»Eine unsäglich scheußliche Sprache«
Niemand sei »so phantasielos, daß er ein Wort nur auf eine Weise zu schreiben wüßte«, schrieb einmal Mark Twain, der amerikanische Schriftssteller, und im Deutschen ist das nicht anders.
Was sich zum Beispiel aus dem Wort »wißbegierige« noch alles machen läßt, erfuhr der Augsburger Pädagogikprofessor Werner Glogauer, als er sich Arbeiten von Realschülern ansah: »Wiesbegirige«, »wissbegiehriege«, »wissbegerige«, »wispigirige« oder auch, in einer Kurzform, »wißberiger«.
Eigenwillig können da auch Lehrer sein, wie einer im holsteinischen Ahrensburg, der in dem Diktat-Satz »der Apfel fiel vom Baum«, das »fiel« in »viel« korrigierte und bei dem richtig geschriebenen Wort »kaputt« ein »p« hinzufügte und ein »t« tilgte. Die beiden Fehler strich er natürlich dem Schüler an.
Der Mann ist kein Einzelfall. Ein gelöster Umgang mit der deutschen Schrift ist heutzutage in vielen Lebensbereichen zu beobachten.
Über den Anschluß vom »Nachvollger« informiert die Deutsche Bundespost, der Heizungsmann wiederum teilt etwas mit über die »Gasmänge«. In Niedersachsen nehmen angehende Inspektoren die Rechte des Amtes »war«, sie sind »verwaltent« tätig, und mit dem, was übrigbleibt, füttern sie manchmal den »Reiswolf«.
»Wie sollen die«, fragt sich Siegfried Krenke, Leiter des Studieninstituts der allgemeinen Verwaltung dieses Landes, »später eine Bauverfügung schreiben?« Ähnliche Zweifel bewegen den Essener Medizinprofessor Eberhard Passarge, Direktor des Instituts für Humangenetik am Universitätsklinikum, weil er »ja eigentlich nur mit den besten Numerus-clausus-Leuten zu tun« hat.
Doch »die jungen Leute«, hat er bemerkt, »haben heute Schwierigkeiten, sich der deutschen Sprache in Wort und Schrift zu bemächtigen«. Und im benachbarten Aachen, an der Rheinisch-Westfälischen Hochschule, fällt das der Elite auch ziemlich schwer.
Dort hat gerade ein Grundkurs Deutsch begonnen, insbesondere für Diplomanden und Doktoranden. Den Wispigirigen aus allen Fakultäten möchte der Philologieprofessor Luwig Jäger nicht allein beibringen, korrekt zu schreiben, sondern auch helfen, das erworbene Wissen verständlich wieder abzugeben.
Männer, die dazu etwas zu sagen haben, äußern sich inzwischen mit aller
Deutlichkeit. Das sei »doch alarmierend, das muß bekämpft werden«, formuliert schnörkellos der Oberstudiendirektor Uwe Schmidt, Schulleiter in Hamburg und aktiver Sozialdemokrat. Die Kinder, sagt der Bielefelder Pädagogikprofessor Hartmut von Hentig, »haben kein genaues Wortbild mehr im Kopf«.
Alarm von überall her: »Die sprachliche Ausdrucksfähigkeit«, berichtet der Essener Literaturwissenschaftler Professor Horst Albert Glaser vom Campus, »ist auf ein bislang unbekanntes Minimum zusammengeschnurrt.« In regelmäßigen Abständen bringt wenigstens eine der westdeutschen Industrie- und Handelskammern schlechte Noten über die Rechtschreibung ihrer Azubis in Umlauf. In einem Test etwa, den die hessischen Kammern mit 5000 Berufsanfängern veranstaltete, hagelte es Fünfen und Sechsen; rund 30 Prozent der Prüflinge, die meist die mittlere Reife hatten, zeigten keine ausreichende Leistung. Und die Betriebe können das nur bestätigen.
Obschon es doch nun mehr Auszubildende mit Realschulabschluß und Abitur gebe, wundert sich der Leiter des Bildungswesens bei Daimler-Benz in Stuttgart, »befinden sich die Fertigkeiten in der Rechtschreibung auf einem bedauerlich niedrigen Niveau«. Die Ausbildungsleiterin bei Karstadt in Hamburg bleibt mit dem Niveau bei ihren Einstellungsprüfungen schon ganz unten, hat aber dadurch auch keine Freude.
Sie verliest ein Diktat von zwölf Sätzen, mit einfachem Satzbau, ohne Fremdwörter. Es wird langsam gesprochen, und die Satzzeichen sagt sie lieber gleich an. Doch der Durchschnitt liegt bei 25 Fehlern.
Bei der Polizei fallen entsprechende Erkenntnisse auf allen Dienstwegen an. 31 Prozent der Hauptschüler versagten letztes Jahr bei einem Schreibtest, den die baden-württembergische Bereitschaftspolizei 1 219 Bewerbern vorlegte. Von den Kandidaten für den mittleren
Vollzugsdienst in Schleswig-Holstein, die mittlere Reife haben müssen, konnten 50,2 Prozent gleich wieder nach Hause gehen, weil sie im Diktat eine Fünf oder Sechs gelandet hatten. Beim Eignungstest der Berliner Kripo für den gehobenen Dienst, der sogenannten Kommissar-Laufbahn, scheiterten am Schriftlichen 297 von 518 Bewerbern, sämtlich mit Abitur oder Fachhochschulreife.
»In vielen Fällen beherrschen Realschüler bis hinauf zu den 10. Klassen nicht die rechtschriftlichen Grundfertigkeiten«, fand der Augsburger Wissenschaftler Glogauer, nachdem er 6000 Schreibtests aus diesem Schulzweig untersucht hatte. Und überdies sei »das Niveau der allgemeinen Sprachbeherrschung bei zahlreichen Realschülern niedrig«. Doch auf die Schulart kommt es dabei wohl gar nicht mehr an.
Daß Hauptschüler, die Restposten des deutschen Bildungsbetriebs, mit erheblichen Mängeln auf dem Arbeitsmarkt erscheinen, ist der Kundschaft vertraut. Aber nun hat der Berufsbildungsfachmann bei der IHK Berlin »ein neues Phänomen« wahrgenommen, »nämlich, daß inzwischen immer mehr Abiturienten Rechtschreibschwächen zeigen«.
