Zur Ausgabe
Artikel 1 / 58

JUSTIZ / KAUL Einer stand noch -

aus DER SPIEGEL 14/1961

Penibler als es sonst seine Art war, studierte der etwas verfettete kleine Mann über die verrutschte Brille hinweg das vierseitige Dokument. Endlich malte er mit grüner Tinte liebevoll darunter: Professor Dr. Kaul.

Dann schlüpfte der Professor der Rechte, bis dahin hemdsärmelig und mit offenem Kragen, in die Jacke seines grauen Kammgarn-Einreihers, ließ sich von der Sekretärin in den Mantel helfen und stülpte - die im Moskauer Kaufhaus-Palast »Gum« erstandene Mütze aus Naturpersianer auf den kahlen Kugelkopf. Als er ging, atmeten seine Angestellten auf. Die Uhr zeigte die neunte Abendstunde.

Kaul zwängte sich in den schwarzbeige lackierten Simca - Chambord IA 80-79 und rauschte die Wilhelm -Pieck-Straße hinunter. Die Kontrolle am Brandenburger Tor war lässig: Der Achtzylinder glitt an die Volkspolizisten heran, flüchtig klappte der Herrenfahrer ein in Zelluloid, verwahrtes Schreiben auf. »Guten Abend, Genosse!«

Auf der anderen Seite des Denkmals preußischer Größe war der Simca ebenso bekannt: Der Westberliner Zöllner salutierte, noch ehe der Wagen zum Stehen kam. »Keine Konterbande, außer im Kopf«, grinste Kaul - und rollte auf die Straße des 17. Juni.

Ulbrichts renommiertester Advokat, der in Westberlin und in der Bundesrepublik zugelassene Dr. Friedrich Karl Kaul, fuhr zum Bahnhof »Zoologischer -Garten«. Ortskundig querte er die Halle zum Postamt Charlottenburg II, übergab einen Brief und ließ sich den Einlieferungsschein stempeln: 26. Januar 1961.

Kommunist Kaul hatte soeben unter Berufung auf das in Artikel 101 des westdeutschen Grundgesetzes niedergelegte Versprechen »Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden«, Verfassungsbeschwerde erhoben

gegen einen, zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht veröffentlichten Beschluß des Dritten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

So extraordinär diese Präventiv -Beschwerde in rechtlicher Hinsicht war, so verheerend waren freilich auch die Konsequenzen, mit denen das bevorstehende BGH-Verdikt den SED-Professor bedrohte: Der politische Senat stand im Begriff, ihn aus grundsätzlichen Erwägungen heraus als Verteidiger in zwei Staatsschutz-Prozessen abzulehnen. Derartige Prozesse aber waren bislang die Höhepunkte von Kauls zwölfjähriger Wirksamkeit in Berlin und Westdeutschland gewesen und hatten seinen Ruhm sowie sein Einkommen in der DDR fundiert.

Schrieb Kaul wahrheitsgemäß: »Der angekündigte Beschluß (bedeutet) für mich als Verteidiger unabwendbaren Nachteil, und zwar in jeder Beziehung, der beruflichen wie der persönlichen.«

Am 2. März veröffentlichte die Fünfer -Mannschaft des Senatspräsidenten Jagusch das Kaul-Verbot, dem die vorsorgliche Kaul-Verfassungsbeschwerde vom 26. Januar gegolten hatte.

Kurzfassung des Beschlusses für das Nachschlagewerk, das in der Handbibliothek jedes Gerichts steht: »Ein Strafverteidiger, der die Verteidigung nicht unabhängig führt, sondern dabei Weisungen unbeteiligter politischer Stellen befolgt, ist gesetzlich als Verteidiger ausgeschlossen und vom erkennenden Gericht von Amts wegen zurückzuweisen.«

Während normalerweise ein Anwalt vom Gericht nur ausgeschlossen werden kann, wenn er der Teilnahme am Delikt verdächtig ist oder wenn er als Zeuge im Verfahren benötigt wird, hatte sich der Dritte Senat gegen den unliebsamen Kaul eine durchaus neuartige Begründung einfallen lassen. Der Gesetzgeber habe, so erkannte das Jagusch-Team, zugunsten des Beschuldigten verordnet, daß der Verteidiger unabhängig sei. Kaul hingegen handele »als Verteidiger zumindest in Staatsschutzsachen ... in selbstgewählter SED-Abhängigkeit«.

Nicht einmal der Beschuldigte selbst sei berechtigt, einen dergestalt abhängigen Verteidiger zu wählen, weil er andernfalls »entgegen den Grundregeln des Strafverfahrens zum bloßen Spielball fremder, hier sogar staatsfeindlicher Interessen würde«.

Daß der Anwalt Kaul im staatsfeindlichen Interesse statt im Interesse seines - kommunistischen - Klienten agiere, schien den Bundesrichtern aus folgenden, ebenso geläufigen wie in ihrer Rechtserheblichkeit fragwürdigen Tatsachen hervorzugehen:

- Kaul besitze das Vertrauen maßgeblicher SED-Stellen, »wenn auch nicht aller«.

- Kaul sei in Ostberlin und in der sowjetischen Besatzungszone »mit Billigung der SED« öffentlich gegen die Strafjustiz der Bundesrepublik aufgetreten.

- Das »Neue Deutschland«, das zentrale Organ der SED, habe über sein Auftreten gegen die Rechtspflege der Bundesrepublik »häufig und stets anerkennend berichtet«.

- Kaul habe es zugelassen, daß seine Bücher vom SED-abhängigen Dietz -Verlag mit Klappentexten vertrieben wurden, »die sich als kommunistische Hetze gegen die Strafjustiz der Bundesrepublik darstellen«. Nach diesem Argumentations-Modell eines obersten bundesrepublikanischen Gerichts können nunmehr die nachgeordneten Instanzen ihre Gerichtssäle mühelos von dem ebenso fähigen wie lästigen Akteur Kaul freihalten.

Tatsächlich hat der Dritte Senat, da die von ihm aufgestellten Grundsätze für alle sogenannten Staatsschutz-Prozesse gegen Kommunisten und Krypto-Kommunisten gelten,

- den vorläufigen Schlußstrich unter eine schlechterdings einmalige Provokationsserie gezogen,

- sich dabei aber offenbar auch des zumindest optisch wertvollen Arguments begeben, daß in der Bundesrepublik - im Gegensatz zur DDR - Anwälte aus der anderen Hälfte Deutschlands auftreten können, und sich schließlich

- dem Vorwurf ausgesetzt, im Gewande des formlosen Beschlusses eine Entscheidung getroffen zu haben, die in einem Rechtsstaat nur am Ende eines ordentlichen Verfahrens stehen kann.

Ausführlich erläuterte denn auch Beschwerdeführer Kaul, daß ihm der Dritte Senat »eine schuldhafte Verletzung der anwaltlichen Pflichten« vorwerfe und ihn gleichzeitig dafür bestrafe, ohne jenes Gericht zu bemühen, das nach der bundesrepublikanischen Rechtsordnung für solche Fälle zuständig ist.

Kaul: »Diese Pflichtverletzung festzustellen, und zwar in einem genau geregelten Verfahren, das dem Betroffenen jede Rechtsgarantie bietet, ist ausschließlich Aufgabe der nach den Bestimmungen der Bundesrechtsanwaltsordnung bestehenden Ehrengerichte, die ... ausschließliche Gerichtsbarkeit auf diesem Gebiet ausüben.«

Indes, der Rechtsanwalt Kaul, der mutmaßlicherweise über den bundesrepublikanischen Rechtsstaat lacht und der fraglos die beamteten Repräsentanten dieses Staats dutzendemal genüßlich der Lächerlichkeit preisgegeben hat, muß nun mit seiner Berufung auf das Grundgesetz ausgerechnet den Gerichtshof überzeugen, auf dessen Kosten er sich sein Renommee als wendigster Agitator gegen die Bundesrepublik erwarb: das Bundesverfassungsgericht, vor dem Kaul während des Verbots-Prozesses gegen die KPD sich selbst an Frechheit und Phantasie übertraf.

Kaul am 23. November 1954, in der ersten Stunde der mündlichen Verhandlung, den dicken Kopf zurückgeworfen, die Augen seherisch in der Ferne: »Namens und in Vollmacht der KPD erkläre ich die Ablehnung des Herrn Vorsitzenden, des Herrn-Bundesverfassungsgerichtspräsidenten, wegen Besorgnis der Befangenheit. Mir liegt ein Auszug der Personalakten des Herrn Präsidenten Wintrich vor ...«

WINTRICH (unterbrechend): ... Herr Rechtsanwalt, ist Ihnen bekannt, daß über alle diese Vorgänge ein eingehendes Entnazifizierungsverfahren stattgefunden hat?

KAUL: Ich habe, Herr Präsident, an Ihrem Denazifizierungsverfahren nicht teilgenommen. Das tut auch nichts zur Sache. Denn hier ist Ihre Befangenheit der KPD gegenüber zu untersuchen. Also ... der Auszug bezieht sich auf den im Jahre 1940, also im zweiten Jahre des hitlerischen Raubkrieges von höchster Stelle gemachten Vorschlag, Herrn Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Wintrich, der damals Oberamtsrichter in Ebersberg bei München war, zum Oberstaatsanwalt zu befördern ...

WINTRICH (unterbrechend): Bitte sehr, zum Oberlandesgerichtsrat!

KAUL: In den Akten des damaligen Reichsjustizministeriums steht Oberstaatsanwalt!

WINTRICH: Das ist falsch!

KAUL: Wenn Sie noch zu höheren Ämtern berufen waren, ich will Ihre Qualifikation nicht verkleinern. Also aus den Personalakten ergibt sich der Vorschlag zur Beförderung zum Oberstaatsanwalt. Dieser Vorschlag ist eingehend begründet. Am Schluß dieser Begründung heißt es wörtlich: 'An seiner (Wintrichs) nationalsozialistischen Gesinnung besteht kein Zweifel. Auch die Gauleitung der NSDAP hat gegen seine politische Zuverlässigkeit keine Bedenken' ...

Nun zeigte der Jurist Kaul, was er leisten konnte - als Schauspieler. Die Fledermausärmel des Anwaltsmantels flatterten. Er hatte sich zum Publikum gewendet, die Robe offen, die Spätherbstsonne auf der gebräunten Stirn, das Gesicht, jetzt im Schatten, übermäßig breit, nur noch Hornbrille und Mund:

»Der Faschismus hatte und hat als historisch letzte Bastion und Kampfformation des Kapitalismus gegenüber der unaufhaltsam heraufziehenden Menschheitsepoche der sozialistischen Gesellschaft und ihrer Repräsentanten, der Arbeiterklasse, nur eine einzige Aufgabe: den Kampf gegen den Kommunismus. Dieser Kampf gehörte deswegen selbstverständlich zu den Aufgaben aller Organe des nationalsozialistischen Staates. Für die Staatsanwaltschaften aber bildete dieser Kampf gegen den Kommunismus, der mit einer Erbarmungslosigkeit sondergleichen geführt wurde, nahezu die einzige Aufgabe. Oberstaatsanwalt im Nazireich und bedingungsloser Kämpfer für die Vernichtung der KPD waren zweifellos identische Begriffe ... »

Der Redner holte Luft. Dann, beherrscht, fast leise: »Hiernach ist zu entscheiden ... ob nicht zumindest die Besorgnis seiner (Wintrichs) Befangenheit der KPD gegenüber aufgrund dieser Zusammenhänge mehr als gerechtfertigt ist.«

Die Attacke war typisch sowohl für Kauls prozessuale Taktik als auch für seine politische Strategie: Um ll.30 Uhr zogen sich die Richter zur Beratung zurück, um 12.39 Uhr verkündete der Senat - nachdem Präsident Wintrich sich selbst für nicht befangen erklärt hatte -, daß der Antrag zurückgewiesen sei. Die Rückweisungsbegründung

war im Protokoll genau elf Schreibmaschinenzeilen lang.

Der Gerichtshof, der über die Verfassungswidrigkeit der Kommunistischen Partei zu befinden hatte, konnte dem Kommunisten Kaul schlechterdings nicht zugestehen, daß der höchste Verfassungsrichter Westdeutschlands und damit die westdeutsche Verfassungsgerichtsbarkeit nazistisch vorbelastet sei.

Das wußte auch Kaul. Gleichzeitig übersah er aber nicht, daß nach dem vagen Rechtsempfinden vieler Besucher dieser Premiere ein entsprechender Ablehnungsantrag aussichtsreich gewesen wäre - wenn etwa die Aburteilung eines Trunkenheitsdelikts durch einen Richter zur Debatte gestanden hätte, der als Guttempler zu rigorosen Feldzügen gegen den Alkoholismus aufgerufen hatte.

Im vorgegebenen Rahmen war der Paragraphenritter Kaul erfolgreich: Als Präsident Wintrich endlich am 17. August 1956 das Urteil verkündete, das erwartungsgemäß die Verfassungswidrigkeit der KPD feststellte, hatte Kaul mit seinen ständigen Ausfällen gegen den Bundeskanzler, den Bundesinnenminister, gegen die politische Justiz in Westberlin und in der Bundesrepublik sowie gegen den Dritten (politischen) Strafsenat des Bundesgerichtshofs, mit seinen ermüdenden Kollegs über Sozialismus und Kapitalismus zwar keineswegs die Verfassungsmäßigkeit der KPD bewiesen, aber er hatte mit dem Spürsinn eines Wünschelrutengängers und der Sturheit eines Nashorns alle unterirdischen Widersprüche entdeckt und freigeschaufelt, die zwangsläufig auftreten, wenn eine auf die Meinungsfreiheit verpflichtete Demokratie gezwungen ist, politische Justiz zu üben.

Kaul, Virtuose auf der umfangreichen Klaviatur des Prozeßrechts, von stupendem Tatsachenwissen, rhetorisch brillant und literarisch beschlagen, schlau, sentimental und zuweilen von einem Anflug echter Leidenschaft gestreift, hatte in 51 Verhandlungstagen von den Paradoxien der deutschen Nachkriegssituation ebenso schamlosen wie effektvollen Gebrauch gemacht:

- von der Tatsache, daß die Verfassung der Bundesrepublik schon deshalb nicht ein Verbot der KPD vorschreiben konnte, weil die westdeutsche KPD älter war als das Grundgesetz und von dessen Vätern als legaler Partner im westdeutschen Parteien-Konzert angesehen wurde;

- von der Tatsache, daß die Bundesregierung offensichtlich nicht deshalb gegen die KPD vorging, weil sich etwa deren ideologische Grundlagen oder auch nur die aktuellen Ziele der KP seit 1949 geändert hatten, sondern eben, weil sich der politische Standort der Bundesregierung verschoben hatte; erst mit der geplanten westdeutschen Aufrüstung wurde das P-Problem spruchreif;

- von der speziellen Schwierigkeit schließlich, zwischen (legitimer) Opposition gegen die augenblickliche Regierungspolitik und (illegitimer) Aktivität gegen die Staatsform justitiell zu unterscheiden, nachdem just an dem Tage, an dem Bundeskanzler Adenauer in Paris den EVG -Vertrag absprach, auch der Verbotsantrag gegen die KPD gestellt worden war.

Am Ende des Verfahrens war jedenfalls seine Fragwürdigkeit und damit eben auch die Problematik des politischen Prozesses überhaupt für viele ansonsten vollgültige westdeutsche Demokraten evident - und Friedrich Karl Kaul war zur berühmt-berüchtigten Figur im binnendeutschen West-Ost -Hickhack geworden.

Für die westdeutsche Presse figurierte Kaul von da an als »Renommieradvokat«, als »Kronanwalt der SED«, als »Ulbrichts Starjurist«. Stets wurde seine falsche Einstellung bedauert, seine rechtsartistische Leistung jedoch, wenn auch widerwillig, anerkannt.

Wilhelm Pieck dekorierte den Kaul mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Silber - »aus Anlaß seines 50. Geburtstages in Anerkennung außerordentlicher Verdienste im Kampf um die demokratische Einheit Deutschlands«.

Schließlich wurde der Ostberliner Advokat sogar des Vorteils teilhaftig, in Westdeutschland den Besitzer einer besonders fulminanten Feder zum intimen Gegner zählen zu dürfen. Der Publizist Paul Wilhelm Wenger, einst Landgerichtsrat zu Tübingen, giftete voll heimlicher Anerkennung im »Rheinischen Merkur": »Dank seiner Zulassung in der Westberliner Anwaltskammer kann der SED-Staranwalt Friedrich Karl Kaut seit Jahr und Tag ... bei der Verteidigung seiner kommunistischen Freunde auf der Anklagebank, wie er prätentiös zu sagen beliebt, dem fleißig mitschreibenden SED-Journalistenkollektiv die Schlagzeilen für Hetzartikel gegen die Justiz der Bundesrepublik liefern.«

In der Tat: Seit Kaul am 25. Mai 1948 vorläufig und am 3. Juni 1949 endgültig in Berlin als Rechtsanwalt zugelassen worden war, hatte er in über 100 kleinen und in einem guten Dutzend wichtiger oder wenigstens durch seine Interventionen wichtig gewordener Verfahren die Glaubwürdigkeit der westlichen Justiz zu erschüttern versucht: manchmal ohne, meist aber mit einem gewissen Erfolg.

Kaut machte kein Hehl aus seinen Zielen. Als ihn Journalisten auf die »ungehörige Form« ansprachen, in der er seine »politischen Verteidigungen« führe, da replizierte er kaltschnäuzig: »Solche Verfahren multiplizieren sich gewissermaßen, wie der Mathematiker sagen würde, mit dem Faktor minus eins - da wird der Angeklagte zum Ankläger, der Ankläger zum Angeklagten.«

»Und der Richter?«

Kaul: »Zum Verurteilten!«

Es könnte nicht ausbleiben, daß sich der aggressive Kaul bald mit einigen Richtern und Staatsanwälten der Frontstadt Berlin persönlich anlegte. Die Betreffenden zeichnete er dann durch Porträts in der Ostberliner Presse

und in seinen beim Dietz-Verlag erschienenen Büchern aus.

Schon deren Titel war für das autobiographische Werk eines auf die Standesordnung der Anwälte verpflichteten Strafverteidigers einigermaßen befremdend: »Ankläger auf der Anklagebank. Erlebnisse und Erfahrungen mit Westberliner Gerichten.«

Der Inhalt war es noch mehr. Unter den Westberliner Staatsanwälten hatte sich Kaul beispielsweise auf einen Mann namens Cantor kapriziert. Kaul: »Der Oberstaatsanwalt Cantor erscheint, militärisch die Hand an das silbrig verzierte Barett legend.«

Am 22. Oktober 1949 verhandelte die Siebente Große Strafkammer des Landgerichts Berlin gegen einige Mitglieder der FDJ, denen vorgeworfen war, »gemeinschaftlich handelnd Aufruhr in Tateinheit mit Widerstand gegen die Staatsgewalt begangen zu haben«. Die Jugendlichen waren von der Westberliner Polizei südlich der Bernauer

Straße, also im kommunistischen Sektor, aufgegriffen und über die Sektorengrenze zurückgebracht worden. Die Polizisten hatten in ihren Meldungen und Aussagen versucht, diesen Umstand zu verschleiern.

Kreuzverhör-Techniker Kaul förderte die Grenzüberschreitung in der Verhandlung zutage. Trotzdem war die Staatsanwaltschaft so unklug, die damit zusammengebrochene Anklage aufrechtzuerhalten.

Berichtete nachher Kaul über den Menschen Cantor und eine von diesem Juristen beantragte Sitzungspause: »Friedlich begebe ich mich an der Seite des Herrn Oberstaatsanwaltes zu dem Ort, den sogar ein Oberstaatsanwalt zu Fuß aufzusuchen gezwungen ist. Mir gehen immer noch die Anstrengungen dieser armseligen Polizeibeamten, aus 300 Metern null Meter zu machen, im Kopf herum, und so sage ich, fast zu mir selber sprechend: 'Einen traurigen Eindruck machen Ihre Exekutivbeamten!' - mehr nicht. Wutentbrannt beschwert sich der Herr Oberstaatsanwalt nach Beendigung der Pause beim Vorsitzenden. Er wäre von dem Verteidiger öffentlich aufs schwerste beleidigt worden. Der Vorsitzende wünscht Aufklärung. Ich lege dar, daß eine 'öffentliche' Beleidigung schon deshalb nicht vorliegen könne, weil die Bemerkung auf dem Wege zu einer der privatesten Beschäftigungen erfolgte.«

Den Juristen Cantor beutelte Kaul noch schlimmer: »In seinem Plädoyer beantragt der Herr Oberstaatsanwalt, alle drei Angeklagten im Sinne der Anklage zu verurteilen 'Sicher wird die Verteidigung behaupten', legte er prophetisch dar, 'daß diese Beamten unkorrekt gehandelt hätten, als sie die drei Angeklagten jenseits der Sektorengrenze festnahmen ... Aber: Selbst wenn das der Fall gewesen wäre, hätten die Beamten doch rechtmäßig gehandelt, denn' - nun griff er nach einem dicken Wälzer - 'denn das Gerichtsverfassungsgesetz ...'

Was will er denn damit, fährt es mir durch den Kopf, das stammt doch aus, dem Jahre 1877. ... Das Gerichtsverfassungsgesetz schreibt in seinem Paragraphen 167 folgendes vor: 'Die Polizeibeamten eines deutschen Landes sind ermächtigt, die Verfolgung eines Flüchtigen auf das Gebiet eines anderen deutschen Landes fortzusetzen und den Flüchtigen dort zu ergreifen.' 'Weiterlesen', rufe ich in den Saal, 'den Absatz zwei des Paragraphen 167 lesen!' Und mit immer unsicherer Stimme las der Herr Oberstaatsanwalt weiter: 'Der Ergriffene ist unverzüglich an die nächste Polizeibehörde des Landes, in dem er ergriffen wurde, abzuführen.' Angesichts der allgemeinen Heiterkeit beendet der Herr Oberstaatsanwalt seine lichtvollen Ausführungen.«

Nicht weniger eitel schilderte Kaul die Luzidität seines eigenen Plädoyers: »Gegen diese Argumente kam das Gericht nicht auf. Nach langer Beratung wurden die Angeklagten freigesprochen.«

Star-Anwalt Kaul vergaß freilich zu erwähnen: Wenn schon nicht Anklage und Prozeßverlauf als solche, so sprach doch wenigstens dieses Urteil dafür, daß sich auch »kapitalistische Gerichte« an gesetzlichen Bestimmungen orientieren müssen.

Diese spezielle Technik des Schilderns war es denn auch, die zuerst bei etlichen Westberliner Justizdienern und später, zumindest seit Kauls ominösen Auftritten vor dem Bundesverfassungsgericht, bei zahlreichen bundesrepublikanischen Blättern den Wunsch aufkommen ließ, Kaul solle nicht länger vor Westberliner

und westdeutschen Gerichten ungehindert die politischen und sozialen Thesen eines Regimes verkünden dürfen, das seinerseits keinem westdeutschen Verteidiger erlaubt, im DDR-Machtbereich zu plädieren.

Als das Justizministerium der Hilde Benjamin selbst dem gewiß unverdächtigen Rechtsanwalt und Bundestagsabgeordneten Dr. Dr. Heinemann im Januar 1958 versagte, in Magdeburg den des verbotenen Geld-Transfers beschuldigten Konsistorialpräsidenten Grünbaum zu verteidigen, quoll der Ruf nach dem Auftrittsverbot für den Schau-Advokaten Kaul aus allen Rotationen.

»Sollten angesichts dieser Tatsachen«, so erregte sich etwa die »Abendpost«, die ansonsten ihre Leser mit diffizileren politischen Fragen zu verschonen pflegt, »nicht die Westberliner Anwälte überlegen, ob ihr Entschluß in der letzten Woche nicht ein wenig zu demokratisch war?«

Die Zeitung spielte auf das Scheitern des dritten Versuches an, dem Dr. Kaul sozusagen von der Quelle her schon die Möglichkeit zu nehmen, vor demokratischen Gerichten den demokratischen Rechtsstaat herabzusetzen. Kurz zuvor war der Generalstaatsanwalt beim Kammergericht wiederum mit dem Antrag gescheitert, die Berliner Rechtsanwaltskammer solle ihr Mitglied Kaul in einem Ehrengerichtsverfahren ausschließen.

Mit dem Verlust seiner Mitgliedschaft in der Kammer hätte Kaul automatisch auch jene Eigenschaft verloren, die ihn im Westen anwaltswürdig macht, nämlich die Zugehörigkeit zu einer freien Standesorganisation mit einer funktionierenden Ehrengerichtsbarkeit. Indes, die Kammer fühlte und fühlt sich als eine der letzten Institutionen mit gesamtdeutschem Charakter.

Unter ihrem Präsidenten Dr. Wergin - »Wir halten an unserer Tradition fest« stellte sie sich schützend vor den Kollegen Kaul. Zum ersten Male im März 1951: Die Anwälte fanden damals schlechterdings nichts Ehrenrühriges an Kauls Inszenierungen.

Der nächste Vorstoß, erfolgte 1953, Mittlerweile hatte - am 6. Mai 1952 -, der Westberliner Justizsenator Kielinger für Berlin eine Änderung der Anwaltsordnung von 1878 ausgetüftelt: Rechtsanwälten, »die als Anhänger eines totalitären Systems die freiheitliche demokratische Staatsform der Bundesrepublik oder Berlins« bekennerisch ablehnen, sei die Zulassung zu entziehen.

Fraglos traf der Artikel 2 dieses Gesetzes (Lex Kaul) genau auf Ulbrichts Star-Ablehner zu. Die obstinaten Anwälte aber wollten sich nicht einfach auf die Kielinger-Linie manövrieren lassen. Sie erklärten, die Verfassungsmäßigkeit dieses Spezial - Gesetzes erscheine fragwürdig. Keineswegs würden sie, die Berliner Anwälte, den Friedrich Karl Kaul aus der Kammer feuern, bevor das Bundesverfassungsgericht Stellung genommen habe.

Sei es nun, daß das Verfassungsgericht unter Zeitmangel litt, weil es zu jener Zeit seine Aktenmassen für den KPD-Prozeß ordnete, sei es, daß das Gericht um den Ruf des KPD-Verfahrens bangte, wenn zur gleichen Zeit die beklagte Partei ihres wesentlichen Verteidigers beraubt worden wäre, jedenfalls meinten die Verfassungsrichter, sie seien für die Nachprüfung von Berliner Gesetzen deshalb unzuständig, weil Berlin einen Sonderstatus habe.

Berlin aber besitzt kein eigenes Verfassungsgericht - und so blieb die Frage, ob Kielingers Kaul-Gesetz gegen das Grundrecht der freien Meinungsäußerung verstieß oder nicht, bis heute unbeantwortet: Kaul plädierte weiter in Westberlin und in der Bundesrepublik, im altbewährten Stil.

Das Ehrengerichtsverfahren aus dem Jahre 1958 war der bis heute letzte Vorstoß, durch den sich Kaul in seiner spektakulären Tätigkeit auf bundesrepublikanischem Boden noch einmal grundsätzlich gefährdet fand. Im Jahre 1959 erging die neue Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO), die nicht - wie Kielingers Novelle - die bloße totalitäre Gesinnung, sondern den effektiven staatsfeindlichen Akt zur Voraussetzung machte, unter der einem Anwalt die einmal erteilte Zulassung für westdeutsche Gerichte entzogen werden kann; diese Anwaltsordnung gilt unbestrittenermaßen auch für Berlin. Kaul: »Nun bin ich aus der Gefahrenzone. Die Handhabe liefere ich ihnen nicht.«

Kaul war zu Recht auf seine Defensiv -Erfolge stolz. Hatte er doch nicht nur vor dem Ehrengericht der Berliner Anwälte alle Angriffe des Justizsenators und seiner Generalstaatsanwälte mit Bravour abgeschlagen: Er hatte auch einen anderen potenten Gegner abgefertigt, der ihn im

Verwaltungswege lahmlegen wollte. An Kaul fand der spontane damalige nordrhein - westfälische Innenminister Meyers seinen Meister.

Es war jener Meyers, dessen Polizisten zwar nicht die gejagten Autobanditen, statt dessen aber etliche harmlose nordrheinwestfälische Bürger

beiderlei Geschlechts mit wohlgezielten Kugeln zur Strecke brachten. Meyers hatte, schnell entschlossen und forsch, den SED-Anwalt am 29. August 1952 festnehmen und über die Zonengrenze abschieben lassen.

Am 8. September, zehn Tage nachdem Kaul Ostberlin wieder erreicht hatte, machte der damalige Westberliner FDPBoß, spätere FVP-Überläufer und - seit dem Westberliner Lotto-Skandal - Altenteils-Politiker Carl-Hubert Schwennicke im frontstädtischen »Montags-Echo« unter der Überschrift »Keine Gefühlsduselei!« den Vorschlag, den Friedrich Karl Kaul bei seinem nächsten Aufenthalt in Westdeutschland zwecks Austausch gegen im Osten festgehaltene Demokraten in Gewahrsam zu nehmen. »Wir sollten nicht vergessen«, leitartikelte Carl-Hubert Schwennicke, »daß in einem Rechtsstaat Verbrecher keinen Freibrief erhalten dürfen.«

Nun war Kaul obenauf. Stracks erstattete er bei der Westberliner Staatsanwaltschaft Anzeige gegen Schwennicke wegen Anstiftung zur Freiheitsberaubung und öffentlicher Aufforderung zur Begehung von Verbrechen. Unter hellem Pankower Gelächter

landete die Anzeige bei einem alten Bekannten Kauls, beim Oberstaatsanwalt Cantor. Beschied Cantor seinen Kaul: »Die Fragestellung nach dem Grund Ihrer Freilassung läßt nur erkennen, daß der Beschuldigte die Rechtsgrundlage Ihrer Verhaftung und Ihrer späteren Freilassung zur öffentlichen Diskussion hat stellen wollen.«

Kaul legte gegen den Einstellungsbescheid Beschwerde beim Generalstaatsanwalt des Kammergerichts ein, der die Beschwerde mit dem originellen Hinweis zurückwies, daß Carl-Hubert Schwennicke natürlich genau wisse, es gebe in einem Rechtsstaat keine Geisel -Festnahmen. Deshalb sei seine Aufforderung nicht ernst gemeint und auch nicht rechtswidrig. Jauchzte Kaul: »Sie spotten Ihrer selbst und wissen nicht wie!«

Fortan mochte keine Exekutiv-Behörde mehr dem von Meyers gegebenen Beispiel folgen oder etwa gar auf Carl-Hubert Schwennickes Geisel-Initiative eingehen.

Die Gerichte ihrerseits hatten sich nachgerade daran gewöhnt, den politisierenden Juristen Kaul als eine penetrante, mitunter aber auch kurzweilige Zutat - Kaul selbst: »Wenn F. K. K. da ist, gibt's Wirbel« - zu den nun einmal vom Gesetzgeber anbefohlenen, meist ebenso zeitraubenden wie tristen politischen Prozessen hinzunehmen.

Freilich, Kaul tat zwar dem Ruf der bundesrepublikanischen Justiz nach Kräften Abbruch, nützte ihr aber ungewollt auch: Er wurde nachgerade zum zitierfähigen und weithin leuchtenden Beispiel für die Toleranz, die im freiheitlich-demokratischen Westen herrsche.

Daß solche Toleranz sich zudem auf Kaul beschränkte und mithin die westdeutsche Justiz nicht übermäßig teuer zu stehen kam, geht aus einer Entscheidung des 6. Karlsruher Strafsenats vom 15. November 1955 hervor: »Soweit es der Senat übersieht, ist Rechtsanwalt Dr. K. überhaupt der einzige in Ostberlin tätige (und ansässige) Rechtsanwalt, der zugleich bei einem Gericht der Bundesrepublik oder Westberlins zugelassen ist.«

Überdies hatte der Bundesgerichtshof im gleichen Jahr Kauls Tätigkeit auf jenem Felde verboten, wo er allenfalls über die psychologischen Wirkungen hinaus effektiven Schaden stiften konnte: Kaul wurde für Verfahren gesperrt,

die »eine von der Sowjetzone aus betriebene Spionagetätigkeit zum Gegenstand« haben.

