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TERRORISTEN Einfach untergegangen

Hanns Martin Schleyer hinterließ vor seinem Tode deutliche Signale in einer Wohnung und in einem Auto. Doch die Polizei bemerkte sie zu spät.
aus DER SPIEGEL 10/1978

Rosabezogene Daunen auf dem Ehebett im Schlafzimmer, eine moderne Golgatha-Plastik auf dem Sideboard im Wohnzimmer, das Bad blau gekachelt, ein begehbarer Wandschrank mit dunkelbraunen Türen -- das war die Szene: Heimstatt einer Familie »Bückelers«, wie sie sich nannte, auf 78 Quadratmetern in Erftstadt-Liblar bei Köln, dritter Stock links.

Als die Mieter die Wohnung verließen, hielten sie Großreinemachen. Türen, Wände, Lichtschalter waren so gründlich gewischt, daß sich nirgendwo später noch ein Fingerabdruck fand.

Gleichwohl waren Beamte des Bundeskriminalamts (BKA) aufs höchste alarmiert, nachdem sie am 9. November letzten Jahres die verlassene Wohnung betreten hatten: Auf dem Fußboden im Schlafzimmer lag ein viereckiger goldener Manschettenknopf mit dunkelrotem Stein -- aus dem Besitz des drei Wochen zuvor ermordeten Arbeitgeber-Präsidenten Hanns Martin Schleyer.

Schaumstoffreste und Klebespuren in dem Wandschrank verrieten, daß in der Wohnung eine schalldichte, provisorische Kabine eingerichtet worden war; eine im Schrank angeschraubte Kette, wie sie in vielen Wohnungen als zusätzliche Türsicherung verwendet wird, hatte offenbar als Handschelle gedient. Fest überzeugt davon, endlich Schleyers »Volksgefängnis« gefunden zu haben, waren die Ermittler auch aufgrund anderer Indizien. Es zeigte sich manche Übereinstimmung zwischen Details der von Schleyer besprochenen Video-Bänder und dem direkten Augenschein.

Zwar fand sich jenes RAF-Poster nicht mehr in der Wohnung, das auf den Schleyer-Photos der Entführer als Hintergrund zu sehen war. Doch wies die Wand Spuren von Reißzwecken und Tesa-Streifen in den entsprechenden Maßen auf.

BKA-Observanten und Kräfte des Dortmunder Mobilen Einsatz-Kommandos (MEK) legten sich rund um die Uhr auf die Lauer. Sie quartierten sich in der Wohnung nebenan ein, deren Inhaber, ein Rentner-Ehepaar, auf Staatskosten nach Mallorca fahren durften. Jedoch hinter den roten Vorhängen der »Bückelers« in dem 15geschossigen Hochhaus tat sich nichts.

Ende Januar erfuhr der Wohnungsvermieter brieflich (Poststempel: Köln) von einer »Annelore Lottmann-Bückelers«, sie sei inzwischen »wieder verheiratet«, heiße »nun Johnson« und wohne seit neuestem »in Melbourne«. Über die Wohnung könne wieder anderweitig verfügt werden.

Inzwischen weiß das BKA: Unter dem Decknamen jener Annelore hatten sich im letzten Jahr im Raum Köln die Terroristinnen Silke Maier-Witt, Juliane Plambeck, Adelheid Schulz und Friederike Krabbe verborgen.

Ihre Begleiter und Besucher, zum Beispiel in Liblar, waren die mutmaßlichen Schleyer-Entführer Christian Klar, Knut Folkerts, Willy Peter Stoll, Christoph Wackernagel und andere.

Die Fahndungsspur »Melbourne«, ein plumper Trick und zugleich das jüngste Lebenszeichen der Kidnapper, kündigte letzte Woche einen Polizeiskandal von beträchtlichen Ausmaßen an: »Schleyer könnte vielleicht noch leben«, räumen hohe Sicherheitsexperten intern ein, »wenn da im Polizei-Apparat nicht geschlampt worden wäre.«

Mehrere Tips aufmerksamer Bürger von Erftstadt-Liblar gerieten in Nordrhein-Westfalen offenbar in falsche Kanäle und erreichten nicht oder zu spät das zentral ermittelnde und alle Fahndung koordinierende BKA.

So war dem Hausverwalter schon am 18. Juli jene junge Frau mit Kopftuch »unangenehm aufgefallen«, die als »Frau Bückelers« die Wohnung zum 1. August gemietet hatte und ihn dabei ein dickes Geldbündel in der Handtasche sehen ließ. Er informierte die örtliche Polizei in Erftstadt.

Ruth Grust, 54, Hausbewohnerin am Renngraben 8, meldete dem lokalen Revier kurz nach der Schleyer-Entführung Anfang September, junge Männer seien vor dem Hochhaus mit einem großen Möbelwagen vorgefahren, obwohl da kein Um- oder Einzug stattgefunden habe.

Auch das, was Irmgard Harnoth protokollieren ließ, die Ehefrau eines Polizisten, klang recht konkret: »Ich habe am 4. Oktober Willy Peter Stoll am Steuer eines Taxis mit Frankfurter Kennzeichen gesehen. Gegen 16.30 Uhr lud er nahe dem betreffenden Hochhaus zwei Männer ab, die beide um die 30 waren.« Terroristen-Autos als Taxis getarnt? Doch weder diese noch andere Spuren brachten die Fahnder auf Trab.

Aufschlüsse über derlei Pannen sollen jetzt disziplinarische Untersuchungen im Polizei-Apparat ergeben, zu denen sich die FDP-Innenminister Maihofer (Bonn) und Hirsch (Düsseldorf) gedrängt sehen. Hirsch galt letzte Woche im Bundeskabinett bereits als einer der Sündenböcke: Per Telex vom 7. September habe er zwei Tage nach Schleyers Verschwinden seine Polizeihoheit als Landesminister ausgespielt und eine -- bereits laufende -- Zusammenarbeit zwischen der Bonn-Bad Godesberger BKA-Abteilung »Terrorismus« und der lokalen Kölner Tatort-Sonderkommission gestoppt.

Hirsch bestreitet die Darstellung des Parteifreundes Maihofer: »Ein solches FS vom 7. 9. oder aus diesen Tagen gibt es nicht«. Ein Krisenstäbler von damals aber beharrt: »Beim Düsseldorfer Landeskriminalamt wurde sozusagen eine dritte Soko gebildet, und da sind dann wohl die heißesten Tips aus der Bevölkerung einfach untergegangen«. Dazu Hirsch: »Es gibt keinen Hinweis, der nicht an die Sonderkommission des BKA weitergeleitet wurde«.

Fest steht, daß sich erst nach dem 8. November, als das BKA schließlich aus Erftstadt vom »Renngraben« erfahren hatte, jene Signale erkennen ließen, die Hanns Martin Schleyer heimlich selber gegeben hatte.

Schon einmal, im Herbst, war im Kofferraum eines Mercedes in einer Kölner Tiefgarage ein Manschettenknopf Schleyers gefunden worden -- bewußt von dem Kidnapping-Opfer versteckt, was damals wohl noch nicht zu erkennen war. Hinten, im Auspuff, steckte der Wagenschlüssel. Statt zu warten und geduldig weiter zu observieren, bis vielleicht jemand den Schlüssel herausgeholt hätte, räumte die Polizei tolpatschig die Spur ab -- zu früh, wie sich später eindeutig ergab.

Schleyers anderes Ausrufezeichen, Manschetten-Knopf zwei, wurde zu spät gefunden.

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