»Erschreckend, ganz unabhängig von der Schulbildung«, beschreibt der Ausbildungsleiter der Hamburger Commerzbank die Lage, den es außerdem wurmt, wenn wieder einmal einer die »Comerzbank« angeschrieben hat. Clemens Christians, Vorsitzender des konservativ gestimmten Deutschen Lehrerverbandes und Leiter eines Gymnasiums in Hamm, traf jetzt ausgerechnet an seiner Penne angehende Abiturienten, »wo es einfach schrecklich ist, einfach schrecklich. Ich frage mich, wie die so weit gekommen sind«.
Das Entsetzen wird von den immer wieder gleichen Fehlern hervorgerufen. Zu den Unwägbarkeiten moderner Textverarbeitung zählt vor allem die Groß- und Kleinschreibung, und nicht immer ist das so schön wie bei Birgit, 10, aus Frankfurt: »Es war einmal ein Mexikana, der Tantste wie ein wilder.«
Die Schüler haben Streit mit der Dehnung ("Wir lehrnen nicht für die Schule"). Oder mit gleich und ähnlich klingenden Lauten, denen sie sich »schwärlich entziehen« können, und insgesamt fehlt es oft an der »Kwalifikation«. Den Gipfel erblickte, soweit ersichtlich, ein Berufsschullehrer in Nordrhein-Westfalen. In dessen Klasse gelang es einem Schüler, in einem Wort mit vier Buchstaben sechs Fehler unterzubringen. Aus dem Hemd wurde ein hämmptt.
Doch es gibt auch den Lehrer, bei dem es vom Baum vällt, und in den Büros den Reiswolf: Hinter die Zukunft der deutschen Sprache, eines der ältesten Kulturgüter, das die Nation zu bewahren hätte, und so ziemlich das wichtigste, gehört augenscheinlich ein Fragezeichen.
Zum beliebigen Gebrauch steht offenbar dieses Kunstwerk, dem die Dichter und Denker erst ihren Namen verdankten, »so reich, so schön«, wie Heinrich Heine schrieb, für Jean Paul gar »die Orgel unter den Sprachen«. Und nun hört es sich, wenn das Bild Bestand haben soll, oft so an, als werde dieses volltönende Instrument nur noch mit Füßen getreten.
Folgt man dem Kölner Sprachdidaktiker Professor Hans Messelken, einem Wissenschaftler, der nicht zur Übertreibung neigt, dann ist der Verfall bereits fortgeschritten: »Unsere Gesellschaft hat sich lange schon von der Schriftkultur abgewandt.« Doch woran kann es liegen, daß die Rechtschreibung bei vielen Bürgern zur Glückssache geworden ist, daß nicht nur die Grammatik verkommt, sondern auch das Ausdrucksvermögen, die Sprachbeherrschung schlechthin? Sind es, woran jeder gleich denkt, die faulen Schüler oder die dummen Lehrer? Oder die Schule, und wieder so eine Reform, die nur anderes, aber nicht Besseres brachte?
Ist Deutsch zu schwer geworden für die Zeitgenossen, wie derzeit so manches, was Mühe macht und keine Lust? Oder ist es der Übermacht von Bild und Ton erlegen, die einem nicht mehr aus dem Kopf will? Denkbar schließlich, daß hinter dem Alarm nur eine Art Bildungsdünkel steckt, anachronistischer Hochmut über vergessene Kommas und verkrüppelte Sätze. Kritik am Niedergang der Schriftsprache bleibt denn auch nicht ohne Widerspruch. Der ist vor allem aus der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft zu hören, die sich an der Spitze des pädagogischen Fortschritts weiß, und überhaupt von Lehrern, die sich zu Recht für Betroffene halten.
Der Nürnberger Professor für Berufspädagogik Adalbert Ruschel hat »den Eindruck«, daß die Handelskammern »da Jahr für Jahr ihren billigen Auftritt in der Presse haben«. Die »stürzen sich auf die Rechtschreibung«, erbost sich ein Hauptschulleiter im rheinischen Düren, »und damit können die in Deutschland jeden erschlagen«.
Schlüssig ist das allerdings nicht, denn die Schlagwerkzeuge stammen oft aus dem schuleigenen Arsenal. Für einen landesweiten Test ließen beispielsweise die nordrhein-westfälischen Handelskammern die Aufgaben von Hauptschullehrern entwerfen und dann erst einmal in den Klassen ausprobieren. Und mit
fachlicher Beratung legen oft auch Firmen oder Verwaltungen ihre Prüfungen an.
Klagen über Rechtschreibung gab es, andererseits, auch schon um die Jahrhundertwende, und in den dreißiger Jahren ließ Krupp seinen Lehrlingen Nachhilfe erteilen, weil sich »die mitgebrachten Kenntnisse als unzureichend erwiesen«. Vorsicht gebietet zudem die furchterregende Vielfalt des Regelwerks, das die Verwendung der mindestens 300 000 deutschen Wörter aufs Peinlichste vorschreibt.
»Die deutsche Orthographie läßt sich gar nicht lernen«, sagt ein Realschullehrer aus Frankfurt, »sie war schon immer das Schulkreuz, das alle drückte, Lehrer, Schüler, Eltern.« Sprachforscher strichen bereits dem Geheimrat Goethe anhand eines einzigen Briefes ein Bündel ungewöhnlicher oder unerlaubter Schreibweisen an, und der Dichterfürst, so ist anzunehmen, hätte beim Test einer westdeutschen Handwerkskammer nicht gut ausgesehen.
Ein einheitliches Deutsch gab es zwar dazumal nicht, doch seit Konrad Duden 1880 sein »Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache« vorlegte, ist die Sache nicht leichter geworden. 78 Regeln nur für die Groß- und Kleinschreibung sind dort inzwischen angegeben, 20 gibt es für die Silbentrennung, 50 zum Bindestrich, 20 zum Apostroph und 83 für das Zusammen- und Getrenntschreiben.
Daraus werde einer schlau, und in der privat betriebenen Dudenredaktion zu Mannheim gehen denn auch jährlich an die 8000 Anfragen ein. Immer wieder werden dabei Lücken entdeckt, was, wie der Siegener Sprachwissenschaftler Professor Gerhard Augst anmerkt, »nur dazu führt, daß die Normen - z.B. in der Zeichensetzung - von Auflage zu Auflage wachsen wie ein Krebsgeschwür«.
Schwierig wird es mit der Normierung etwa dadurch, daß im Deutschen fast jedes Wort zum Substantiv werden kann, und oft ist nicht auszumachen, ob es sich noch um ein Verb, ein Adverb oder ein Adjektiv handelt oder schon um ein Hauptwort: Angst haben oder ihm ist angst, das Schwarze Brett oder die schwarze Liste, in bezug auf oder mit Bezug auf.
Daß man Bettuch nicht mit drei »t« schreibt, weiß mancheiner ja noch; aber wer ahnt schon, daß laut Duden-Regel 204 immer dann, wenn auf drei gleiche Konsonanten noch ein vierter folgt, keiner von denen wegfallen darf - und es dann Auspuffflamme heißt, Pappplakat, Balletttruppe oder fetttriefend.
Auf Bosheiten dieser Güte wird von Schulmeistern und Lehrplanern gern verwiesen, sobald die Rede auf den schludrigen Umgang mit der deutschen Sprache kommt. Auch Akademiker alten Schlages können schwierige Sätze selten fehlerfrei schreiben. Aber an den Besorgnissen, die nun vorgetragen werden, gehen solche Einwände vorbei.
Kritiker, die ernst zu nehmen sind, zielen keineswegs auf ein gestochenes, gleichsam preiswürdiges Deutsch. Sie wären oft schon zufrieden, wenn Glogauers Realschüler wüßten, ob sie nun emblösten, endblöstem, emplöstem oder vielleicht doch »entblößtem« schreiben sollen. Zur Debatte steht vielmehr ein grundsätzlicher Ideenwandel, dem die Sprache seit gut zwei Jahrzehnten unterworfen ist.
Sichtbar wurde das Phänomen im Oktober 1972, als im sozialdemokratisch regierten Hessen neue Rahmenrichtlinien für den Deutschunterricht in der Sekundarstufe I vorgelegt wurden. Pauken in der Schule oder sonstwo war um jene Zeit gerade in Mißkredit geraten, und die Rechtschreibung kam wie gelegen.
Statt der »Einübung in die Normen der 'Hochsprache'«, die schon immer eine Plackerei gewesen war, wurde nun die »sprachliche Kompetenzerweiterung« angesagt, und das »Erlernen der Rechtschreibung« erschien »demgegenüber als ein sicher wichtiger, aber sekundärer Bereich«. Für die Autoren war es höchste Zeit, daß »die Überbewertung der Rechtschreibung in der Schule und Öffentlichkeit korrigiert werden muß«.
Den Reformern ging es nicht nur darum, die unterschiedlichen Ausgangspositionen auszugleichen zwischen Schülern, die aus einfachem Hause kamen, und anderen, die einem sprachlich besser ausgestatteten Milieu entstammten - ein erstrebenswertes Ziel. Nicht nur der manchmal aberwitzige Drill sollte abgeschafft werden, der Stumpfsinn, der oft die Deutschstunde beherrschte.
Dem Entwurf war auch zu entnehmen, »daß diese 'Hochsprache' bislang stets eine Gruppensprache gewesen ist, die als verbindliche Sprache durchgesetzt und bei der Schichtung der Gesellschaft als Mittel zur Stabilisierung dieser Schichtung benutzt worden ist«. Auf deutsch: Die Sprache war als Herrschaftsinstrument entlarvt, und die ideologische Botschaft, die in diesen Richtlinien steckte, reichte weit über den Schulhof hinaus.
Der hessische Text löste damals heftige Kontroversen aus, politische wie pädagogische.
Die Unionsparteien sahen sogleich das ganze System in Gefahr. Aber es gab auch Einwände, die sich hören lassen konnten. Wurde da nicht womöglich die Ungleichheit der Chancen gefestigt, wenn es benachteiligten Kindern verwehrt war, sich in der »Hochsprache« hinreichend zu üben?
Zum gesellschaftspolitischen Teil spottete der Historiker Golo Mann, »daß in Zeitaltern, die keinerlei Rechtschreibung kannten, die Herrschaft ziemlich brutal und munter ausgeübt wurde«. Und auf linke Traditionen konnten sich die Richtlinienplaner auch nicht berufen. Alte Sozialdemokraten und Gewerkschafter waren noch darauf aus gewesen, über Bildungsvereine oder ähnliche Einrichtungen Wissensrückstände wettzumachen - nicht aber Besserwisser auf den eigenen Standort herunterzuholen.
Der erste Hessen-Entwurf wurde zurückgezogen, aber die Verklärung der »mündlichen Sprachkompetenz« ergriff die Pädagogen bundesweit. Es lag einfach an der »gesellschaftspolitischen Großwetterlage«, erinnert sich heute ein Schulleiter in Hamburg. Sicher ist, daß diese Richtlinien nur ein erster Reflex auf eine breite ideologische Grundströmung waren, Folge eines Bildungskonzepts, das die »Schule für alle« vorsah.
»Durch die soziolinguistische Diskussion nach 72 ist das ganze noch viel wirksamer geworden«, erläutert nun der Germanistik-Dozent Klaus Bayer aus Hannover, und mitbeteiligt war »ein Wandel in der Sprachwissenschaft«, die damals die mündliche Kommunikation entdeckte. Selbst die Fremdsprachen gerieten in den Trend; da wurde nun kaum noch aus dem Schriftlichen übersetzt, es wurde geredet.
Zum höheren Bildungsgut zählt seit jenen Tagen die »Erweiterung der Fähigkeit, sich in umgangssprachlicher Kommunikation als realer Sprecher-Hörer mit anderen zu verständigen«. Oder, außerhalb der Richtlinien gesagt: mit dem Mundwerk gut umgehen zu können.
»Die Schwerpunkte im Fach«, sagt nun eine Grundschullehrerin, »haben sich verlagert. Heute müssen wir Diskutieren üben«, und ein Kollege bestätigt: »Statt jedes Wortbild auf Rechtschreibung zu trainieren, müssen wir Argumentieren lehren.«
Wenn schon geschrieben wird, dann sollen es wenigstens »Schreibanlässe« aus des Schülers Alltag sein, Übungen, die das engere Umfeld betreffen, nicht aber so weit entfernte Leute wie den Wilhelm Tell aus der Schweiz. Zu den Unterrichtsmitteln gehören mehr und mehr hektographierte Blätter, Plakate, Texte für Informationsstände oder Texte für Straßentheater.
Einen »Irrtum über die Natur sprachlicher Kommunikation« sieht Dozent Bayer in dieser Umkehr, der letztlich nur »diffuses Geschwätz« hervorbringe. Zu den Leidtragenden des Irrtums gehören, was paradox klingt, die Kinder mit einer angeborenen Schreib- und Leseschwäche - Legastheniker. Bis Ende der siebziger Jahre genossen solche Schüler in allen Bundesländern wenigstens auf dem Papier besonderen Schutz und gezielte Förderung. Als dann aber die Zahl der Kinder, die mit der Rechtschreibung Schwierigkeiten hatten, stetig stieg, kam der Verdacht auf, die seien einfach nur faul, wenn nicht dumm oder mindestens doch milieugestört.
Die Soziologen nahmen sich der Sache an und entdeckten, daß Legasthenie nichts weiter als ein »Konstrukt« sei, eine herbeigedachte Erscheinung. Da Legastheniker in der Schule Arbeit machen, ihre Schwäche nur durch planvolle Nachhilfe gelindert werden kann und ihr Problem im Zuge der kommunikativen Revolution ohnehin nicht mehr so ernst zu nehmen war, wurden sie durch Erlaß abgeschafft. Seit Ende der siebziger Jahre werden sie in den meisten Ländern nicht mehr unterschieden von allen anderen Schülern mit Schreib- und Leseschwierigkeiten.
Über die Ursachen der Legasthenie ist sich die medizinische Forschung noch nicht einig. Daß es sie gibt, kann keine Frage sein, wenn sie nur sauber bestimmt wird - als eine Lese- und Rechtschreibeschwäche bei gleichzeitig durchschnittlicher oder überdurchschnittlicher Intelligenz. Jahr für Jahr werden nun einige Zehntausend begabter, oft hochbegabter Legastheniker allein der Obhut weniger Fachleute und verzweifelter Eltern überlassen.
»Im Deutschunterricht« beschreibt Fachmann Messelken die pädagogische Lage der Nation, »ist gerade im letzten Jahrzehnt die mündliche Sprachgestaltung derart weit in den Vordergrund gerückt, daß man in vielen Fällen schon über eine Abkehr von der Schrift und ihrer Kultur reden kann«. Und »selbst unter vielen sich als links verstehenden Hochschullehrern«, so ist nun in der
Fachpublikation »Diskussion Deutsch« zu lesen, »werden kulturkritische bis kulturpessimistische Argumente laut: Rückgang der Lesekultur und der schriftsprachlichen Kompetenz wird von vielen beklagt als 'De-Kultisierung'«.
Die Suche nach dem treffenden Ausdruck ist weitgehend aufgegeben worden. Wortbrocken entheben der Mühsal, ganze lange Sätze hersagen zu müssen, und in der gymnasialen Oberstufe befassen sie sich, wie etwa die niedersächsischen Richtlinien vorschreiben, lieber mit den »Problemen einer heutigen Rechtschreibereform« und »äußern sich dann«, sagt ein Lehrer, »hochgelehrt über den Repressionscharakter der deutschen Rechtschreibung, und kein Satz ist orthographisch und grammatisch korrekt«.
So manchen der Kollegen aber stört das nicht mehr, und anderen fällt es vielleicht gar nicht erst auf. Denn auch die Azubis für das Lehramt haben auf Schriftdeutsch keinen Bock mehr. »Im Zuge der gesamtgesellschaftlichen Diskussion«, beschreibt ein Stuttgarter Schulamtsdirektor die Entwicklung, »war jeder verdächtig, der 'rechtschrieb', das war ein Indiz für Oberschicht und elitär. Und dieses Werturteil schlug sich auch in der Didaktik nieder und somit auch in der Ausbildung an den Pädagogischen Hochschulen.«
Auch viele Jahre später noch gehört das zu den Dingen, über die man besser nicht spricht. Als sich zum Beispiel dem Literaturprofessor Glaser die Arbeiten angehender Deutschlehrer als »ein chaotisches Gelabere präsentierten«, entlud sich auf ihn der Zorn fortschrittlich aufgelegter »Zeit«-Leser. Immerhin macht es nachdenklich, wenn jetzt ein Junglehrer das baden-württembergische Kultusministerium darum bittet, »fähr« behandelt zu werden, wenn ein anderer den »Refferenten« anschreibt und sich rundum die Klagen mehren, daß in Klassenarbeiten richtiges Deutsch als falsch angestrichen wird.
»Die Lehrer einer bestimmten Generation«, bewertet Pädagoge von Hentig auch die mündliche Sprachkompetenz, »sprechen eine unsäglich scheußliche Sprache.« Von kollegialer Seite, etwa von der Vorsitzenden des DGB-Bildungswerks, Ilse Brusis, einem langjährigen Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, erhalten sie dann Briefe wie diesen: »Es haben sich doch noch Terminschwierigkeiten eingestellt, die uns die Absage geboten erscheinen lassen und wir keinem Kollegen zumuten wollen nach Hattingen zu kommen, wenn wir auf dieses Informations-Wochenende verzichten müssen.«
Es wird öfter mal den Falschen treffen, wenn Ausbilder oder Sprachforscher am liebsten gleich die gesamte Schullandschaft zum Sanierungsgebiet ausrufen möchten. So alternativ wie in der Bildungsszene mit ihrem Nebeneinander von Lehrplänen und Lernzielen, lobenswerten Neuerungen und verfahrenen Reformen geht es nach dem Urteil von Praktikern auch in der Deutschstunde zu.
In vielen Klassen wird nur mehr das Allernötigste geschrieben oder abgeschrieben. Arbeitsblätter und Merkblätter und noch mehr Blätter sind bei der Hand, und schließlich gibt es Kopiermaschinen. »Der unvermeidlich sehr hohe Anteil an geduldigen und gehäuften reproduktiven Abläufen, wie sie die Rechtschreibung nun einmal verlangt«, so erleidet Hans Messelken den Klimawechsel, »paßt nicht in das lustbetonte Bild der heutigen Schulpädogogik.«
Den Germanisten Bayer betrübt es, daß zunehmend auch ältere Lehrerjahrgänge auf die traditionellen Übungsformen verzichten - »sie stoßen die Leiter um, auf der sie selbst den Baum erstiegen haben, und machen sich und anderen weis, die Schüler könnten fliegen«. Und dabei ist die Zeit für solche Luftfahrt knapp bemessen.
Mal fünf, mal auch nur vier Stunden in der Woche sind für Deutsch in den Grundschulen reserviert. Vor einem Jahrhundert standen dem Volksschullehrer noch zwölf Stunden zur Verfügung, und im 4. Schuljahr der DDR sind es jetzt sogar 14 Stunden. Im Westen, sagt ein Schulrat in Westfalen, »müssen Lehrer das, was sie nicht gelernt haben, in wesentlich kürzerer Zeit bei erheblich gesteigerter Anforderung vermitteln«.
Ist nur wieder die Schuld schuld, und die Lehrer sind sich selber böse? Auf die Kinder, die dort in den Klassen sitzen, die zappelig sind und oft nicht mitbekommen, was gerade gesagt wurde, und das andere auch schlecht behalten, muß wohl noch anderes einwirken als die Zettelkultur. Und so ist denn die Suche nach den Ursachen der drohenden Sprachlosigkeit längst auf weitere Bereiche der westdeutschen Gesellschaft ausgedehnt worden. Manche Indizien weisen darauf hin, daß für die Abwendung von der Schrift und die Scheu vor kompletten Sätzen nicht nur so hochstehende Erscheinungen wie die soziolinguistische Diskussion in Frage kommen.
Wie immer, wenn der Kulturverfall auf dem Programm steht, ist das Fernsehen dabei. Eine Untersuchung der Berliner Pädagogin Renate Preibusch-Harder bei Vorschulkindern und Erstkläßlern zum Beispiel ergab, daß »diejenigen Kinder, die häufig in Ein-Wort-Sätzen sprachen, eher 'Vielseher'« waren, »'Wenigseher' hingegen sowohl über einen diversifizierten Wortschatz als auch über eine Vielzahl grammatischer Strukturen« verfügten.
Die Forscherin will nicht ausschließen, daß so etwas auch mit der familiären Kommunikation zusammenhängt, die vom Einschaltknopf ausgeschaltet wird. Aber sie vermutet doch einen Zusammenhang zwischen hohem Fernsehkonsum, kindlicher Motorik, Denk- und Sprachfähigkeiten. Daß die Bildflut unmittelbar auf die Entwicklung des menschlichen Gehirns schlägt, gehört inzwischen zum festen Repertoire der Fernsehkritiker.
Amerikanische Untersuchungen beispielsweise behandeln die beiden Hälften des Gehirns, die ihre Geschäfte ziemlich unabhängig voneinander betreiben: Der linken »Hemisphäre« wird die Verarbeitung des sprachlichen Materials zugeordnet; die rechte hat, obschon das noch nicht zweifelsfrei belegt ist, mehr mit den räumlichen und optischen Eindrücken zu tun. Zwar halten die beiden Partner enge Verbindung, aber lediglich bei Bedarf - und der sei, so heißt es, in der nur vorgespielten Welt des Fernsehens nicht vorhanden.
»Insbesondere das allgemeine Integrationszentrum in der linken Hirnhälfte«, so der Medienexperte Jerry Mander ("Schafft das Fernsehen ab"), »verfällt in einen Zustand der Untätigkeit. Fernsehen findet auf der Bewußtseinsebene des Schlafwandelns statt.« Arbeitslos gammle die Sprachabteilung auf der Linken dahin - oder werde gar nicht erst eingerichtet.
Auch einheimische Experten weisen darauf hin, daß optische Wahrnehmung ein hohes Maß an sogenannter Vorverständigung bewirkt, den Drang zum Erzählen bremst und große Worte entbehrlich macht. Deutschkundler haben sogar herausgefunden, daß die Wortanteile von Spielfilmen, die von Jugendlichen gern besucht werden, sich in den letzten zwanzig Jahren erheblich geändert und abgenommen, sich sprachliche Vorbilder dadurch gewandelt haben.
Was früher noch mit dem Füller zu leisten war in Briefen, in Notizheften oder Tagebüchern, wird nun lieber mit elektronischer Hilfe erledigt. Selbst die Erstkläßler greifen zum Telephon und Kassettenrecorder, das ist leichter und auch nicht so verbindlich. Und einer durch Anschauung geprägten Jugend, die mit Vorliebe Comics mit all ihrem »Ächz« und »Würg« oder Schlager wie »Da da da« konsumiert, die reist, keine Bücher liest, und der vermeintliches Weltgeschehen frei Haus über den Bildschirm geliefert wird, könnte eine Rückkehr zur Schriftkultur geradezu als Anschlag auf ihr Lebensgefühl erscheinen. Mit sprachlichem Wohlklang oder erst Rechtschreibung, diesem trockenen Stoff, läßt sich beim besten Willen keine sinnliche Erfahrung machen.
Unter Alternativen wird die spröde Rationalität, wie sie Texten oft eigen ist, ohnehin haftbar gemacht für die Entfremdung des Menschen und den Verlust an ursprünglicher Orientierung. Reglementiert ist, wie sie wissen, viel zuviel im Leben, und dann kommt da noch einer mit der Orthographie.
Den Normen aller Art traut keiner mehr unter dreißig, und mühevolles Streben, bekannt auch als Leistungsdruck, scheint noch immer derart in Verruf zu sein, daß selbst ein so freier Geist wie Erich Fromm »der heutigen Jugend« zu bedenken gibt, »Anstrengung, Hingabe, Konzentration« gehörten »zum Wesen einer vollentwickelten Persönlichkeit«, und »wenn einer glaubt, Bummelei qualifiziere ihn zum Revolutionär, so irrt er gründlich«.
Leistungsträger, die dagegen anklotzen möchten, sollten sich allerdings vorsehen. Denn diese Stimmungen und Gewohnheiten unter Jungbürgern, die auch die Wende noch nicht ganz hat auffangen können, verbinden sich am Ende mit einer stetig fortschreitenden Sprachsparsamkeit der gesamten Industrienation.
Da sind in zahlreichen Betrieben die einst üblichen Arbeitsberichte von Mitarbeitern durch Vorgedrucktes ersetzt, auf dem abgehakt wird oder numeriert. In der verdateten Wirtschaft erfahren Sekretärinnen vom Chef gerade noch den Adressaten, die Anredeform und die Code-Nummern der Absätze, die geschrieben werden sollen; alles weitere besorgt der Briefdruckapparat. Auf Maschinen sind, im Zuge weltweiter Verflechtungen, Worte kaum noch zu finden, statt dessen Symbole oder Leuchtzeichen, Piktogramme begleiten durchs Leben.
Ein Buch aufzuschlagen, in der Freizeit und nur so zum Vergnügen, muß unter solchen Umständen Überwindung kosten. Bodo Franzmann, zuständig für den Forschungsbereich bei der Deutschen Lesegesellschaft, hat einen harten Leserkern von etwa zehn Prozent der erwachsenen Bevölkerung ausgemacht, »und diese Leute lesen immer mehr«. Im übrigen aber hat er »den Eindruck, daß einfach die Lesefähigkeit und die Lesebereitschaft zurückgehen« - und damit dann das wichtigste Feld passiver Sprachübung außerhalb der Schule.
Zwar sind die Umsätze bei Kinder- und Jugendbüchern in letzter Zeit stetig gestiegen; erheblich zugelegt haben in den vergangenen Jahrzehnten auch die Auflagen aller Zeitungen und Zeitschriften. Doch verläßliche Untersuchungen darüber, ob das Gebundene, das auf dem Geburtstagstisch oder unterm Tannenbaum liegt, auch wirklich gelesen wird, sind nicht zu haben.
Forscher Franzmann geht davon aus, daß es heutzutage »Kindern schwerfällt, längere Bücher zu lesen«. Die seien, hat eine Kieler Realschullehrerin beobachtet, »das Lesen nicht mehr gewohnt:
Von vielen Schülern wird überhaupt nur noch in der Schule gelesen, und man spürt geradezu ihr Unbehagen, wenn die dort lesen müssen«.
Auch fehlen die Anzeichen dafür, daß der Zuwachs an weiterführenden Schulen ein Interesse an weiterführender Lektüre nach sich gezogen hat. Selbst Abiturienten, die früher einmal beim Erwerb von schöner Literatur vornan lagen, tauchen immer seltener in den Buchläden auf. Nach einer Vergleichsuntersuchung des Ifak-Instituts sank bei denen die Anzahl der in den letzten zwölf Monaten gekauften Bücher von 13,1 im Jahr 1973 auf 9,9 im Jahr 1980. Kräftig zurückgegangen ist, wie eine Medienstudie der westdeutschen Fernsehanstalten ergab, bei den 14- bis 19jährigen auch das Interesse an der Tageszeitung: 1974 blickten noch 70 Prozent dieser Gruppe täglich ins Blatt, 1980 waren es nur mehr 53 Prozent.
»Der Unfähigkeit, sich auszudrücken«, urteilt der Essener Literaturprofessor Glaser über seine Studenten, »gesellt sich eine andere zu: die zu lesen. Erstaunt öffnen sich schlaftrunkene Augen, wenn gesagt wird, daß man einen Roman, auch wenn er zwei- bis dreihundert Seiten mißt, von Deckel zu Deckel lesen solle.«
Bliebe ja noch die Hoffnung, daß die mündliche Ausdrucksfähigkeit, die westdeutsche Pädagogen den Schülern vor zwanzig Jahren mitgegeben haben, nun allmählich den Niedergang des Schriftlichen wieder wettmacht. Von einer Prachtentfaltung im jugendlichen Sprachgebrauch ist jedoch nichts zu hören.
»Wie sich die Kinder heute uns gegenüber offen artikulieren«, staunt zwar ein Frankfurter Grundschullehrer, »das hat es vor 20 Jahren nicht gegeben«, und diese Veränderung wird auch von anderen Kollegen registriert. Aber solche Offenheit könnte gut das Resultat einer gesellschaftlichen Entwicklung sein, die Befangenheiten und Tabus aller Art beseitigte und sich nun natürlich auch in der Schule bemerkbar macht.
»Richtig ist«, sagt dazu der Regierungsdirektor Klaus Happold aus dem Stuttgarter Kultusministerium, »daß die Gesprächsbereitschaft gestiegen ist; sie entspricht aber keineswegs der erforderlichen Sprachkompetenz der Schüler.« Niedersachsens Kultusminister Georg-Berndt Oschatz tippt gleich auf »Scheinkompetenz« - am Ende habe die Schule gar nicht »den mündigen, sondern eher oftmals den vorlauten Bürger hervorgebracht«.
Jedenfalls macht der es kurz. Manch einer kann heute nur noch verschlüsselt von sich geben, was ihn drinnen beschäftigt. Da meldet sich in der alternativen »Tageszeitung« der »Säzzer« zu Wort und setzt mitten in einen Artikel ein kommentierendes »Whow!«. Da soll, in jugendlichem Sprachgebrauch, eine Sache »Power bringen«, man will auf etwas »abfahren«, ganz voll natürlich. Wo früher mehrere Worte unvermeidlich waren, manchmal sogar ganze Sätze, genügt nunmehr der knappe Hinweis, es sei »geil« oder »grell« gewesen. Die Message war tierisch, und ein Typ, der das nicht rafft, ist einfach ätzend.
In der Gruppe, die gerade zusammensteckt, weiß jeder, was gemeint ist. Penible Kritiker hingegen befürchten, daß die Universalität der Sprache verlorengeht - jene Möglichkeit, beliebige Inhalte ganz unabhängig von der Clique und einer gemeinsam durchlebten Situation dem Nächstbesten mitzuteilen.
Ausbildungsleiter in deutschen Betrieben haben nicht einmal die gesteigerte Gesprächsbereitschaft bemerkt, die sich in Klassenräumen zeigt und dort teils als Fortschritt, teils als lästig empfunden wird. Peter Schmedes zum Beispiel, Diplom-Ingenieur und Referatsleiter für berufliche Bildung bei der Hamburger Oberpostdirektion, erlebt in Bewerbungsgesprächen die jungen Leute oft als »mundfaul, und man muß schon auf ihre Hobbys kommen, damit sie aus ihrer Wortlosigkeit befreit werden«.
Und die Chefin eines Installationsbetriebs im rheinhessischen Nackenheim bek lagt sich über die stereotype Nachricht ihrer Mitarbeiter auf den Arbeitszetteln, sie hätten etwas »montiert« oder was »gemacht«. »Die 'machen' da ständig was. Nun stellen sich sich mal vor, ich schreibe einem Kunden auf die Rechnung, 'wir haben gemacht', und setze eine Zahl dahinter. Das geht doch nicht, auch ein Handwerker braucht die Sprache und muß mit ihr umgehen können.«
Das Beispiel macht den Zielkonflikt deutlich, den die Westdeutschen derzeit austragen: Abkehr von Schriftsprache und Rechtschreibung auf der einen Seite, und zwar nicht nur im Schulbereich und nicht nur bei Jungbürgern; andererseits ein festes Beharren auf Schreibleistung und Ausdrucksvermögen, vor allem in der Wirtschafts- und Verwaltungswelt.
Zwar scheitern Bewerber um einen Ausbildungsplatz nicht immer schon an der Fehlerquote im Probediktat, aber das Deutsche hat doch so viel Gewicht, daß es beim Abwägen nicht selten den Ausschlag gibt.
Bei der Oberpostdirektion in Düsseldorf zum Beispiel, wo im Jahresschnitt etwa 4000 junge Leute um 1400 Ausbildungsstellen anstehen, hat es bei den Bewerbern für den einfachen Dienst »keine Sperrwirkung«, wenn der Rechtschreibtest danebengeht; aber wer in die mittleren und höheren Laufbahnen
möchte, kommt gar nicht erst ins Mündliche, sofern es am Schriftlichen fehlt.
»Wer im Rechtschreiben eine Fünf hat«, so der Zuständige von der Bochumer Stadtverwaltung, »kriegt im Verwaltungsbereich keine Einstellung«, und so manch aufgeweckter Jungbürger kommt auf diese Zahl. Nach dem K.o.-System wird bei der Berliner Polizei aussortiert: Am Anfang steht ein Diktat, und wer da mehr als 14 Fehler macht, wird gleich wieder nach Hause entlassen.
Spätfolgen einer Schreibschwäche sind in vielen Sparten wahrscheinlich. »Natürlich«, sagt in Hamburg der Diplom-Ingenieur Schmedes, bei dem dieses Jahr 2400 Bewerber für den mittleren Dienst vorsprachen und der dann auf eine Ablehnungsquote von 30:1 kam, »brauchen die in jungen Jahren keine großen Deutschkenntnisse, aber wenn sie weiterkommen wollen, geht es nicht ohne.«
Von den 800 Jugendlichen, meist mit Realschule, die sich dieses Jahr um eine gewerbliche Ausbildung bei der Lufthansa in Hamburg bewarben, wurden 136 eingestellt - auch welche, die mit ihrem Deutsch sogleich eine Bruchlandung bauten. Es sind immer so um die 40 Prozent, weiß der Ausbildungsleiter, die »maulfaul dasitzen und es schwer haben, zusammenhängende Sätze zu bilden«. Sie werden mit durchgezogen und dann ordentliche Flugzeugelektroniker oder Triebwerksmechaniker, nur: Abheben können sie nicht mehr.
Denn wer einmal in höheren Sicherheitsstufen arbeiten und mehr verdienen will, wer Verantwortung tragen soll für die Steuerseile von Jumbos oder Fahrwerksreparaturen, der hat sich schriftlich wie mündlich mit Ingenieuren oder Flugkapitänen auseinanderzusetzen - in präzisem Deutsch und auch in Englisch.
Auch die Begabten werden derzeit noch einmal handverlesen. »Die hohe Anzahl der Ausbildungsplatzsucher«, empört sich der Berliner Diplom-Psychologe Jürgen Hesse, der sich als »Testkritiker« versteht, erlaube »hemmungs- und verantwortungsloses Einsetzen von Selektionsinstrumenten.« Und es kommt schon vor, daß Firmen, wie der schleswig-holsteinische Landesschuldirektor Jacob Schäfer sagt, »Fallen« einbauen, wie »das Wort 'Katarrh', bei dem auch ich erst mal im Duden nachsehen müßte«.
Verbreitet ist derlei Hemmungslosigkeit nicht, und meist sieht es so aus, wie ein Hauptkommissar von der Werbe- und Einstellungsstelle der schleswig-holsteinischen Polizei sagt: »Wir spießen die Bewerber nicht am Diktat auf. Es werden Diktate geschrieben, wie sie in der Schule üblich sind, und wir zensieren sie auch so.«
Daß sich das Übliche in der Schule auf absehbare Zeit ändern wird, ist nicht zu erwarten. Der Abwärtstrend bei der Rechtschreibung scheint anzuhalten. Großtests der Kammern liefern bei unverändertem Inhalt deutlich schlechtere Resultate als vor ein paar Jahren. Und im kleinen macht eine Stuttgarter Hauptschullehrerin solche Erfahrungen: Sie diktiert die gleichen Texte, die sie Mitte der siebziger Jahre von sechsten Klassen hat schreiben lassen, nun auch wieder, »und da zeigt sich eben, daß die durchschnittliche Fehlerzahl ungefähr das Doppelte bis Dreifache ist«.
Zur Selbsthilfe greift inzwischen die Wirtschaft. Weil »im Interesse der Jugendlichen da was getan werden muß«, hat die IHK Münster ein »Deutschtraining« eingerichtet, mit 80-Stunden-Kursen. Karstadt und etliche Banken veranstalten Deutschübungen im eigenen Hause, ebenso manche Stadtverwaltung. Rund hundert private Nachhilfe-Institute mit insgesamt etwa 1000 Filialen bieten ihre Dienste an. Die Chefin des »Modernen Lernstudios« in Hannover bemerkt viel Zulauf von Studenten und Akademikern und von »auffällig vielen Angestellten aus dem EDV-Bereich«.
Nur matt sind, alles in allem, die Signale, die auf eine Kurskorrektur in den Schulen hindeuten. Baden-Württemberg etwa läßt jetzt auch in den Gymnasien wieder Rechtschreibung üben; die Zahl der Deutschstunden in den Klassen 8 bis 11 wurde erhöht. In Berlin werden die Lehrer in den Gymnasien angehalten, auch Facharbeiten auf Schreibfehler hin durchzusehen. Kultussenatorin Hanna-Renate Laurien: »Wenn der Schüler das 'h' in Mathematik wegläßt, dann ist das eine Aufforderung zur Korrektur.«
Der Hamburger Oberstudiendirektor Schmidt möchte am liebsten »diese für den Lehrer ja sehr bequemen Lückentests
von Amts wegen verbieten« lassen, »diese Zettelkultur muß abgeschafft werden«. Statt dessen müsse es wieder »Begriffserklärungen in ganzen Sätzen« geben und auch »erheblich mehr geübt werden«.
Im Auftrag des nordrhein-westfälischen Kultusministeriums lieferte im März das Landesinstitut für Schule und Weiterbildung eine Studie ab, die den Lehrern Auswege aus dem didaktischen Dilemma weisen soll. In den Schulen hatten die Verfasser ermittelt, »daß eine Diskrepanz zwischen den Anforderungen und den tatsächlichen Leistungen besteht« - unter anderem deshalb, weil die »Bedeutung des Rechtschreibunterrichts im Bewußtsein vieler Lehrer zu sehr in den Hintergrund« geraten sei. Rechtschreibung aber, so einer der Autoren, sei nun einmal »eingebettet in das Gesamtproblem der Sprache«.
Ginge es nur nach der Weiterbildung, wie sie herkömmlich verstanden wird, dann hätte das alles nicht passieren dürfen. 1874 besuchten in Deutschland 94 Prozent der Kinder ausschließlich die Volksschule, rund hundert Jahre später sind es nur noch knapp 40 Prozent; um die Jahrhundertwende machten zwei Prozent der Jugendlichen das Abitur, inzwischen 28 Prozent. Aber nun klagt selbst in Bayern, wo man sich auf das höhere Leistungsniveau immer etwas zugute hielt, der Abteilungsleiter für Gymnasien und Realschulen im Münchner Schulreferat: »Die Schüler haben keinen Wortschatz mehr, beherrschen keine Wortfelder und schreiben und sprechen einen äußerst mangelhaften Stil.«
Viel spricht dafür, daß nach zwanzigjähriger Verfolgung der »mündlichen Sprachkompetenz« diejenigen, die dadurch geschützt werden sollten, auf der Strecke geblieben sind. Schüler, in deren Umfeld häufiger und besser gesprochen und zuweilen sogar gelesen wird, dürften die neue Pädagogik eher überstanden haben als die von Haus aus benachteiligten. »Nur beim Schreiben«, resümiert Hartmut von Hentig, »werde ich gewahr, ob ein Satz gut gefügt ist.«
Und wenn es denn darum gegangen ist, über die Abkehr von der Schriftsprache Gesellschaftspolitik zu machen, sieht die Bilanz nicht besser aus. Denn es könnte gut sein, daß, wie der hannoversche Dozent Bayer befürchtet, »sich die im Namen der Demokratisierung praktizierte Beschädigung der traditionellen Sprachkultur als klassischer Bumerang gegen die Demokratie erweist«.
Den Kopf treffen könnte es zum Beispiel, wenn nun zwar die Gemeinschaftskunde ein Lehrstoff von Rang ist, später jedoch beim Studium des Mietvertrags die unerfreulichen Passagen übersehen werden. Und das geschärfte Bewußtsein für bürokratische Willkür bringt womöglich nicht so viel ein, wenn es kaum gelingen will, mit einem formlosen Antrag dem Bürokraten aufs Amt zu rücken: Das geschriebene Wort hat, rein praktisch betrachtet, seinen Eigenwert in der politischen Kultur, jenseits des Jammers von Handelskammern und Kaufhausketten und lange bevor es um Graß oder Goethe geht.
Daß sie leicht manipuliert werden können, haben schon alle gehört; daß dies schriftlich besonders leicht ist, gehört aber dazu. Demokratie, meint Hartmut von Hentig, »bedarf einer klaren, einer verläßlichen Sprache«, da sei es nötig, »sehr genau auf das Wort zu achten«. Und wenn einer die Vielfalt des Lebens nur deshalb vereinfacht, weil es am Ausdruck fehlt, mag das seine heimliche Schwäche bleiben; an Breitenwirkung jedoch gewinnt dieses Phänomen, wenn Leute dort, wo Differenzierung geboten wäre, gefahrlos versimpeln dürfen.
»Die Schüler lernen«, so Hans Messelken über den Stellenwert des Schriftlichen, »Vergleich, Überlegung und notwendige Verallgemeinerung als Mittel zu verwenden, Wissen zu erlangen, das der nüchternen Überprüfung ohne Wenn und Aber standhält. Und dies Wissen bedeutet keineswegs 'Macht', wie eine dumme Redensart behauptet, sondern es ist die notwendige Voraussetzung für die kommunikative Kultur, auf die jede Demokratie angewiesen ist, wenn sie eine bleiben will.«
Empfindsamkeit für das Schriftliche bedeutet etwas mehr als fit zu sein für den Test bei der Polizei; sie hat auch etwas zu tun mit den Beziehungen zwischen den Gruppen und natürlich auch mit der Entwicklung des einzelnen. Und sie trägt schließlich die Ideen, die dem Gemeinwesen das politische Muster geben, die kulturellen Konturen.
Einfach grell. Karl Kraus hat das auch schon mal kürzer gesagt: »Eine verkommene Sprache ist das System einer verkommenen Gesellschaft.«