Ansonsten aber konnte der Prozeß -Roboter aus der Wilhelm-Pieck-Straße vor Ober- und Untergerichten noch im vergangenen Jahr ungestört eine ganze Serie schlagzeilenträchtiger Vorstellungen geben, darunter

- den sogenannten »Düsseldorfer Friedensprozeß«, ein Landesverratsverfahren gegen einige mehr oder minder unbedarfte Mitglieder des rötlich angehauchten »Westdeutschen Friedenskomitees«, in dessen Verlauf er zusammen mit dem britischen Kronanwalt Pritt sowie dem Heinemann-Sozius Posser die gesamte Aufrüstungspolitik der Bundesregierung seit 1952 säuberlich ausbreiten durfte;

- den Hannoveraner Krahmann-Prozeß, den Fall einer Wirtshausschlägerei mit tödlichem Ausgang, in dem Kaut unter heißer Anteilnahme der Boulevard-Presse die SED-These vertreten mußte, das Opfer, ein Zonenbewohner, sei von monopolkapitalistischen Rowdys wegen seiner fortschrittlichen Gesinnung« auf den Kopf gehauen worden. Kauls Aufgabe war von vornherein unlösbar; er bewies seine Meisterschaft in der Art, wie er im Schlußplädoyer den Rückzug bewerkstelligte;

- das Westberliner Verwaltungsgerichts-Verfahren Schneider, Habi und andere gegen den Innensenator, in dem es darum ging, ob einem vom NS-Regime Verfolgten die nach dem Versorgungsgesetz zustehenden Bezüge nur deshalb gekürzt werden

können, weil er Anhänger eines anderen totalitären Regimes, nämlich des kommunistische, ist. Das Gericht folgte Kaul und wies den Senator ab. Kaul: »Triumph Triumph auf der ganzen Linie.«

Dieser Friedrich Karl Kaul, der bald streichelt, bald kratzt, den die Wucht und das mokante Flair der großen Berliner Strafverteidiger der zwanziger Jahre auszeichnen, hat sich tatsächlich in der Ära des Verteidiger-Gestirns Alsberg (Stinnes-Prozeß) und Frey (Haarmann-Prozeß) seine juristischen Sporen verdient. Seine Laufbahn wäre, hätte es das Jahr 1933 nicht gegeben, vorgezeichnet gewesen - bis in eine Position knapp unter jener, die er bewundernd dem Kollegen Alsberg attestiert: »Unbestritten ist es, was seine Rhetorik betrifft, ein Genuß, ihm zuzuhören. Zu seiner Rednerbegabung kommen umfassende forensische Fähigkeiten, die ihn jedoch leider viel zu häufig mit den Begriffen wie mit Schachfiguren spielen lassen.«

Kauls wohlhabender Vater - Kaul: »Ich habe mir meine Eltern sehr vorsichtig ausgesucht« - nannte seinen 1906 zu Posen geborenen Sohn in Verehrung des hohenzollerischen Kaiserhauses Friedrich Karl, übersiedelte nach Berlin und erzog den Jungen in jenem preußisch-deutschen Geiste, der damals die großbürgerlich-jüdischen Familien beseelte.

Der väterliche Scheck erlaubte es Kaul, ab 1925 in Heidelberg und dann an der Berliner Humboldt-Universität ein freies Burschenleben zu führen. Im Februar 1929 bestand er sein Referendar-Examen.

Referendar Kaul, der über die Fähigkeit verfügte, sich bemerkbar zu machen, rutschte alsbald in eine Assistentenstelle an der Juristischen Fakultät und konnte sich in Ruhe dem Thema »Die Entwicklung der Freiheitsstrafe zur Zentralstrafe im Strafsystem Preußens« (Berlin; juristische Dissertation vom 25. Februar 1932) widmen, eine Beschäftigung, die ihm Zeit ließ. Er verlobte sich mit einer vermögenden, lebenslustigen Berlinerin und gründete den Kegelklub »Einer steht noch«.

Für die Gefängnisstrafen-Dissertation bekam der kegelnde Jurist Kaul ein »rite« (ausreichend"); er trat der Staatsanwaltschaft am Moabiter Kriminalgericht bei, dem traditionsreichsten Gericht Berlins. Auf Anfang März 1933 war die mündliche Prüfung zum Assessor angesetzt - doch am 27. Februar brannte der Reichstag, und Kaul mußte den preußischen Justizdienst quittieren.

Sein und seiner Frau Luise Geld erlaubte ihm jedoch, ungeschoren weiterzuleben: Der Exreferendar Kaul wohnte im Berliner »Geheimrats-Viertel« am Schöneberger Ufer, für das die nationalsozialistische Stadtverwaltung nachmalig die Bezeichnung »Großadmiral-von-Köster-Ufer« heimisch

machen wollte. Dr. Kaul werkte etwas

in Versicherungen und drückte im übrigen gelegentlich einen Stuhl in der Rechtsabteilung der Tobis-Filmgesellschaft.

Er ließ keine Berliner Premiere aus, hätte Zeit für Künstlerkeller und fand, fast zwangsläufig, Anschluß an die links-intellektuelle Opposition.

Kaul selbst: »Kommunist war ich schon vorher.« Seine Zonen-Biographie: Er kämpfte im Untergrund gegen die faschistische Diktatur. Weder das eine

noch das andere läßt sich nachweisen. Jedenfalls behandelte ihn die Polizei, die ihn im Februar 1935 verhaftete, nicht so, wie sie gewöhnlich mit notorischen Kommunisten umzuspringen pflegte: Kaul wurde unversehrt ins KZ Lichtenburg und dann nach Dachau verfrachtet.

Zwei Jahre lang half er dort mit, bayrisches Moor zu dränieren, dann entließ ihn die Gestapo - unter der Auflage, daß er mit dem nächsten Dampfer Deutschland verlasse. Kaul buchte einen Platz auf der »Caribia«. Ziel: Kolumbien. Das Schiff lief am 9. April l937 in Hamburg aus. Frau Luise stand am Kai und winkte. Ihre Ehe mit dem »Volljuden« Kaul wurde aufgelöst.

Neun Jahre später ging sie wieder zum Standesamt - mit Friedrich Karl Kaul, der im Frühjahr 1946 aus der Emigration zurückgekehrt war und alsbald begann, für das 1933 ausgefallene Assessor-Examen zu büffeln.

Er brauchte sich nicht zu überarbeiten; es gab nur wenige unbelastete Juristen in Berlin. Obendrein konnte Weltfahrer Kaul auf seine KZ-Zeit pochen und erfreute sich mächtiger Fürsprecher bei jener Besatzungsmacht, die sich in Karlshorst angesiedelt hatte.

Er wurde in rascher Folge Justitiar beim Berliner Rundfunk, dessen Kontrolle sich die KPD gerade zu sichern begann, Justitiar bei der »Deutschen Verwaltung für Volksbildung der sowjetischen Besatzungszone« und Leiter der

Rechtsabteilung der SED-Bezirksleitung Tiergarten (Westberlin).

Solch vielseitiges Engagement verhalf ihm zu einer weitläufigen Praxis in der Wilhelm-Pieck-Straße (ehemals: Lothringer Straße). Das kinderlose Ehepaar Kaul bezog eine Etage im Bezirk Prenzlauer Berg, die der SED-Rechtshelfer rasch mit antiken Möbeln, guten Bildern und einer kennerisch ausgesuchten Bibliothek anreicherte.

Im mecklenburgischen Feldberg erstand der Anwalt der Werktätigen ein Wassergrundstück, auf dem er ein mehrzimmriges Wochenendhaus sowie einen Bootsschuppen für seine Flottille - ein Motor- und ein Segelboot - errichten ließ.

Die Eremitage - Kaul: »Meine Datsche« - bekam der Parteigenosse zwar verhältnismäßig billig vom Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB), nichtsdestoweniger aber bedurfte der frischgebackene Anwalt nun schnell größerer Summen.

Kaul, der schon vorher den von ihm

juristisch betreuten Berliner Rundfunk mit Manuskripten beliefert hatte, besann sich auf eine Fähigkeit, die ihm in legeren Stunden noch heute als die schönste jener Gaben erscheint, deren das Schicksal ihn gewürdigt hat: auf die Kunst des Schreibens.

Er fand einen auflagestarken und demgemäß zahlungskräftigen Abnehmer: die halbamtliche »Tägliche Rundschau«. Auch an zeitgemäßen Stoffen mangelte es nicht: Unter der Überschrift »Amerika als Kulturbringer« und unter dem Pseudonym Dr. Fritz Stark beschäftigte sich der presserechtlich versierte Autor, mit den Zuständen in »Gottes eigenem Land«.

Kauls Amerika-Serie schlug vorzüglich ein, was nicht wunder nahm, denn sie las sich etwa so: »Sie wissend nicht, was ein Racket ist? Sie werder noch viel zulernen müssen, wenn Sie sich in dem

demokratischen Amerika zurechtfinden wollen. Das Wort Racket stammt aus der amerikanischen Ganovensprache ... Unter 'Racket' versteht man die Methode, mit der man ohne Arbeit, ohne Geld, ohne Kenntnisse und mit sehr geringem Risiko schnell zu viel Geld kommt: In Chikago sind einige Hundert Wäschereien in den Händen von Chinesen. Eines schönen Tages erschien in jeder Wäscherei ein Gangster und verlangte eine monatliche Abgabe von zehn Dollar Protektion ...

Die sowjetisch lizenzierte »Tägliche Rundschau« war gerade zu der Überzeugung gelangt, in ihrem Autor Stark ein Naturtalent entdeckt zu haben, als der amerikanisch lizenzierte »Abend« zu einem schmerzhaften Konterschlag

ausholte. Dreispaltig zitierte Chefredakteur Müller-Jabusch - »Geistiger Diebstahl oder...?« - einen Dr. E. Ahlswede, der schon vor dem Dr. F. Stark formuliert hatte: »Das Wort Racket stammt aus der amerikanischen Gangstersprache. Man versteht darunter jede Methode, mit der man ohne Arbeit, ohne Kapital, ohne Kenntnisse und mit geringem Risiko schnell zu viel Geld kommt. In Chikago sind einige Hundert, Wäschereien in den Händen von Chinesen. Eines schönen Tages erschien in jeder Wäscherei ein Gangster und verlangte eine monatliche Abgabe von zehn Dollar 'protection'.«

Müller-Jabusch: »Wo und wann aber erschien die Arbeit von Ahlswede? Im Zentralverlag der NSDAP Franz Eher Nachfolger G. m. b. H. im Jahre 1942! ... Die 'Tägliche Rundschau' hat also Nazi -Kriegspropaganda ohne Anstand übernommen ... Ein wenig rote Tünche genügt, um braune Propaganda verwertbar zu machen.

Giftig fuhr Müller-Jabusch fort: »Hat der Dr. Stark wirklich nur ein Abschreiblingsgeschäft machen wollen? Oder ist er ein Spaßvogel, der die innere Verwandtschaft des Totalitären bis zum Absurden demonstrieren wollte?«

Der Eklat war perfekt. Vor allem den Russen erschien der von ihren deutschen Handlangern verschuldete Verstoß gegen das »Gesetz der inneren Wachsamkeit« unerträglich. Die »Tägliche Rundschau« distanzierte sich öffentlich von ihrem Mitarbeiter Dr. F. Stark: Dr. Friedrich Kaul war in Ungnade gefallen.

Kaul selbst freilich hält an einer harmlosen Erklärung für die peinliche Panne fest: Die Redaktion der »Täglichen Rundschau« habe ihn gebeten, aus redaktionseigenem Archivmaterial die Serie zusammenzustellen. Von den fünf erschienenen Folgen seien nur die Nummern eins, zwei und vier seiner Feder entflossen, die Nummern drei und fünf hingegen von ihm lediglich redigiert worden.

Kaul: »Bekommen habe ich das Material in einem grünen Aktendeckel. Es waren das irgendwelche Manuskriptblätter, von denen ich nicht wußte, woher sie wirklich stammten. Daß man sie aus dem ehemaligen Archiv des 'Völkischen Beobachter' hatte, ahnte ich nicht.«

Heute will Plagiator Kaul wissen, daß das Debakel auf eine Intrige zurückzuführen sei: »Man hat mir dieses 'VB' -Material untergejubelt, wollte mir einen Strick daraus drehen. Ich weiß, daß dabei sogar ein alter Genosse seine Finger im Spiel hatte.«

Tatsächlich war Kaul nicht nur damals, in den Zeiten seines finanziellen Aufstiegs, vielen proletarisch-rückständigen Genossen suspekt. Auch heute, da für Prominente Luxus selbstverständlich ist, wirkt er unter Ulbrichts Ost-Emigranten-Clique wie ein Relikt aus jenen fernen Tagen, in denen Edelkommunismus unter deutschen Intellektuellen noch als fashionables Hobby galt.

Sein Lebensstil ist trotz des mitunter penetrant volkstümlichen Gehabes so spezifisch grunewäldlerisch geblieben

- der herb blamierte Staatsanwalt Cantor: »Als Waffenstudent hat der Kaul eben doch Haltung« -, daß er keiner der beiden in Ulbrichts »Demokratischer Republik« gängigen Funktionärs-Typen zugerechnet werden kann:

- weder dem in der Wolle gefärbten Kaderkommunisten, den beschränkter Horizont und mulihaftes Stehvermögen zu gewissen Repräsentationsaufgaben für die Partei prädestinieren,

- noch dem dialektisch geschulten Hochleistungs-Funktionär, wie er seit 1952 von den Fließbändern der Parteischulen kommt.

Kaul ist noch immer Theater-Fan. Regelmäßig frequentiert er »Mampes Gute Stube« auf dem Kurfürstendamm. Jeder Ober bei Kempinski kennt den »Herrn Doktor« und kredenzt ihm, ohne daß er bestellt, Mattheus Müller.

Indes: Der schwer hantierbare Rechtsanwalt ist dem SED-Regime zumindest so lange unersetzlich, als es mit seiner Hilfe gelingt, hin und wieder die Jungfräulichkeit der bundesrepublikanischen Justiz mit etwas Prostituierten -Odeur zu besprengen. Oder anders: Kauls Exoten-Position in der mitteldeutschen Funktionärslandschaft war ungefährdet, solange ihm verstattet war, vor westdeutschen Gerichten zu plädieren.

Kaul darf sich sogar kritische Späßchen erlauben: »Was wollt ihr, wir behaupten wenigstens nicht, ein Rechtsstaat zu sein?« Er fährt zwischen West und Ost: »Wenn Sie mit mir fahren, brauchen Sie keinen Passierschein.« Seinen Urlaub verbringt er in Cademario am Luganer See, »von wo man so hübsch zur Kapelle Maria d'Iseo bummeln kann«.

Solche Toleranz fällt der Partei um so leichter, als Friedrich Karl Kaul längst wieder sein Autoren-Steckenpferd reitet - im Dienste der Partei natürlich.

Mit einer Fruchtbarkeit, der sich kein anderer sozialistischer Literat rühmen kann, fabriziert er außer Operetten -Libretti schlechthin alles, was sich mit einer Schreibmaschine überhaupt herstellen läßt: Hörspiele im Dutzend, etwa »Mord«, das Luxemburg-Liebknecht-Thema, und neuerdings auch Fernsehspiele, beispielsweise »Der Fall Wandt«, in dem das Kesseltreiben abgeschildert wird, das bürgerliche Presse und bürgerliche Justiz in den zwanziger Jahren auf den Autor der in Romanform gekleideten defätistischen Reportage »Etappe Gent« veranstalteten.

Kauls Lieblingsheld freilich, über den er am lebhaftesten und besten schreiben kann, heißt Friedrich Karl Kaul. Seit 1950 häkelt er unermüdlich Zeile für Zeile an einem monströsen literarischen Bilderbogen, der den »Anwalt der Werktätigen« in Aktion zeigt. Kernstücke dieses Triumph-Gobelins sind seine in Folgen erschienenen »Erlebnisse und Erfahrungen mit Westberliner (und westdeutschen) Gerichten«.

Freilich steht Kaul bei solchen Schilderungen mit seinem Beweisthema - dem Terrorcharakter der westlichen Justiz - in ständigem Konflikt, denn

- wenn diese Justiz wirklich Terrorcharakter hätte, dann wäre es nicht möglich, daß ein Verteidiger durch schlichte Ausnutzung der Strafprozeßordnung ein ums andere Mal Klienten freipaukt;

- wenn andererseits Kaul die Verkommenheit der kapitalistischen Rechtspflege glaubhaft darstellen wollte, indem er nur solche Verfahren schilderte, in denen es zur Verurteilung kam, so müßte das zu

Lasten des eigenen Advokatenlorbeers gehen.

Autor Kaul läßt den Anwalt Kaul obsiegen: Den fehlenden Nachweis, wie rechtswidrig die bürgerliche Justiz arbeitet, erbringt er lieber auf dem historischen Felde. Parallel zu den Sammelbänden mit seinen eigenen Prozessen schrieb Kaul nämlich noch die Folge »Weimarer Pitaval«. Genießerisch malt er darin beispielsweise aus, wie von einem Divisions-Kriegsgericht die 14 Marburger Studenten freigesprochen wurden, die 1920 während der Thüringer Unruhen 15 festgenommene Arbeiter »auf der Flucht erschossen« hatten.

Diesen in der Tat absurden Rechtsspruch konfrontiert er dann jenem Urteil des Volksgerichts München, durch das sechs Angehörige der Münchner Räte-Truppen zum Tode und sieben weitere zu je 15 Jahren Zuchthaus verurteilt wurden, weil sie auf schriftlichen Befehl ihres Kommandanten zehn Rechtsradikale der »Thule-Gesellschaft« erschossen hatten, deren Vorsitzender der nachmalige Führer-Stellvertreter Rudolf Heß war.

Historiker Kaul: »Das entwickelte sich alles zwangsläufig. Dem Verfall der politischen Moral folgte die Zersetzung der Geschäftsmoral und schließlich die soziale Auflösung im Kriminellen.«

Hatte Kaul mit den »Erlebnissen und Erfahrungen ...« sich selbst juristisch aufgebaut und mit dem »Weimarer Pitaval« sein sozialkritisches Soll erfüllt, so diente ein anderer Produktionszweig mehr dem Ausgleich der privaten Kaul-Bilanz ("Aus der Praxis ziehe ich ja nichts heraus"): Die Auflagen seiner Krimis - »Der Ring«, »Die Doppelschlinge«, »Der blaue Aktendeckel« - nähern sich jeweils der Hunderttausend, im sozialistischen Friedenslager kursieren zudem bereits Übersetzungen.

Alles in allem hat Kaul mittlerweile mit seiner - abgesehen von den Prozeßschilderungen - sentimental-schwülstigen, auf kleinbürgerlichen Massengeschmack abgestellten Vielschreiberei allein bei dem Verlag »Das Neue Berlin« eine Auflage von 387 000 erreicht. Der ehrgeizige Autor gleicht bei dieser Sisyphus-Arbeit das absolute Fehlen schöpferischer Phantasie dadurch aus, daß seine Werke stets tatsächlichen, aktenkundig gewordenen Vorfällen nachgestaltet sind.

Wo Schauplatz- und Szenenschilderungen notwendig werden, greift Kaul auf den eigenen Erlebnisschatz zurück. Bestimmte Kulissen, die ihm offenbar besonders in Erinnerung geblieben sind, wiederholen sich klischeehaft: Etwa die Raddampferfahrt auf dem Rio Magdalena vom kolumbianischen Hafenplatz Baranquilla stromaufwärts zur Hauptstadt Bogotá.

Auf diese Weise macht sich seine Emigrationszeit - Kaul: »Das war das Schlimmste, übler in vieler Hinsicht als das KZ« - doch noch bezahlt.

Tatsächlich hatte Kaul die »Caribia«, die an jenem 9. April 1937 von Hamburg auslief, in Baranquilla verlassen und sich nach einiger Zeit in

das höher gelegene Bogotá abgesetzt. Kaul arbeitete als Austräger, Hilfsarbeiter auf dem Bau, schließlich bei einem Architekten, der Bankrott machte. Von einem Gläubiger angezeigt, lernte er die kolumbianischen Gefängnisse kennen.

Kauls Odyssee führte ihn durch etliche mittelamerikanische Staaten nach Mexiko City, wo alsbald in der deutschen Kolonie das Gerücht umging, er bespitzele im Auftrag des Sowjetbotschafters Umanowski den - der Rechtsabweichung verdächtigen - Emigranten-Zirkel um den deutschen Kommunisten Paulchen Merker.

Nach dem Kriegseintritt der USA wurde Dr. Kaul, damals gerade Tellerwäscher in New Orleans, im texanischen

Lager Kennedy interniert, zusammen mit 15 000 Japanern, Deutschen und Italienern. Nachdem er dort nationaldeutsche Prügel bezogen hatte, kam er in ein sogenanntes Anti-Nazi-Lager und nach Kriegsende in das Fremdenpolizei -Gefängnis auf Ellis Island vor New York.

Seitdem haßt Kaul die Amerikaner. Er fühlte wieder intensiv deutsch und legte sich jene Floskel zu, die später fast jedes seiner Plädoyers zieren sollte: »Ich halte es für meine nationale Pflicht als Deutscher ...«

Kaul wußte auch schon, wozu ihn seine beiden von nun an von ihm selbst als dominant empfundenen Charakterzüge - Kommunist sein und Deutscher sein - in naher Zukunft befähigen würden: »Nach Washington werde ich als Botschafter der deutschen Sowjetrepublik zurückkehren.«

Vorerst freilich fuhr er mit einem amerikanischen Truppentransporter nach Bremerhaven - aber nur, um dort von der Kommandantur auf einen offenen Güterzug verfrachtet zu werden, der mit etlichen Tausend Landsern in langsamer Fahrt quer durch das zerstörte Deutschland ins süddeutsche Massenlager Heilbronn rollte.

Kaul landete schließlich - »das halbe Auswärtige Amt war mit mir dort« - im württembergischen Festungsgefängnis Asperg bei Ludwigsburg, wo sich - im Sommer 1945 - Hitlers Diplomaten wesentlich toleranter gegenüber dem Kommunisten zeigten als Hitlers Auslandsdeutsche in den Interniertenlagern der Süd- und Nordamerikaner. An einen besonders eifrigen Sympathien-Sucher erinnert sich der Dr. Kaul sogar heute noch: an Hans Kroll, den späteren Botschafter in Tokio und derzeitigen Platzhalter der Bundesrepublik in Moskau (SPIEGEL 23/1960).

Kaul: »In der Zuchthauskapelle habe ich ihnen aus meiner Autobiographie vorgelesen. Der Kroll kam noch nachts in mein Zimmer, ich hatte ja so eine Art Geschäftszimmer, und sprach mir seinen Dank aus. Ich habe ihm dann 'Es wird Zeit, daß du nach Hause kommst' nach Tokio geschickt. Die anderen flüsterten natürlich, daß dieser Kroll noch nach dem 20. Juli unentwegt die Fahne herausgehängt habe.«

Als Kaul entlassen wurde, gaben ihm die Kameraden das Geleit. Vom offenen Ami-Lkw herunter grüßte sie der Reisende zu neuen Ufern erstmalig mit erhobener Faust.

Seine sichtbare kommunistische Karriere begann, die ihn zu materiellen Erfolgen führte, dann zum bekanntesten SED-Anwalt in allen vier Sektoren Berlins und schließlich - nach dem Erlaß des bundesrepublikanischen Blitzgesetzes über Hochverrat, Staatsgefährdung und Landesverrat - zum hochpathetischen Verteidiger der Rechte des Individuums in der Bundesrepublik machte.

Bläst sich der hornbebrillte Kaul auf, den Schädel zwischen den Schultern: »Die tragenden Elemente der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes können nicht dialektisch differenziert werden.«

Hörbar leidend: »Wie unwürdig ist dieses Ausweichen vor den konstituierten Prinzipien der Verfassung.«

Tatsächlich vermiest Kaul den Bundesbürgern ihren demokratischen Rechtsstaat, indem er dauernd die Fiktion nährt, Rechtsstaatlichkeit sei etwas

Absolutes und nicht vielmehr regelmäßig relativ.

Die spektakulärsten Triumphe allerdings verdankt er nicht seiner melodramatischen Begabung, ja nicht einmal den Ungereimtheiten der deutschen Nachkriegs-Situation, sondern den Fehlzügen seiner Gegenspieler.

So, als er es fertigbrachte, im vergangenen Jahr den Fall eines halbstarken Plakatklebers, der vor den Schnellrichter gehört hätte, unter den Augen von ganz Deutschland zu einer fatalen Demonstration gegen Oberländer, Globke und Adenauer aufzublasen.

Der Westberliner Jungkommunist Klaus Walter, der eine Ostberliner Vorstudienanstalt besuchte, hatte unmittelbar nach Beginn der antisemitischen

Schmierwelle in der Bundesrepublik ein SED-Plakat an eine Neuköllner Mauer geheftet. Auf dem Plakat war eine Karikatur des britischen »Daily Express« frei nachgestaltet: der Bundeskanzler, Krokodilstränen in ein hakenkreuzgeziertes Taschentuch vergießend, mit Minister Oberländer in der einen und Staatssekretär Globke in der anderen Rocktasche, die beide mit Pinseln Hakenkreuze auf den Hintergrund malen.

Die Polizei nahm den Jungen fest - und damit hätte die Sache ihr Bewenden haben können, denn kommunistische Malkolonnen und Flugzettelverteiler sind in Westberlin nichts Außergewöhnliches.

Allein, nun passierte die erste Panne: Aus dem Hause des einfallsreichen Innensenators Lipschitz verlautete, in Westberlin habe ein FDJ-ler Hakenkreuzplakate geklebt. Die Meldung wurde in der Bundesrepublik hochgespielt, um die höchsten Orts sanktionierte Lehre von den kommunistischen Drahtziehern der Schmierereien zu untermauern.

Die belanglose Plakatgeschichte war plötzlich Staatsaffäre. Westlich vom

Brandenburger Tor wurde Klaus Walter über Nacht zum lebendigen Beweisstück für die Hintermänner-Theorie, und drüben avancierte er postwendend zum Opfer der bundesrepublikanischen Renazifizierung, von dem die kommunistische Presse wochenlang zehrte.

Die nächste Dummheit machte Minister Oberländer: Er verklagte den Jungkommunisten wegen Beleidigung. Globke, der ebenso betroffen war, zeigte sich

- wie sonst, so auch diesmal - als der

Klügere: Er schwieg.

Kaul hatte alle Karten in der Hand. Er konnte einmal nachweisen, daß die FDJ nicht nur keine Hakenkreuz -Anfälligkeiten zeige, sondern im Gegenteil mit aller Energie den Nazismus bekämpfe - wofür sie dann freilich von westdeutschen Gerichten bestraft werde. Und er konnte verlangen, daß das Gericht seinen dokumentarisch reich fundierten Vortrag zum Thema »Oberländer einst und heute« in Gegenwart der eifrig mitschreibenden Korrespondenten zur Kenntnis nehme.

Denn: Wenn Oberländer schon dem Klaus Walter vorwarf, er habe über ihn, Oberländer. »eine Tatsache ... verbreitet, welche ... verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet ist«, so mußte dem Angeschuldigten auch erlaubt sein, sich gemäß Paragraph 186 StGB zu. salvieren: Die Verächtlichmachung durch Tatsachen-Behauptungen ist nämlich nur dann strafbar, »wenn nicht diese Tatsache erweislich wahr ist«.

Kaul - »ich kam in großer Besetzung« - legte los: »Die Aussage dieser Plakat-Karikatur ist, daß Globke und Oberländer Faschisten, Rassen- und Völkerhetzer sind, auch Antisemiten, denn sie haben sich nicht von ihrer Vergangenheit distanziert ... Beide werden von Adenauer geschützt.«

Ferner: »Dies sind keine Werturteile, sondern durch Tatsachen beweisbare Behauptungen.«

Dann spulte er, fast ohne Luft zu holen, dreizehn Beweisanträge herunter: Nummer eins, die Ladung Adenauers, Oberländers sowie der vier Mitglieder des CDU-Ehrenrates, die mit der Untersuchung der gegen Oberländer erhobennen Vorwürfe beauftragt waren; Nummer zwei bis neun, jeweils mit ausgiebigen Dokumentenverweisen. sämtlich zum Beweisthema Oberländer; Nummer zehn bis 13 zum Thema Globke und Adenauer.

Das Gericht war hilflos und mußte sich von dem Zehn-Pfennig-Blatt »Berliner Zeitung« fünfspaltig vorwerfen lassen: »Skandal in Moabit - SED -Anwalt hetzte - der Richter schwieg!« Die tapfere »BZ« tat dem ohnmächtigen

Landgerichtsdirektor Ohnsorge unrecht: Er war nicht hilflos, er hatte lediglich angesichts der Alternative, entweder gegen die Regeln des Strafgesetzbuchs oder gegen bestimmte politische Interessen verstoßen zu müssen, sich zu den klaren Bestimmungen des Paragraphen 186 bekannt. Nachdem Oberländer sich nun einmal durch den Vorwurf beleidigt fühlte, ein Nazi zu sein, mußte dem Beleidiger der Wahrheitsbeweis eröffnet werden.

Wie günstig der Wind in Kauls Segeln stand, wurde klar, als der Staatsanwalt Kauls stundenlange Eloge zu kontern versuchte: »Ich möchte in aller Form darauf hinweisen, daß hier Klaus Walter der Angeklagte ist und nicht der Bundesminister Professor Oberländer ...«

Wenigstens vermochten die Zuhörer darin noch einen Sinn zu erkennen. Sodann aber beschäftigte sich Staatsanwalt Dobbert mit den Krokodilstränen: »Die überreichte Karikatur aus dem 'Daily Express', mit der die Verteidigung eine Übereinstimmung der Meinungen nachzuweisen versucht, zeigt nur eine einzige dicke Träne! Die ganze Übereinstimmung besteht also in einer Krokodilsträne! Ich frage das Gericht, was es davon hält?«

Nach dieser verwirrenden Frage bezeichnete Dobbert die Beweisanträge Kauls als unerheblich und forderte seinerseits die Verlesung von Teilen einer vom Westberliner Innensenator herausgegebenen Broschüre »Östliche Untergrundarbeit in Westberlin«.

Kaul: »Ich habe den Eindruck, hier auf der falschen Hochzeit zu sein.« Und: »Ich muß sagen: Bedaure, daß der Herr Vertreter der Anklage zu den wirklichen Vorgängen dieses Verfahrens nicht ein Wort gefunden hat ... Ich frage: Liegt das vielleicht an der Tatsache, daß Oberländer noch Bundesminister ist? Das nämlich ist der Kernpunkt des Problems ... und ich bitte: Gewähren Sie einem jungen Menschen das Recht, gegen Leute wie Oberländer und Globke zu protestieren. Denn das ist das Recht jedes guten Deutschen.«

Weiter: »Eine Wahrheit bleibt doch eine Wahrheit, ob sie nun aus der Wilhelm-Pieck-Straße kommt oder aus dem Grunewald! So haben wir es gelernt, so soll es auch bleiben in diesem Leben! Machen Sie sich nicht einer Differenzierung der Wahrheit schuldig, Hohes Gericht! Ich beantrage daher wegen erwiesener Unschuld den Freispruch meines Mandanten!«

Zu Kauls Plädoyer hatte sich ein großer Teil der dienst- und arbeitsfreien Richter, Staatsanwälte und Verteidiger des Moabiter Gerichts eingefunden. Kommentare auf dem Gang: »Ist ja doch immer 'n Spaß, den Kaul quasseln zu hören.«

Urteil: Klaus Walter wird wegen einfacher Beleidigung nach Paragraph 185 StGB zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt, die durch die Untersuchungshaft als abgebüßt gelten.

In der Euphorie vergaß Ulbrichts schizophrener Anwalt wieder einmal, daß seine Parteifunktion darin besteht, die westdeutsche Justiz zu diskriminieren: »Na, was habe ich gesagt - dem Staatsanwalt hat das Gericht theoretisch und mir praktisch recht gegeben, und darauf kommt es doch schließlich an!« Sprach's, rieb sich die Hände und verschwand anderntags zu einem mehrwöchigen Urlaub ins schweizerische Cademario.

Das war Anfang April. Sechs Wochen später ließ ihn das Zentralkomitee zum Professor ernennen, »in Anerkennung der großen Verdienste Dr. Kauls um die Verteidigung der Menschenrechte ... sowie um die Wahrung der Freiheitsrechte der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik gegenüber den Übergriffen des klerikal-militaristischen Regimes in Westdeutschland«.

48 Wochen später entzog ihm der politische Strafsenat des Bundesgerichtshofs die Möglichkeit, eine neue FKK -Schau irgendwo in der Bundesrepublik oder in Westberlin zu veranstalten, sofern es das beteiligte Gericht nicht wünscht.

Ganz ohne Verluste wurde dieser Sieg über Kaul freilich nicht errungen. In der zehnseitigen Begründung zu dem Beschluß des Dritten Senats findet sich der merkwürdige Satz: »Das Recht des Beschuldigten, den Verteidiger frei zu wählen, wird dadurch praktisch kaum eingeengt.«

Das SED-Blatt »Neues Deutschland« schlug sofort in die Kerbe: »Es handelt sich (bei dem Ausschluß) um die Verfahren gegen Helmut Klier aus Düsseldorf und den DDR-Bürger Fred Meinig aus Freital, deren Freispruch Professor Kaul in erster Instanz erkämpft hatte. Der Bundesgerichtshof, faßte den Beschluß angeblich 'zum Schutz' der beiden Angeklagten.«

SED-Advokat Kaul: Konterbande im Kopf

Gerichtspräsident Wintrich

FKK-Schau in Karlsruhe

Kaul-Opfer Cantor

Beleidigung vor Ort

Kaul-Gegner Schwennicke, Kielinger

Sonderbehandlung für den Schädling

DDR-Justizminister Hilde Benjamin, Hanna Grotewohl, Freund: Unter Funktionären ein Exote

Westberliner Anwalts-Präses Wergin

Tradition schützt Kommunisten

Stinnes-Verteidiger Alsberg

Der Anwalt des Volkes ...

Haarmann-Verteidiger Frey

... auf den Spuren der Snobs

Kaul-Enthüller Müller-Jabusch

Für die Partei ein Plagiat

Kaul-Krimi

für die Proleten Kolportage

Kaul-Praxis, Kaul-Auto: MM bei Kempinski

Anti-Antisemten Plakat: Tränen gezählt

Plakat-Kleber Walter, Anwalt: Globke schwieg

Zur Ausgabe
Artikel 1 / 58
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten