Zur Ausgabe
Artikel 31 / 70

EINE »SPIEGEL«-SEITE FÜR JOHANNES R. BECHER

aus DER SPIEGEL 49/1947

Mein Leben steht in meinen Gedichten. Wer meine Gedichte liest und sich bemüht, sie zu verstehen, der wird daraus auch mein Leben kennenlernen, insofern es eine über das Private hinausragende Bedeutung hat. Der Leser meiner Gedichte wird vor allem erfahren, daß ich ein Süddeutscher bin, mit jeder Faser meines Herzens, und daß den bayerischen Bergen und dem Bodensee mein unendlicher Lobgesang gilt. Der Leser wird alsdann erfahren, warum mein Leben lesenswert ist, und so heißt es in dem Gedicht:

Mein Leben kann euch als ein Beispiel

dienen,

Und darum ist mein Leben lesenswert.

Buch ist in mir ein solcher Mensch

erschienen,

Der maßlos hat vor Zeiten aufbegehrt.

Und Höllen waren, und er fand in ihnen

Einlaß und ist in allen eingekehrt,

Und hat vernichtet und sich selbst verheert

Und riß sein Leben nieder zu Ruinen.

Ein Schlachtfeld lag ihm mitten in der

Brust.

Danieder lag er. Welche Niederlagen!

Zerschlagen hörte er die Leute sagen:

»Den Hoffnungslosen laßt verlorengehn!«

Und aus Verlorensein und aus Verlust

Er gab sich Wandlung und ein Auferstehn.

Es war das schwerste Opfer, das ich jemals gebracht hatte, als ich, 1933, meine Heimat verlassen mußte. Ich habe nie ein Glück außerhalb Deutschlands gesucht. Zu einem Leben außerhalb Deutschlands war ich denkbar ungeeignet. Jede Art von Auslandsdeutschtum war mir wesensfremd. Man wird es nachfühlen können, was solch ein Abschiednehmen gerade für einen Dichter bedeutet, der auf das lebendige Sprachmaterial angewiesen ist, der in deutscher Sprachumgebung seit über 40 Jahren zu leben und zu wirken gewohnt war, und dessen Fühlen und Denken sich abspielt in einer Gefühls- und Begriffswelt, an die er vor allem sprachlich gebunden ist. Scheiden tut weh.

Auch das Auge verwaist, das keinen Ruhe- und Haltepunkt mehr findet und immer, in die Ferne hin, auf der Ausschau und der Suche ist: nach deutschen Menschen, deutscher Stadt, deutscher Landschaft.

Zeit der Verbannung! Du bitterste Lehre! Du strengste aller Schulen! Jahrzehnt der Zucht!

Ein Deutscher sucht Deutschland. Was soll ich von meinen Traumfahrten berichten, die mich ein Jahrzehnt lang durch alle Gegenden Deutschlands führten, »das Land der Sehnsucht mit der Seele suchend«, und wo ich immer wieder diesen starken, stillen Menschen begegnete, diesen »beredten Schweigern«, diesen »Stillen im Lande«, deren Schweigen und Stille, wie ich hoffte, eines Tages sich zu einem Auferstehungsturm erheben würden.

In solch einer erzwungenen Distanz klärt und läutert sich der Blick, sich selbst, dem eigenen Volke, der Geschichte gegenüber. Das Zufällige scheidet sich von dem Notwendigsten, das Wertvolle trennt sich ab von dem Wertlosen, und nur das Beste besteht und erhöht sich in seinem Bestand. Im Verlust ward mir Gewinn ...

Millionen deutscher Menschen sind inzwischen inmitten der eigenen Heimat heimatlos geworden und werden nun gleich mir erfahren müssen: was Heimat ist. Diese leidvolle Erfahrung wird einem werdenden Deutschland zugute kommen, das gegründet sein wird auf einer Vaterlandsliebe, wie sie nur solch eine Zeit der Heimatlosigkeit in uns wachsen lassen kann.

Zeit fern der Heimat: du marternde Schwebe zwischen Leben und Tod, und von einer brennenden Ungeduld war ich besessen, wenn mir nur die Möglichkeit geboten war, und sei es auch ein lebensgefährliches Wagnis, zurückzukehren dorthin, wohin mich zwölf Jahre angstvollen Sehnens zog: zum Ursprung, zur Mutter, zur Heimat meines Wesens - nach Deutschland.

