschichte heraus. Er kauerte, als fröre er, in eine kalte Welt gezerrt, und über dem dunklen Wollhemd hatte er noch eine gestrickte Weste mit Reißverschluß am Leib.

Er hat schon 1958 ausgesagt, er ist einer von den vielen, die aussagten, vom Tänzer Serge Lifar, der von Mussolini gehört haben will, die Frau in Deutschland sei wirklich Anastasia, bis zum Fürsten Jussupow, der dabei war, als Rasputin ermordet wurde. Und von dem unter Anastasia-Anhängern gemunkelt wird, er habe später, in Paris, geäußert: »Wenn wirklich Geld da ist, bin ich der erste, der umschwenkt und Ihre Anastasia anerkennt.« Es ist seit 1938 ein Jahrhundert durch die Sitzungen und Protokolle gezogen; Mediziner, Hochadel, Hauslehrer, ehemalige KP-Funktionäre, Graphologen, Reinmachefrauen, Anthropologen und Hofdamen.

Es ist in dieser Sache zugegangen, als habe das Jahrhundert noch einmal die längst abgetretenen Akteure passieren lassen wollen. Jene, die einmal die Handlung trugen und nun schon längst in ihrem Kielwasser treiben. Und das Jahrhundert führt auch die Statisterie von damals vor, jene, die nur gehört haben von den Dingen, auf daß sie doch einmal sagen dürfen, was sie um das gesponnen haben, was über sie hinwegging.

Bruno Grandsitzki will im Juni 1920 auf dem Bahnhof Danzig vier Mädchen getroffen haben, die vor der Abfahrt nach England standen. Eine soll die Schanzkowski gewesen sein. Er hat sich für sie interessiert. Er hat sich den Namen der Schanzkowski, ihre englische Anschrift, in ein Notizbuch geschrieben, das er noch 1945 in Gebrauch hatte, dann aber verlor. Wenn die Schanzkowski im Juni 1920 in Danzig war, dann kann die Frau aus dem Landwehrkanal wenigstens eines nicht gewesen sein: die Schanzkowski.

1956 hat sich Bruno Grandsitzki beim Anwalt der Anna Anderson gemeldet. Denn cia war im Zug ein Geistlicher gewesen, der hatte das »Bild« in der Hand, der las einen Bericht über Anastasia, und da entfuhr es Bruno Grandsitzki: »Da weiß ich aber auch etwas.« Ermutigt von dem geistlichen Herrn schrieb er. Nur hat er so viel geschrieben und gesagt von damals bis heute, seine Geschichte ist immer fülliger geworden.

Da ist nah, ganz nah eine geheimnisvolle Geschichte an dem Zeugen Grandsitzki vorbeigezogen, denn die Schanzkowski stammte aus der Gegend, in der Grandsitzkis Eltern einen Hof hatten. Ganz dicht kam die Geschichte an ihn heran. Sie muß ihn geradezu gestreift haben, berührt, sie muß sogar durch ihn hindurchgegangen sein, und er hat sie also erlebt. Er ist ein Teil der Geschichte, wenn man es recht betrachtet er kann also Teil an ihr geben.

So mag es sein, und Lüge wäre das falsche Wort dafür. Der Hunger nach Geschichten ist unersättlich. Nach Geschichten, die das Unerträgliche faßlich machen; nach einer Geschichte etwa, der zufolge Präsident Kennedy nicht einem wirren Einzelgänger zum Opfer fiel, sondern einer gewaltigen Verschwörung. Und wie drängt es den Menschen erst zu Geschichten, die von Wundern handeln, von Auferstehung aus den Gräbern der Revolutionen.

Der zweite Auftritt vor Abschluß der Beweisaufnahme in Hamburg: eine große, einmalige Gerichtsszene. Es ging um die »Hessenreise«. Anna Anderson hatte erzählt, der Großherzog Ernst Ludwig von Hessen, ihr Onkel, sei 1916 im geheimen Auftrag des deutschen Kaisers im Zarenschloß Zarskoje Selo bei Petersburg gewesen, um Friedensvorschläge zu überbringen. Träfe dies zu, so wäre eine bislang unbekannte, historische Tatsache ans Licht gefördert, und das wäre ein Stein zugunsten der Anna Anderson.

Der Hamburger Historiker Professor Zechlin hat das Problem studiert. Er führt dem Oberlandesgericht Photos vor, die den Großherzog zur fraglichen, Zeit im Westen zeigen, Bücher, die von seinem Aufenthalt an der Westfront berichten. Mit Hilfe von Dokumenten des Hauses Hessen, aus Briefen und Notizen, hat er Tabellen angelegt, die zu beweisen scheinen, daß es die »Hessenreise« nach Rußland nicht gab.

Der Anwalt der Anna Anderson rüttelt an diesem gutachtlichen Vortrag nach Kräften. Rechtsanwalt Wollmann ist der dritte Anwalt der Anna Anderson. Zwei sind der ewig todkranken Frau voll Lebenskraft über diesem Prozeßmarathon hinweggestorben, wie Richter über diesem Rechtsstreit verstorben sind und Zeugen in Fülle. Herr Wollmann ist erst 1962 in sieben Meter Akten, in 54 Leitzordner eingestiegen. Und die Handlung Anastasias besetzt ihre Rollen perfekt. Herr Wallmann blickt dunkel, grollt stets ein wenig. Er ist verhangen und reserviert, ein schmaler, großer, nach vorn gebeugter, personifizierter Zweifel. Er weiß, daß man in dieser Welt alles für möglich halten muß. Er ist exakt der Vertreter einer Frau, der man ihr Recht nicht gönnt.

Sein Kontrahent, der Rechtsanwalt v. Berenberg-Gossler wiederum, ist urban, strahlt die dezente Eleganz der Vernunft aus. Gerade er kann gegen Dinge antreten, die den Verstand beleidigen. Er verfügt über jene Gelassenheit, die dem Vertrauen entspringt, daß denn doch nicht alles möglich ist in dieser Welt. Und bevor er in Erscheinungen aus der Geisterwelt untergeht, die sich nicht ausweisen können, da wendet er sich, wie geschehen, an einen Psychiater, den Professor Bürger-Prinz. Der bestätigt ihm: »Daß dem hohen Gericht diese Pseudoprägnanz der Aussagen nicht auffällig wird und dies Aneinanderreihen von Erlebnisschilderungen im Kleinformat, beeindruckt mich immer wieder.«

Zwischen diesen beiden Männern. zwischen Herrn Wallmann und Herrn v. Berenberg-Gossler, nun kommt es zu einer Szene, in der auch Professor Zechlin mitwirkt, zu einer Szene, in der die Fronten für und gegen Anna Anderson wie im Modell gegeneinanderstehen.

Herr Wallmann widerspricht Professor Zechlin, erinnert an die Zeugen, die ebenfalls von der Hessenreise gehört haben wollen, die man nicht einfach übergehen könne, die ausgesagt und immerhin geschworen haben.

Sein Gegner, den Historiker zur Seite, kanoniert aus Papierrollen zurück, wirft Dokumente und Tabellen in die Schlacht wie Reiterei. Da explodiert Herr Wallmann schließlich, denn was ist Papier, was soll der trockne Damm, den man den Bekenntnissen zu Anastasia entgegenstellt:

»Also wenn ich Sie recht verstehe, dann würden Sie, Wenn jetzt der (längst dahingeschiedene) Großherzog einträte und sagte: die Reise hat stattgefunden -.« »Dann würden wir sagen: Nein, Hoheit«, setzt Herr v. Berenberg-Gossler triumphierend den Satz fort. Und Professor Zechlin ergänzt: denn die Dokumente stehen dagegen.«

Da begegneten sich Welten, nicht nur Prozeßparteien. Für einen Augenblick wurde sichtbar, warum es vielleicht dereinst, wenn der Bundesgerichtshof als letzte Instanz angesprochen werden und entscheiden sollte, ein zivilrechtliches Ende der Sache Anna Anderson geben wird -- und mehr nicht.

Die Mühe um eine Wahrheit, die zwangsläufig das Recht zur Folge haben muß, gelangt in einem Jahrhundertfall wie diesem an ihre Grenze. Sie gelangt dorthin, wo jene Wahrheit beginnt, die »in die alten Zeiten« gehört, »wo das Wünschen noch geholfen hat«.

»Also war und blieb das Schneiderlein sein Lebtag König«, heißt es in diesem Land, das der Zuständigkeit der Justiz entzogen ist. Und »sein Lebtag« bedeutet »für alle Zeiten«, für immer und ewig. In diesen Gefilden lebt alles vom Beginn bis zum Ende der Welt, im Uhrkasten und anderswo.

Ist Anna Anderson die Großfürstin Anastasia oder nicht? Heute ist sie es gewiß. Daß sie es immer war, hat ein weiteres Mal ein Gericht als nicht erwiesen angesehen. Doch diese Geschichte ist noch nicht ganz den Gerichten, indessen schon längst der Geschichte entrückt.

Die Frau in Unterlengenhardt, die inmitten eines Kreises anthroposophischer Freunde lebt und die ein Bundestagsabgeordneter mit »Hohe Frau« anredete, hat einmal gesagt: »I'm the milkcow for the journalists.« Und gelegentlich drangen sogar Richter, die mit ihrer Sache befaßt waren, zu ihr vor. Einer wurde vorgelassen des Morgens. Voraus ging die Betreuerin der Anna Anderson mit der Milch für die Katzen. Dichtauf folgte der Richter. Hinterdrein schritt der Vermögensverwalter der Anna Anderson mit entblößtem Hirschfänger. Die riesigen Hunde, die das Haus der Anna Anderson bewachen, hatten Befehl, passieren zu lassen, doch wer weiß; »Baby«, der Lieblingskoloß, soll sich sogar schon an Herrn Wollmann vergriffen haben. Die beteiligten Anwälte verfolgten den Vormarsch aus sicherer Deckung.

Im Haus fand der Richter Frau Anderson, in einer Zimmerecke thronend, in einen Kimono gehüllt, auf dem Kopf einen Tirolerhut. Das Wunder, wenn hier eins unter uns ist, gibt sich leger. Das spricht nicht gegen die Möglichkeit von Wundern. Das hinterläßt selbst im Ungläubigen nichts als Staunen, Verwunderung -- oder gar Bewunderung. »Recht ist Wahrheit, Wahrheit ist Recht«, steht im Sitzungssaal des Oberlandesgerichts Hamburg, im Rücken des Gerichts an der Wand. Das Motto brachte eine optimistischere Zeit als unsere an.

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