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»EINE WOCHE ARBEIT FUR EIN KILO BUTTER«

Die Produktion der sowjetischen Landwirtschaft, in der ein Drittel aller Arbeitskräfte der UdSSR beschäftigt ist (USA: acht Prozent), ist 1969 absolut zurückgegangen. Ober die Verhältnisse auf dem Lande, wo fast jeder zweite Sowjetbürger lebt, sind bisher kaum Berichte aus der Sowjet-Union in den Westen gedrungen. Der sowjetische Schriftsteller Andrej Amalrik, 32, wurde 1965 als »Parasit« und wegen der Produktion eines »anti-sowjetischen Theaterstückes« zu zweieinhalb Jahren Verbannung verurteilt. In Sibirien mußte er auf einem »Kolchos« -- einer Kollektivwirtschaft -- arbeiten und lernte unmittelbar die Lebensverhältnisse der sowjetischen Bauern kennen. Aus Amalriks Bericht »Unfreiwillige Reise nach Sibirien«, der im Hamburger Christian Wegner Verlag als Buch erscheint (242 S., 22 Mark), druckt der SPIEGEL als Auszug Amalriks Beobachtungen über das Landleben in der UdSSR.
aus DER SPIEGEL 21/1970

Am 23. Juni begann meine Arbeit im Kolchos; um acht Uhr morgens kam der Brigadeführer und gab mir den ersten Auftrag. Er hieß Pjotr, nannte sich selbst aber Petró Alexejewitsch Schapowalow und war 60 Jahre alt. Im Dorf erzählte man sich, daß sein Vater während des Bürgerkrieges in der Ukraine Bandit gewesen war. Der Sohn selbst hatte ihn angezeigt, worauf man den Vater nach Sibirien verschickte.

Als nach der Kollektivierung in der Ukraine das Hungern begann, folgte Pjotr Schapowalow seinem Vater freiwillig. Aus der Zeit der Kollektivierung stammten seine stärksten und unheimlichsten Eindrücke. Er erinnerte sich daran, wie zu Beginn der dreißiger Jahre ein kleiner Junge, der in einem ukrainischen Dorf ein Ferkel über die Straße laufen sah, laut ausrief: »Großvater, guck schnell, was für ein komisches Tier da läuft!« Der Alte hatte angefangen zu weinen: in welchen Zeiten wachsen die Kinder auf -- ein Ferkel ist ein Wundertier. Illustration einer Zeit, in der Millionen Bauern verhungerten.

Er erzählte, daß Tausende aufgrund von Denunziationen verhaftet wurden, daß man ihnen kaum etwas zu essen oder zu trinken gab, daß sie zu Hunderten in den Polizeigefängnissen starben und daß es dann überhaupt nicht mehr zu Gerichtsverhandlungen kam.

Kaum hatte sich Schapowalow in Gurjewka einen Hof zugelegt, als auch in Sibirien die Kollektivierung begann. Jetzt gab es keinen Platz mehr, wohin er noch hätte fahren können. Der schlaue Ukrainer ließ sich aber nicht unterkriegen. Anfangs arbeitete er im Kolchos als Schmied, später als Verwalter des Vorratslagers, bis man ihn als Frontkampf er nach dem Kriege schließlich zum Vorsitzenden machte. Vor fünf Jahren trat er in die Partei ein, worauf er sehr stolz war.

Schapowalow gab mir den Auftrag, Löcher auszuheben und Pfosten abzustützen. Von Nowokriwoscheino nach Gurjewka gab es eine elektrische Leitung; viele Pfosten hatten sich jedoch geneigt und drohten umzufallen. Jetzt wurden dicke Stützen herangeschafft. Ich mußte sie eingraben und dann Pfosten und Stützen mit Draht zusammenzwängen. Draht war übrigens nicht vorhanden

Mich wunderte sehr, daß ich die Stützen weder imprägnieren noch absengen mußte, so daß sie sicherlich schon bald in der Erde faulen würden. Die in die Erde eingegrabenen Enden der Pfosten waren schon, wie ich feststellen konnte, ziemlich verfault. Später begriff ich, daß genau das der Stil aller Kolchosarbeiten ist: nur irgendwie Löcher zu stopfen und es dabei zu belassen, auch wenn in zwei Jahren alles zusammenfällt.

Die Entlohnung erfolgte in den Kolchosen zunächst nach »Arbeitstagen«, also in ganz willkürlichen Rechnungseinheiten. Je nachdem, wieviel derartige Arbeitstage man schaffte, soviel Striche trug der ungebildete Rechnungsführer in der Liste des Betreffenden ein. Jetzt werden zwar keine Striche mehr gemacht, sondern Zahlen hingeschrieben, doch das System ist das gleiche geblieben. Am Ende eines jeden Jahres werden die erwirtschafteten Geld- und Lebensmittelbestände des Kolchos zum Zweck der Entlohnung auf die Summe der von allen Mitgliedern abgeleisteten Arbeitstage umgelegt.

Ein Jahr im voraus wird der Wert des Arbeitstages sowohl in Geld wie auch in Getreide planmäßig geschätzt, und der Kolchosarbeiter erhält jeweils in der Monatsmitte die Hälfte der Entlohnung, die ihm aufgrund der im vergangenen Monat abgeleisteten Arbeitstage zusteht. Ende des Jahres werden dann die Beträge aufgerechnet und die Restsumme wird in Geld und Getreide ausbezahlt.

Im vergangenen Jahr wurde beispielsweise der Arbeitstag mit 60 Kopeken (nach offiziellem Kurs: 2,44 Mark) und einem Kilogramm Getreide eingeplant. Jeden Monat erhielten die Kolchosbauern dementsprechend Vorschüsse in Höhe von 30 Kopeken je Arbeitstag, wobei sie in der Sommerzeit auf etwa 40 bis 60 Arbeitstage und im Winter auf 20 bis 30 Arbeitstage kommen. Ende des Jahres bekamen die Bauern dann allerdings anstelle der ihnen noch zustehenden 30 nur noch 15 Kopeken und ein Kilogramm Weizen je Arbeitstag, denn der Plan war nicht erfüllt worden.

In diesem Jahr waren die Vorschüsse wieder mit 30 Kopeken pro Arbeitstag eingeplant worden, so daß ich im Vorratslager für jeden Arbeitstag einen Liter Milch und ein Ei bekommen konnte. Ich schaffte im Juli 60 Arbeitstage und im August 40 Arbeitstage, und zwar ohne einen einzigen freien Sonntag; soviel verdienten im Durchschnitt auch die übrigen Kolchosarbeiter.

Von diesem Verdienst zu leben, war sehr schwer. Ich kaufte beispielsweise im Vorratslager ein Kilogramm Butter für 3,60 Rubel, das heißt für den Vorschuß von zwölf »Arbeitstagen«. Ich arbeitete also fast eine ganze Woche lang zehn Stunden täglich, um mir ein Kilo Butter kaufen zu können. Da wir aber nie Fleisch bekamen und Milch nur einen Liter täglich, war ich bei der schweren physischen Arbeit auf die Butter unbedingt angewiesen. Der tägliche Liter Milch kostete mich im Monat sechs Rubel, das heißt ein Drittel, wenn nicht gar die Hälfte meines monatlichen Verdienstes.

Die ohnehin niedrigen Löhne verloren noch dadurch weiter an Kaufkraft, daß alle Lebensmittel im Laden sowie die, die das Vorratslager aus dem Laden bezog, beispielsweise Zucker und Grütze, mit einem regionalen Aufschlag verkauft wurden. Um diese Aufschläge erhöhen sich auch die Einzelhandelspreise der Lebensmittel. In ländlichen Gebieten kommt für den Transport noch eine Zustellgebühr hinzu.

Was für ein Ausweg bot sich den Verschickten in dieser Situation? Ganz einfach: sie taten sich mit einheimischen Frauen zusammen und lebten mit diesen in wilder Ehe. Das wurde von der Miliz nicht nur gebilligt, sondern sogar empfohlen, da auch sie einsah, daß die Verschickten auf andere Weise in den Kolchosen nicht existieren konnten. Außer mir und Ljowa gab es im Dorf noch vier Verschickte, die bei irgendwelchen Weibern lebten.

Zu meinem Glück erwies sich das Graben von Löchern als einträgliche Arbeit -- für jeden aufgestellten Pfosten wurden mir anderthalb Arbeitstage angerechnet. Schließlich war die ganze Arbeit aber doch umsonst, denn es gab im Kolchos keinen Draht.

Vor einigen Jahren begann man in Gurjewka eine Garage für die Traktoren zu bauen; jetzt steht immer noch das unfertige Holzgerüst da, im Winter wird es nach und nach als Brennholz abgetragen und verheizt. Im Sommer, als ich ankam, wurde auch das Fundament für eine Kinderkrippe errichtet, im Jahr darauf war das Haus noch genauso im Rohbau, und ich glaube, es wird das Schicksal der Garage teilen, obwohl beide Bauten den Kolchos nicht wenig gekostet haben.

Die Kinderkrippe war zwar noch nicht fertig, aber schon begann man, einen neuen Speicher aufzustellen. Im nächsten Sommer stand dieser Speicher immer noch unfertig da, während man nebenbei bereits den Platz für eine Darre einebnete. Ich kenne noch viele Beispiele für eine derartige Vergeudung menschlicher Arbeitskraft. Es ist, glaube ich, hauptsächlich darauf zurückzuführen, daß die Arbeit jämmerlich bezahlt wird. Warum mit etwas haushalten, was ohnehin nichts kostet.

Abgesehen davon, kommt dabei noch das Bewußtsein der Kolchosbauern ins Spiel, die Einstellung eines Zwitters, der aufgehört hat, Bauer zu sein, aber auch kein Arbeiter wurde, und dem es gleichgültig ist, was mit den Früchten seiner Arbeit geschieht.

Die nächste Arbeit, die ich kennenlernte, war die Zubereitung von Gärfutter. Pro Tag wurden fünf bis sechs Wagen beladen, wobei wir mit zwei Stunden Mittagspause von neun Uhr morgens bis zehn Uhr abends arbeiteten, und das ganz ohne freie Tage. Der Sonntag wurde zu einem »freiwilligen« Werktag erklärt: Man ging davon aus, daß wir an diesem Tage nicht gezwungen, sondern aus Enthusiasmus arbeiteten. Die Arbeitstage wurden nach der Anzahl der beladenen Lkw berechnet und gleichmäßig unter denen, die gemäht, gehäuft oder geladen hatten, so aufgeteilt, daß jeder täglich auf etwa zwei »Arbeitstage« kam.

Das führte zu ständigen Streitereien: der eine habe mehr, der andere weniger gearbeitet. Ich wurde einmal Zeuge eines Gesprächs zwischen dem Brigadeführer und dem Rechnungsführer. aus dem klar hervorging, daß die Kolchosleitung den tatsächlichen Verdienst der Bauern dauernd zu drücken versuchte, damit auch noch an den ohnehin minimalen Löhnen gespart werden konnte.

Es wunderte mich, daß eine Arbeit, die eine Maschine an einem Tag geleistet hätte, hier zwei oder drei Wochen lang von Hand ausgeführt wurde. Hätte der Kolchos eine kleine Mähmaschine besessen, wären viele menschliche Arbeitstage eingespart worden. Dabei stößt man wieder auf die Überlegung: wozu eine Mähmaschine kaufen, wenn die Arbeitskraft fast umsonst zu haben ist?

Die »Mechanisierten«, also die Traktoristen, Mähdrescherführer, Kraftfahrer und Schmiede, sind die Aristokraten des Kolchos. Pro Arbeitstag bekommen sie nicht 30, sondern 60 Kopeken Vorschuß, bei der Endabrechnung nicht ein, sondern zwei Kilo Getreide. Infolgedessen haben sie vom Beginn der Aussaat bis zum Abschluß der Erntearbeiten ein für einen Kolchosbauern sehr hohes Einkommen, in einigen Fällen mehr als 100 Rubel (407 Mark) im Monat, das jedoch im Winter stark absinkt.

Obwohl der Verdienst der Bauern im Kolchos während der letzten Jahre anstieg, reicht er immer noch nicht, um davon zu leben. Die Haupteinnahmequelle ist nach wie vor die kleine Nebenerwerbswirtschaft.

Jeder Kolchosbauer hält sich eine Kuh, größere Familien sogar zwei Kühe und Schafe. Die Schafe hält man wegen des Fleisches, sie liefern aber auch Wolle, wenngleich eine sehr kurze, die nur zu Socken und Handschuhen verarbeitet werden kann. Ebenso mästen alle Bauern Schweine, fast alle halten sich auch Hühner.

Hier gibt es für die Nebenerwerbswirtschaften nicht die schmerzlichen Probleme der Futterbeschaffung, wie ich sie später In Zentralrußland kennenlernen sollte, Nach Ende der Heumahd des Kolchos ist es den Bauern gestattet, für ihren eigenen Bedarf zu mähen.

In den Gebieten von Tula oder Moskau beispielsweise liegen die Dinge ganz anders. Im Dorf an der Oka, in dem ich mich zur Zeit erhole, kommen auf mehr als dreißig Höfe ganze fünf Privatkühe. Auch Ferkel findet man längst nicht in jedem Haus. So gesehen, befindet sich Sibirien in einer wesentlich günstigeren Lage.

Ihre Nebenerwerbswirtschaft* betreiben die Bauern genauso unrationeu wie die des Kolchos. Sie haben nicht die geringste Ahnung davon, wieviel ein Ei, ein Liter Milch oder ein Kilogramm Schweinefleisch sie selbst kostet. Da sie dafür nicht mit Geld bezahlen müssen, wiegen sie sich in der angenehmen Vorstellung, etwas umsonst zu bekommen. Sie hungern zwar nicht, sind aber dazu verdammt, ununterbrochen ihrem eigenen Vieh zu dienen. Kaum haben sie ihre Arbeit im Kolchos beendet, müssen sie schon wieder Kühe melken, Ferkel füttern oder für eben diese Ferkel Kartoffeln häufeln.

Ich interessierte mich dafür, was diejenigen, die sich noch gut an die

* Gesetzliche Höchstgrenze: zwei Morgen Land.

Privatwirtschaft erinnern konnten, von den Kolchosen hielten, und bekam sehr verschiedene Antworten. Einige lobten die Zeiten, in denen »jeder sein eigener Herr« war.

Andere meinten, jetzt sei die Arbeit leichter und -- ein interessantes Argument -- man brauche die Fastenzeiten nicht mehr einzuhalten, Alle jedoch waren sich darin einig, daß es keine Rückkehr zur alten Regelung geben könne, daß die Bauern eine Wiedereinführung der Privatwirtschaft nicht wünschten und -- vor allem -- daß sie mit derselben nicht zurechtkämen, sie seien dafür »verdorben«.

Offenbar hat das Fehlen von eigenem Besitz zusammen mit der unsicheren Zukunft -- heute hat man es, morgen wird es einem genommen -- das bäuerliche Bewußtsein verändert. Da es ihnen gestattet ist, eigenes Vieh zu halten, da sie eine, wenn auch minimale Entlohnung in Geld und Getreide bekommen, man sie von Steuern auf ihre Nebenerwerbswirtschaft und von der Verpflichtung, Waldarbeit zu leisten, befreit hat -- jetzt sind die Kolchosbauern mit ihrem Leben durchaus zufrieden. Einstimmig erklären sie, nun könne man endlich leben -- und beginnen auch schon mit ihren Klagen über das Leben, die schwere Arbeit und die niedrige Bezahlung.

Überhaupt glaube ich, daß man diesem Volk alles zumuten kann. Wenn die Regierung morgen aus irgendwelchen politischen oder wirtschaftlichen Überlegungen beschließen sollte, die Privatwirtschaft wieder einzuführen, so wird jeder, ohne zu murren, seinen Bodenanteil in Empfang nehmen und anfangen, auf ihm Weizen und Flachs zu säen; wenn das Regime hingegen beschließen sollte, alles Privatland mitsamt den Hütten zu enteignen, alle Bauern in Baracken unterzubringen und in Kantinen zu verpflegen, dann wird sich auch das ohne Schwierigkeiten machen lassen.

Meiner Ansicht nach wird aber nur ein Experiment Erfolg haben: einen arbeitenden Menschen zu schaffen, der sich selbst und seine Leistung achtet und es nicht duldet, daß mit ihm Schindluder getrieben wird; nur dieser wird vernünftig arbeiten.

Zur Zeit herrscht in den Kolchosen im Grunde genommen ein System der Zwangsarbeit, bei dem sich die Bauern in einer völlig rechtlosen Stellung befinden. So haben sie nicht das Recht, ihren Kolchos zu verlassen, es sei denn, sie gehen in einen anderen Kolchos. Ihre Pässe liegen im Kolchoskontor, und man händigt sie ihnen nicht aus. Man läßt höchstens Kranke, Krüppel oder alleinstehende Frauen gehen, die ohnehin keinen Nutzen bringen.

Für die Jugend gibt es nur zwei Möglichkeiten, dem Kolchos zu entkommen: nach dem Wehrdienst nicht nach Hause zurückzukehren, was die Mehrheit tut, oder eine höhere Schule zu besuchen.

Wer die Volksschule beendet hat und es schafft, in ein Technikum oder eine Hochschule aufgenommen zu werden, bekommt seinen Paß ausgehändigt.

Auch im Kolchos selbst sind die Bauern ganz und gar rechtlos. Sie beeinflussen Weder die »Wahl« des Vorsitzenden noch die Festsetzung der Löhne. Sie sind verstrickt In ein System von Verboten und Geldstrafen und können sich in Streitfällen nicht an ein Gericht wenden.

Diese Rechtlosigkeit hat auch eine Kehrseite. Der Bauer weiß, daß er aus dem Kolchos zwar nicht freigelassen, andererseits aber auch nicht fortgejagt wird, was immer er anstellen mag. Wieviel Schaden er auch anrichtet, man wird ihm lediglich eine andere Arbeit zuweisen, ihn vielleicht sogar am alten Platz belassen.

Familien, die nach Kolchosmaßstäben als gutsituiert gelten, gibt es im Dorf nicht viele, vornehmlich sind es die Familien der Traktoristen. In der schwierigsten Lage sind wohl die alleinstehenden Frauen, von denen es in unseren 32 Höfen 14 gibt. Acht leben mit Kindern, die übrigen sind alt, ihre Kinder nicht mehr im Hause. Die einen sind Witwen, andere geschieden, einige waren nie verheiratet, da viele Männer ihrer Jahrgänge im Kriege umkamen.

Was die Kinder betrifft, so haben auch die Verbannten ihren Beitrag geleistet, ebenso wie in der Zeit der Stalinschen Steuern die verschiedenen Bevollmächtigten, die als Gegenleistung für den Beischlaf Steuerermäßigung oder Befreiung vom Holzflößen versprachen.

Die Frauen unter 40 haben heute, wo Abtreibungen gestattet sind, nicht mehr so viele Kinder, wie es früher in den Dörfern üblich war, gewöhnlich nur zwei bis vier. Im Dorf, wo jeder das Leben des anderen kennt, bleibt keine Abtreibung verborgen, sondern wird in der Dorfgesellschaft lebhaft kommentiert. Wenn eine Frau zur Abtreibung nach Kriwoscheino in das Kreiskrankenhaus fährt, nennt man das »zum Festival fahren« oder »zum Singen fahren«. Im Dorf selbst beschränkt sich die medizinische Betreuung auf einen Feldscher, der im Nachbardorf wohnt und im Sommer wöchentlich, im Winter einmal im Monat nach Gurjewka kommt.

Im Dorf sind zotige Flüche gang und gäbe; alle Männer und fast alle Frauen können ohne Mutterfluch keine zwei Worte hervorbringen. Ebenso fluchen sie auch, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in Gegenwart ihrer Kinder, ganz gleich, ob diese drei oder 16 Jahre alt sind. Ein vierjähriger Junge, der gerade sprechen gelernt hat, benutzt schon Ausdrücke, die eher zu den schlimmsten Säufern passen würden. Aber niemand fällt ihm ins Wort. Ebenso grob, manchmal mit noch mehr Raffinesse, fluchen die 15- bis 16jährigen Mädchen.

Im Dorf gibt es für die Kinder zwei Einrichtungen: einen Kindergarten und eine Volksschule. Der Kindergarten, der von allen Kindern im Vorschulalter besucht wird, ist nur während der Saat- und Erntezeit geöffnet. Sein Personal besteht aus einer Wärterin und einer Leiterin, die gleichzeitig kocht.

Im Sommer, als ich ankam, wurde der Kindergarten von einer ehemaligen Kälberpflegerin geleitet, einer 50jährigen Frau, genannt Tante Prosotschka. Sie verfluchte ihre Arbeit inbrünstig und behauptete, es sei tausendmal besser, Kälber zu pflegen als Kinder zu betreuen; sie selbst war kinderlos. Ansonsten war sie eine gute Frau und benutzte in Gegenwart der Kinder nie das »f... deine Mutter«. Wärterin war die bucklige Polja, etwa 60 Jahre alt, die den Kindern ununterbrochen mit dünnem Stimmchen Mutterflüche an den Kopf warf.

Die vierklassige Volksschule besuchten vom September an 22 Schüler. In allen Klassen unterrichtete ein großer hagerer Mann von etwas über 40 Jahren, der gleichzeitig auch Direktor der Schule war.

Er hatte ein pädagogisches Technikum absolviert. Der Lehrer war neben Schapowalow das zweite Parteimitglied im Dorf. Im Winter unterrichtete mit ihm zusammen noch eine Lehrerin. ein junges Mädchen, das gerade die Mittelschule in Kriwoscheino beendet hatte. Die meisten Kinder lernten sehr langsam, blieben immer wieder sitzen. einige mußten dieselbe Klasse sogar zwei- bis dreimal wiederholen.

Etwa zwei Drittel der Kinder besuchten anschließend die achtklassige Volksschule in Nowokriwoscheino, wo es auch ein Internat gab. Einige von ihnen kehrten später, ohne die Schule beendet zu haben, nach Hause zurück. Eine zehnklassige Mittelschule, ebenfalls mit Internat, gab es in Kriwoscheino; aus Gurjewka besuchte sie nur ein einziges Mädchen.

Die Kolchosbauern brachten dem Lehrer wenig Wohlwollen entgegen, weil er außerhalb des Zwangssystems stand, von dem sie abhingen, und weil er aus ihrer Sicht eine leichtere Arbeit hatte, dafür aber mehr Geld erhielt und obendrein noch, ebenso wie sie, seine kleine Landwirtschaft besaß. Aus dem gleichen Grunde liebten sie auch nicht die Verkäuferin im Laden, die Frau des Lehrers sowie die Leiterin des Klubs.

Überhaupt war ihre Einstellung zu den »Städtern« im Unterbewußtsein von Neid bestimmt; den Kolchosbauern schien es, daß man in der Stadt fast nichts tue, sondern in den Tag hineinlebe, während sie im Mist wühlen mußten -- eine Art von sozialem MinderwertigkeitskompleX. Im Dorf waren fast alle miteinander verwandt, feindeten sich aber dennoch ununterbrochen an; man belauerte das Einkommen des anderen und litt mehr unter fremden Erfolgen als unter eigenen Mißerfolgen.

Obwohl die Kolchosbauern einigermaßen reichlich zu essen haben, ist ihr Leben doch außerordentlich trist; fast

Eine Strohpuppe wird als Symbol des Winters verbrannt.

die ganze Zeit, die ihnen nach der Arbeit im Kolchos übrigbleibt, beschäftigen sie sich mit ihrer eigenen Wirtschaft.

Immerhin gibt es kleine Zerstreuungen, vor allem das Trinken. Im Sommer wird wenig getrunken, dafür im Winter fast jeden Tag. Wodka trinkt man bei besonders feierlichen Anlässen, sonst vor allem Samogon (selbstgebrannten Schnaps) und Hausbier. Damit bezahlt man auch die verschiedensten Dienstleistungen: Holzhacken, Sägen, Mähen und so weiter.

Von drei Bechern Hausbier ist man schon ganz schön blau, darum ist es für den Kolchosbauern günstiger, einen Eimer Hausbier zu brauen, als für das gleiche Geld im Laden einen halben Liter Wodka zu kaufen. Aus diesem Grunde wird auch die Zubereitung von Samogon und Hausbier gerichtlich verfolgt und mit Strafen von 100 Rubeln und bis zu mehreren Jahren Lagerhaft bedroht. Viele unserer Kolchosbauern haben Strafen bezahlen müssen, einer hat auch bereits ein Jahr im Lager gesessen, aber das hält niemanden ab.

Für die Jugend ist der Klub da. Im Sommer wird im Klub fast jeden Abend getanzt. Im Winter gibt es einmal in der Woche Kino. Im Frühling und im Herbst, wenn sich die Wege in Schlamm auflösen, gibt es gar nichts.

Das Kino besuchen gelegentlich auch ältere Leute, sogar ganz alte, die dauernd Zwischenbemerkungen machen. Als beispielsweise ein Film gezeigt wurde, der die Greuel des Emirats von Buchara ausmalte, bemerkte einer der Alten voller Interesse: »Sieh mal an, ein Film aus der alten Zeit, als jeder sein eigener Herr war.«

Nach dem Kino beginnt der Tanz. Man tanzt drei Tänze; Walzer, Charleston und einen weiteren, anscheinend einheimischen Tanz mit Springen und Klatschen. Ein Grammophon und Platten gibt es nicht, und der ortsansässige Ziehharmonika-Spieler kennt nur diese drei Tänze.

Der ganze Klub besteht aus einem 40 Quadratmeter großen Zimmer im ehemaligen Kontor und ist mit vier rohen Bänken für die Kinovorstellung ausgestattet; vor dem Tanzen werden sie an die Wand geschoben. Um das Recht, im Klub saubermachen zu dürfen, gab es unter den Kolchosbäuerinnen Zank und Streit. Die Putzfrau bekommt 26 Rubel (106 Mark) und ist von der Arbeit im Kolchos befreit.

Die Leiterin des Klubs hatte mit allen diesen Vergnügungen im Klub nichts zu tun und besuchte den Klub auch fast nie. Ihre Tätigkeit bestand darin, nach den Empfehlungen der Kreisparteikomitees Losungen folgender Art zu produzieren: »Mechanisierte! Kämpft für die rechtzeitige und vollständige Einbringung der Ernte!«

Diese Losungen malte sie mit ungefügen Buchstaben in Kreide auf Stücke roten Stoffes und hängte sie zur Anspornung der Kolchosbauern an den verschiedensten Stellen im Dorf aus. Ebenso gab sie »Kampfblätter« heraus, besondere Vordrucke mit einem Bild, das vor dem Hintergrund eines fliegenden Sputniks einen Kolchosbauern und eine Kolchosbäuerin im Profil zeigte. Der Brigadeführer sagte ihr beispielsweise, daß bei der Heuernte diese oder jene gut gearbeitet habe, und gleich schrieb sie auf ihr Blatt: »Ehre und Ruhm den Kolchosbäuerinnen Maria Kabanowa und Anna Gorbatschowa, die bei der Heuernte gut gearbeitet haben!«

Oder aber der Brigadier sagte ihr, daß irgendein Hirte das Vieh schlecht hüte und daß man ihn kritisieren müsse. Dann schrieb sie: »In unserem Kolchos, der den Namen Kalinins trägt, arbeitet ein gewisser Michail Krizki, der das Vieh schlecht hütet und sich dafür häufig dem Wodka hingibt!« -- oder so ähnlich, und das alles mit verdrehten Namen und voller grammatikalischer Fehler.

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