Wie könnte es auch anders sein, als daß ein Deutscher, und gar ein deutscher Dichter, nicht alles aufbietet, nicht all das Seine tut, um bei seinem Volke zu sein, um inmitten seines Volkes zu sein, wenn es heute so schwer wie nie daniederliegt - was wäre unser warnendes, aufrufendes Wort wert gewesen, wenn wir ihm nicht, sobald wie nur irgend möglich, in die Heimat selber nachfolgten:

Wenn ich ein Trümmerland auch wiederfand,

Bist du es doch, mein Deutschland, Vaterland.

Fand ich dich auch verarmt und sterbensbleich,

Bist du es doch: Deutschland, mein Märchenreich.

Fand ich dich auch verhärmt und ohne Ruh,

Bist du es doch: Heimat und Mutter du...

Stunde - der Erlösung! Junitag! Du Sommer-Glückstag!

Als ich in Berlin mit dem Flugzeug auf dem Tempelhofer Feld inmitten der Ruinen landete, da noch eine Wolke von Brandgeruch über den Trümmern stand, und als ich dann durch die Schluchten unkenntlich entstellter Straßen fuhr, und die hin- und herwogende Flut der Flüchtlinge sah, und in die Seelen dieser Menschen hineinhorchte, und ich fühlte, wie diese Seelennot auch in ihrem abgestumpften, verstörten Schweigen um Hilfe schrie, da wurde mir endgültig zur Gewißheit, was ich bisher nur geahnt hatte, daß ein neuer Tag auch meines Lebens angebrochen sei, und daß ich mit dem mir noch verbleibenden Rest nur mehr dem einen zu dienen habe: dem Wiederaufbau, dem Auferstehen Deutschlands.

Es war ein großer Traum, dessen Verwirklichung ich mit meinem Leben diente: »Der Traum vom vollendeten Menschen«. Dieser gewaltige, ewige Menschheitstraum, dem ich mich, ihn zu träumen, ergeben hatte, besteht wohl - aus vielen Teilen, sieben insbesondere sind es, die mein Werk bestimmt haben: Der Traum von der Schönheit, Traum einer großen Dichtung, der Traum von der Allmacht der Vernunft, der Traum von der Macht der Wahrheit, der Traum von der sozialen Gerechtigkeit und der von der nationalen Freiheit, und der Traum von Vergänglichkeit und Unsterblichkeit. In der Verbindung von Wirklichkeit und Traumwunder, als eine Art realer Vision, erstand mein Gedicht, und wenn man mich, meist sehr oberflächlich, als politischen Dichter bezeichnet hat, so ist diese Bezeichnung richtig nur dann, wenn

um bei näherliegenden Beispielen zu

bleiben - Hölderlin und Gottfried Keller politische Dichter sind, keineswegs aber bin ich ein politischer Dichter, wenn ein Freiligrath oder ein Herwegh als Prototyp des politischen Lebens gilt. In vielen Gedichten habe ich über das Gedicht selbst geschrieben; und immer schien mir ein Gedicht gelungen zu sein, wenn es mir gelang, einen realen konkreten Vorgang in einer Art und Weise zu gestalten, das in ihm das »Andere« einer transparenten Welt zugleich auch durchsichtig wurde, wie es in dem Sonett heißt:

Als Vordergrund: die Zeit. Ihr Widerstreit.

Der Schöpferwille, DIE Zeit zu gestalten.

Der Mensch: wie er sich losringt von den alten

Gewalten und von DER Zeit sich befreit.

Im Hintergrund droht die Vergänglichkeit.

Das Nichts in seinem ungeheuren Walten.

Der Mensch: wie er bemüht ist, sich zu halten

In Raum und Zeit - o Nichts-Unendlichkeit!

Wer eines von den beiden läßt vermissen,

Der hat des Lebens Hälfte nur erkannt.

Es bleibt der Mensch in Raum und Zeit gebannt,

Und dennoch muß er um das Nicht-Sein wissen.

Von beiden nicht zu wenig, nicht zuviel

Ergibt der Dichtung Licht- und Schattenspiel.

Geboren 1891 in München als Sohn eines Richters. Wollte ursprünglich Offizier werden, studierte dann aber Philosophie und Medizin. 1914 Kriegsdienstverweigerung. Seine revolutionären Gedichte brachten ihm mehrere Strafverfolgungen ein. Emigrierte 1933, erst in die Schweiz und nach Frankreich, dann nach Rußland. Nach der Rückkehr 1945 ließ er sich zuerst in Meersburg am Bodensee nieder, zog dann nach Berlin. Initiator des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, dessen Präsident er ist.

Johannes R. Becher

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 31 / 70
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren