UNFÄLLE Einfach nicht dran gedacht
Mit der rechten Hand griff der Maschinensteiger Friedrich Sandhoff, 49, nach dem Schalthebel und setzte den Elektromotor still. Der elektrisch angetriebene Ventilator der Schachtanlage 3/4 der Kohlenzeche Nordstern in Gelsenkirchen-Horst drehte sich noch ein dutzendmal und kam leise pfeifend zur Ruhe. Die Diagrammuhr, die den Unterdruck im Ansaugkanal und die aus dem Schacht 4 herausgesogene Luftmenge registriert, stand auf fünf Minuten nach sieben.
Von diesem Augenblick an, es war am Morgen des 26. Juni 1955, eines Sonntags, war durch die Abschaltung des Ventilators der Hauptwetterzug unterbrochen: Grubengas und Kohlenstaub wurden nicht mehr
aus dem Grubenfeld abgesogen, die Zufuhr von Frischluft hörte auf, und aus Grubengas, Kohlenstaub und Luft bildete sich unter Tage ein hochentzündliches Gemisch.
Wegen dieser Gefährdung des Grubenbetriebes muß jede Stillsetzung eines Ventilators vom Bergamt - der staatlichen Aufsichtsbehörde - vorher genehmigt werden. So hatten denn auch Grubenbetriebsführer Jakob Schmidt, 45, und Tagesbetriebsführer Alexander Schieber, 42, am 20. Juni - also sechs Tage vorher
dem Bergamt Gelsenkirchen mitgeteilt, daß der Ventilator auf Nordstern 3/4 am kommenden Sonntag in der Zeit von sechs bis voraussichtlich vierzehn Uhr abgeschaltet werden sollte.
Die Abschaltung eines Ventilators ist an sich keine Haupt- und Staatsaktion. Die Anlage auf Nordstern 3/4 - ein moderner Ventilator - wird zum Reinigen und Auffüllen des Achslagers nur alle Vierteljahr stillgelegt; andere Ventilatoren müssen zur Wartung alle fünf Wochen für kurze Zeit außer Betrieb gesetzt werden.
Dennoch erteilt das Bergamt die Genehmigung nicht etwa durch einfachen Vordruck. Mit der Hand tippt die Sekretärin jedesmal die Bedingungen, die sie schon im Schlaf singen kann, neu: »Während der Zeit des Stillstandes des Ventilators dürfen in dem betreffenden Grubenfeld unter Tage keine Leute beschäftigt werden.« Und weiter: »Vor Wiederaufnahme der Arbeit unter Tage sind die Betriebspunkte durch die Wettermänner oder durch Aufsichtspersonen auf das Vorhandensein schädlicher Gase zu untersuchen.«
Der Zwang, solche Genehmigungen einholen zu müssen, hat den Sinn, die Abschaltung des Ventilators zu erschweren und die Verantwortlichen an die Gefahren dieser Maßnahme zu erinnern. Ausdrücklich schreibt die Genehmigung abschließend vor: »Die (Genehmigungs-)Verfügung (mit ihren Bedingungen) ist den in Betracht kommenden Aufsichtspersonen zur Kenntnis zu bringen.«
Nun war freilich Erster Bergrat Tiemann, als er die Genehmigung diktierte, nicht frei von einem gewissen Schematismus, der durch die routinemäßige Erledigung solcher Anträge verursacht sein mag. Er verlangte nämlich auch gleich mit, daß
»die auf der Nordstern-Schachtanlage 3,4 vorhandenen Einrichtungen für die Sonderbewetterung durchgehend in Betrieb bleiben«, obwohl in diesem Grubenfeld gar keine Sonderbewetterung angelegt war.
Am Freitag traf dieses Genehmigungsschreiben bei der Hauptverwaltung der Rheinelbe Bergbau AG in Gelsenkirchen ein und wurde am Sonnabend nach Büroschluß mit der übrigen Werkpost an die Zeche Nordstern im Stadtteil Horst weitergeleitet. Dort blieb es übers Wochenende ungeöffnet im Büro liegen.
Es war nicht das erste Mal, daß die Genehmigung des Bergamtes, den Ventilator stillzusetzen, noch nicht im Betrieb vorlag, als der Termin zum Abstellen gekommen war. In solchen Fällen pflegte Tagesbetriebsleiter Schieber selbst oder durch seinen Sekretär beim Bergamt telephonisch die Einwilligung einzuholen. Dieses Mal griff Schieber aber nicht zum Telephonhörer. Warum er es dieses Mal nicht tat, obwohl im Bergbau sonst mehr telephoniert wird als in Industriebetrieben vergleichbaren Umfanges, dafür hat Schieber nur die Antwort, die auch Erster Bergrat Tiemann, der eine - nicht vorhandene
-Sonderbewetterung in Betrieb setzen wollte, gut hätte geben können: »Vergeßlichkeit. Ich habe einfach nicht daran gedacht.«
Intimitäten mit dem Tod
Woran dann Maschinensteiger Sandhoff dachte, als er zum Schalthebel griff und den Ventilator abstellte, wird wohl nie mehr festzustellen sein. Eigentlich sollte der Ventilator ja schon um sechs Uhr morgens stillgelegt werden. Sandhoff hatte aber noch eine Stunde gewartet, um den Bergleuten der soeben beendeten Nachtschicht genügend Zeit zum Verlassen des Reviers zu geben. Damit glaubte Sandhoff seine Schuldigkeit getan zu haben.
Ob das Revier nun aber wirklich von Menschen frei war, danach erkundigte er sich nicht. Ein Anruf beim diensthabenden Aufsichtsbeamten des Grubenbetriebes hätte Sandhoff in die Lage versetzt, die Gefahr mit einem Griff abzuwenden. So streng die bergpolizeilichen Vorschriften aber sonst auch sind, ausdrücklich ist eine solche Erkundigungspflicht des Mannes am Ventilator nicht fixiert, und von sich aus nachzufragen, hatte er vergessen.
Nun ist im Bergbau eine Frühschicht am Sonntag nicht üblich. Am Sonntag wird keine Kohle gefördert; man benutzt den Tag zur Erledigung anderer Arbeiten, etwa zu Reparaturen.
Zur gleichen Zeit, zu der Sandhoff den Ventilator abstellte, brachte der Förderkorb an diesem Sonntagmorgen aber fünfzehn Bergleute, unter ihnen vier Schießmeister mit ihren Gehilfen, auf die 800 Meter tiefe elfte Sohle der Schachtanlage. Die Eingefahrenen sollten nicht nur das Stahlgliederband ausbessern, auf dem die Kohle transportiert wird, sondern auch Schießarbeiten zur Lockerung der Kohle vornehmen.
Auch an diesem Sonntag wäre keine Frühschicht zum Schießen eingefahren, hätte nicht am Nachmittag Fußball-Westmeister Rot-Weiß Essen im Endspiel um die Deutsche Fußballmeisterschaft im Stadion zu Hannover dem 1. Fußball-Club Kaiserslautern gegenübergestanden. So aber hatten die Bergleute gebeten, die für Sonntag angesetzte Nachtschicht auf den Sonntagmorgen zu verlegen. Die Bergleute, die vor der Nachtschicht zu schlafen pflegen, wollten an diesem Nachmittag die Radioübertragung des Fußballspiels anhören.
Für die Jüngeren unter ihnen - der jüngste Kumpel der Schicht war knapp einen Monat zuvor zwanzig geworden -
hatte dieser Sonntagabend noch einen besonderen Reiz: Auf dem Marktplatz
Horst-Nord begann eine Kirmes, die in Verbindung mit einem großen Trachtenfest acht Tage dauern sollte. Die jüngeren Bergleute geben sich einem solchen Trubel mit um so größerem Vergnügen hin, als sie ausgerechnet haben wollen, daß sich in Gelsenkirchen der »Überschuß« an jungen Damen im interessierenden Alter auf siebenhundert beläuft.
Der Grubenbetriebsführer Schmidt hatte nun aber vergessen, dem Wetterfahrsteiger Robert Waleczek, also dem für die Belüftung der Schächte Verantwortlichen, das geplante Abstellen des Ventilators mitzuteilen.
So fuhr Grubensteiger Johannes Kohlgraf, 35, als Aufsichtsperson mit seinen
vierzehn Bergleuten vor Ort, ohne die Gefahr zu kennen. Gegen acht Uhr begannen die Eingefahrenen, die etwa 35 Millimeter starken und fast zwei Meter tiefen Bohrlöcher anzulegen. Viertel vor zehn dröhnten die ersten Sprengschüsse - es wurde mit dem Sicherheitssprengstoff Wetter-Nobelit B M 1 gearbeitet - durch das Streb.
Sechzig Minuten später zerriß ein Feuerstrahl das dämmrige Licht im Streb. Als sich die Detonation an den Wänden des Strebs gebrochen hatte, waren vierzehn Bergleute tot; Steiger Kohlgraf, etwas abseits des Unglücksstrebs beschäftigt, kam als einziger davon.
Wie es zur Explosion kam, darüber werden Sachverständige in dem Prozeß, der in dieser Woche vor der V. Großen Strafkammer des Essener Landgerichts beginnt, widersprechende Gutachten unterbreiten.
Auf der Anklagebank sitzen
- Grubenbetriebsführer Jakob Schmidt,
- Grubensteiger Johannes Kohlgraf,
- Tagesbetriebsführer Alexander Schieber,
- Maschinensteiger Friedrich Sandhoff.
Sie werden der fahrlässigen Tötung beschuldigt.
Lange nachdem die Staatsanwaltschaft gegen Schmidt und Kohlgraf die Anklage vorbereitet hatte, mußte sie auf Betreiben des Oberbergamtes die Anklage auf Schieber und Sandhoff erweitern. Es scheint, als ob das Oberbergamt mit diesem Prozeß ein Exempel statuieren möchte, ein Exempel gegen eine Gewohnheit, gegen die es sonst - wie bei der Stillegung eines Ventilators - mit Genehmigungsverfahren
anzukämpfen sucht: gegen den allzu intimen Umgang mit dem Tod.
Eine andere Katastrophe beispielsweise, eine Schlagwetterexplosion auf der Zeche Dahlbusch, ebenfalls in Gelsenkirchen, am 3. August 1955, die 42 Tote forderte, ist möglicherweise durch grenzenlosen Leichtsinn verursacht worden, wie aus einer Überlegung Oberbergrats Wilhelm Latten vom Oberbergamt Dortmund zu entnehmen ist. Er fragt: »Ob da unten geraucht worden ist?«
Daß bei dem Unglück auf Dahlbusch so viele Bergleute den Tod fanden, lag vor allem daran, daß die meisten Kumpel ihre CO-Filter-Selbstretter, die die Zeche Dahlbusch eineinhalb Jahre zuvor eingeführt hatte, nicht bei sich trugen. Nach dem Unglück wurden, die Selbstretter mehrerer vermißter oder tot geborgener Bergleute über Tage in ihren Schränken im Umkleideraum gefunden.
Bergmann Erwin Korth, 38, weiß noch einen anderen Grund dafür, daß viele Kumpel nicht früh genug den rettenden Filter aufsetzten. Ein Bergmann - so meint er
- benutze den Filter nur sehr ungern, weil er 32,50 Mark koste, und weil die Direktion angeordnet habe, daß jeder Kumpel, der den Filter ohne zwingende Gefahr aufsetze, ihn bezahlen müsse. Kontert Bergwerksdirektor Lüthgen: »Wir hatten lediglich darauf aufmerksam gemacht, daß der Kumpel die Kosten zu tragen habe, wenn er den Filter fahrlässig oder absichtlich beschädige.«
Ursache all diesen Leichtsinns ist das Streben vieler Bergleute, möglichst schnell möglichst viel Lohn zu verdienen und so ohne allzu große Rücksicht auf die eigene Sicherheit im Akkord zu arbeiten. Das Kameradschaftsgedinge, in dem eine Ortsbelegschaft sich den Verdienst der Gemeinschaftsarbeit teilt, ist durchweg vom Ein-Mann-Gedinge abgelöst. Wie der Bergmann im Akkord arbeitet, so sind in ähnlichem Maße durch ein Prämiensystem Steiger und Betriebsführer an ständiger Erhöhung der Förderung auch materiell interessiert.
Sicherheit zuletzt
Ein Beispiel gibt der Grubensteiger Kohlgraf, der bei der Katastrophe auf »Nordstern«, über die in dieser Woche vor dem Essener Landgericht verhandelt wird, noch einmal davongekommen ist. Er hat sich gegen den Vorwurf zu verantworten, die Wetterproben* entgegen strenger Vorschrift nicht mit der nötigen Sorgfalt vorgenommen zu haben.
Nun ist es unter besonderen Voraussetzungen denkbar, daß Gas so plötzlich auftritt, daß es niemand mehr wahrnehmen kann. Dafür spricht, daß auch die getöteten Schießmeister das Gas nicht bemerkt hatten, obschon sie - wie Kohlgraf
- mit Wetterlampen ausgerüstet waren.
Wahrscheinlicher ist jedoch, daß Kohlgraf und die Schießmeister, die nach jedem Schuß das Wetter (die Belüftung) kontrollieren müssen, an diesem Tage das Wetter überhaupt nicht prüften. Mancher Steiger - das Bergamt ist weit - löscht entweder die Wetterlampe oder hängt sie am Stapel auf.
Durchaus nicht alle Schießmeister halten sich an die Bestimmungen, nach denen sie jedes Bohrloch einzeln laden, besetzen (mit einer Lehmschicht zupfropfen) und abschießen müssen.
An der Unglücksstätte fand man mehrere Schüsse nebeneinander.
Im nordrhein-westfälischen Landtag hat der Vorarbeiter und Zentrumsabgeordnete Heinrich Peterburs während einer Debatte über dieses Unglück nach den Gründen für jene Haltung der Kumpel gesucht. Das Unglück wäre vermeidbar gewesen, »wenn alle Voraussetzungen grubensicherheitlicher Art und alle von der Bergbehörde vorgeschriebenen Bestimmungen innegehalten worden wären. Fahrlässig und unzulänglich waren aber nicht nur die verantwortlichen Menschen, sondern auch jene, die leider Gottes aus dem Gefühl der Sicherheit oder aus dem Gefühl heraus, möglichst viel zu leisten, um möglichst viel zu verdienen, die Sicherheitsvorschriften außer acht ließen.«
* Wetterprobe: Die Wetterlampe ist zur Kontrolle der Luftverhältnisse hochzuheben, weil sich Grubengas an der Decke des Strebs ansammelt.
Am Größerwerden der blauen, benzingespeisten Flamme der Wetterlampe (die nicht mit der Grubenlamnpe zu verwechseln ist) kann der »Wettermann«, den Prozentsatz angesammelten Grubengases genau feststellen. Normalerweise ist die Flamme nur drei bis vier Millimeter hoch.
Vor der Zeche Nordstern am Katastrophen-Sonntag: Ein Ventilator stand still