BRASILIEN / INDIANER-MORD Einige Tonnen Schande
Schwedische Völkerkundler und Journalisten alarmierten jüngst die Öffentlichkeit Ihres Landes, um die Welt auf eines der größten ungesühnten Verbrechen des Jahrhunderts aufmerksam zu machen: die Ermordung von Zehntausenden Indianern in den Urwäldern Brasiliens.
»Wir haben zugelassen, daß Hitler sechs Millionen Juden ausrottete«, erklärte der Fernseh-Regisseur Torgny Anderberg. »Hier In Südamerika geschieht zur Stunde das gleiche, und die Welt verschließt davor die Augen.« Der schwedische Völkerkundler Lars Persson prophezeite: »Südamerika steht vor einer Endlösung, durch die acht Millionen Indianer physisch vernichtet werden sollen.«
Ein Angehöriger der brasilianischen Botschaft In Ottawa, so enthüllte Persson, habe ihm verraten, daß seine Regierung in Kanada zwölf Flugzeuge des Typs De-Havilland-Carabou bestellt hat, die auf einem Flugplatz In Toronto mit Napalmbomben ausgerüstet werden. Die Maschinen würden »für eine Kampagne gegen die Indianer in diesem Herbst verwendet werden«.
Der Schweden-Protest fand weltweites Echo. In Stockholm demonstrierten Ende September Jugendliche gegen den Indianer-Mord, während schwedische Bürgerkomitees In Telegrammen an die brasilianische Regierung forderten, eine neutrale Kommission müsse den Fall untersuchen.
In Göttingen verlangten in der zweiten Oktoberwoche 2200 Völkerkundler aus der Bundesrepublik, der Schweiz und aus Österreich eine »reale Garantie für die Lebensrechte der Indianer und die Bestrafung der Schub. digen«. Die Leitung des Internationalen Roten Kreuzes deutete an, sie werde die Indianer-Frage mit der brasilianischen Regierung erörtern.
Brasiliens Botschaft In Bonn beeilte sich, den Protest zu dämpfen. Die Regierung in Brasilia, so ließ sie verlauten, sei bereits vor zwei Jahren gegen die Schuldigen eingeschritten. Tatsächlich ist nie ein Indianer-Mörder von einem Gericht verurteilt worden,
Richtig an der offiziellen Version war lediglich, daß die brasilianische Regierung bereits im März 1968 aufgedeckt hatte, Tausende von Indianern seien getötet worden. Geduldet oder sogar ausgeführt wurden die Morde von Beamten jener Behörde, die Brasiliens Indianer behüten sollte, des Indianerschutzdienstes.
In einem mehrbändigen Untersuchungsbericht ("Jornal do Brasil": »Einige Tonnen Schande") beschuldigte das brasilianische Innenministerium die Indianerverwaltung, sie habe zugelassen, daß ganze Indianerstämme mit Pockenserum, Maschinengewehren und Dynamit ausgerottet wurden -- Mordaktionen, die von den Tätern »Insektenbekämpfung« genannt wurden. Anschließend hätten die Indianerschutz-Funktionäre das Gebiet der Ermordeten an Privatunternehmen verkauft, wobei allein der Leiter des Indianerschutzdienstes, der ehemalige Luftwaffenmajor Luiz Vinhas Neves, 1,2 Millionen Mark verdient habe.
Etwa jeder vierte Beamte des Indianerschutzdienstes, so stellte das Innenministerium fest, habe sich des Amtsmißbrauchs und zahlloser Unterschlagungen verdächtig gemacht. Viele führende Männer der Organisation wie etwa der General Ribeiro Coelho hätten es »in verbrecherischer Weise unterlassen, von Großgrundbesitzern veranstaltete Massaker zu verhindern«.
»Diese Schandtaten erinnern an die Handlungsweise der früheren Sklavenhändler«, klagte Frankreichs »Le Monde«, und der Pariser »Figaro« sah »das humanistische Ideal des Durchschnitts-Brasilianers zynisch verhöhnt«. Die Zürcher »Weitwoche« urteilte: »Die Schuldigen sind Doppelmörder. Sie töteten nicht nur Indios, sondern auch eine Idee« -- die Idee des unblutigen Fortschritts.
Doch die Empörungsschreie verhallten rasch. Die Regierung der brasilianischen Militärdiktatur (Wahlspruch: »Sozialer Humanismus") kündigte zwar wiederholt an, sie werde die Verbrechen ahnden, aber bisher ist es zu keinem einzigen Prozeß gekommen.
Im Gegenteil: Der Untersuchungsbericht des Innenministeriums schmolz inzwischen zu einer Anklageschrift zusammen, in der es nur um Unterschlagungen und Mißbrauch der Amtsbefugnisse geht.
Und die Öffentlichkeit Brasiliens kann die Regierung nicht mehr drängen, die Schuldigen endlich zu belangen, denn seit der damalige Staatschef Costa e Silva den sogenannten Fünften Institutionellen Akt im Dezember vergangenen Jahres erließ, darf die Presse keine Probleme mehr erörtern, die den inneren Frieden des Landes stören könnten.
Diese Vertuschungsmanöver veranlaßten den britischen Journalisten Norman Lewis, die Wahrheit über den Völkermord am Amazonas zu ergründen. Er ließ sich Anfang dieses Jahres von der Sonntagszeitung »The Sunday Times« nach Brasilien entsenden, besuchte Indianergebiete und interviewte Indianer-Experten.
Was er sah und erfuhr, schrieb Lewis in einer Reportage auf, mit deren Abdruck der SPIEGEL in diesem Heft beginnt. Lewis: »Niemand weiß, wie viele Indianer überlebt haben. Die Stämme sind praktisch ausgerottet worden -- nicht etwa trotz aller Bemühungen des staatlichen Indianerschutzdienstes, sondern oft sogar unter seiner eifrigen Mitwirkung.«
Im Mittelpunkt des Lewis-Berichts steht denn auch der »Servico de Protecao aos Indios« (SPI), der staatliche Indianerschutzdienst, der 1910 von einem Mann organisiert worden war, den seine Landsleute noch heute als Nationalheld und Befreier der Indianer verehren.
Der Oberst Cândido Mariano da Silva Rondon stammte selber von Indianern ab und hatte sich das Ziel gesetzt, die Indianer vor der Habgier der Viehzüchter und der Grausamkeit der Kautschuksammler zu schützen.
Rondon hatte auf Expeditionen In das Innere Brasiliens -- er war von der Armee beauftragt worden, Telegraphenleitungen im Urwald zu legen -- Kontakt mit zahlreichen Eingeborenenstämmen erhalten. Die Berichte über ihren Abwehrkampf gegen die vordringenden Weißen bewogen Rondon, sich für die Indianer einzusetzen, um sie vor dem Untergang zu bewahren. Mit der Entstehung des Indianerschutzdienstes unter Rondons Leitung wurde zum erstenmal in der Geschichte Brasiliens der Rechtsgrundsatz verwirklicht, daß die Eingeborenen als Völker zu respektieren seien.
Jahrhundertelang waren die Indianer Lateinamerikas ausgebeutet und verfolgt worden: zunächst von den Konquistadoren, den portugiesischen und spanischen Eroberern, die etwa zwölf Millionen Indios abschlachteten, dann von europäischen Abenteurern, und in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg von den Kautschuksammlern,
Unter der Protektion von Rondon, der seinen Indianerschutzdienst mit pazifistischen Parolen leitete ("Sterben, wenn nötig, töten nie"), wurden die Konflikte zwischen den vordringenden weißen Siedlern und den Indios zumindest eingedämmt. Der Urwald des Mato Grosso und das nahezu unerforschte Amazonasgebiet gewährten zudem den Indios hinreichenden Schutz.
Kaum ein Weißer drang auf den unendlichen Flüssen in die Wildnis vor oder suchte in den undurchdringlichen Dschungeln Abenteuer. Ungestört jagten und lebten die Indios in ihrer Urheimat -- beschützt von den militanten Pazifisten der Rondon-Truppe.
Der Indianerschutzdienst bildete eine Art Grenzpolizei zwischen der Zivilisation und dem »Sertao«, dem undurchdringlichen Urwald der Indianer. Ausgediente Soldaten, auf der Suche nach neuen Verdienstmöglichkeiten, ließen sich nicht ungern vom SPI anwerben; pensionierte Offiziere übernahmen die Leitung des Schutzdienstes.
Dieser friedliche Zustand änderte sich jedoch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als eine Welle europäischer Einwanderer Brasilien überschwemmte. Man brauchte neues Land für die ständig anwachsende Bevölkerung. Aber dieses Land wurde zum größten Teil von Indianern bewohnt, Die Expansion der vordringenden Siedler und der landgierigen »Fazendeiros« (Großgrundbesitzer) drohte an den Indios zu scheitern.
Ein Artikel der brasilianischen Verfassung von 1934 hatte den Indios »den dauerhaften Besitz der Gebiete, die sie bewohnen«, und das Recht auf Nutzung des natürlichen Reichtums ihres Landes zugesichert. Die Gutsbesitzer, Gummipflanzer und Abenteurer aber wollten dieses Indianer-Recht nicht länger anerkennen. Ihrer Meinung nach war der Mato Grosso und das Amazonas-Gebiet herrenloses Land, das dem Stärkeren gehörte.
Fazendeiros engagierten berufsmäßige Killer, die für ein kleines Handgeld das Land in Besitz nehmen sollten. Sie überfielen die Dörfer der Eingeborenen und töteten sie. Nach einem brasilianischen Gesetz fällt das von Indianern besiedelte Gebiet an den Staat, wenn es von seinen Bewohnern verlassen wird; der Staat wiederum kann es an Privatunternehmen verkaufen. Da die Vettern der Fazendeiros in den Ministerien saßen und die nötigen Papiere mit Geld leicht zu besorgen waren, konnte ohne Schwierigkeit nachgewiesen werden, daß die neuen Gebiete rechtmäßig erworben worden seien.
Der Indianerschutzdienst aber duldete das Treiben der Fazendeiros und ihrer Mordbanden, ja beteiligte sich in vielen Fällen selbst daran, zumal die SPI-Funktionäre vom Staat nur dürftige Gehälter erhielten und sich daher leicht korrumpieren ließen.
Das Bestechungsgeld stammte nicht selten aus den Fonds mächtiger Hintermänner, die -- wie der Senator Felinto Muller, ehemaliger Gouverneur des Staates Mato Grosso, oder der frühere Außenminister Juracy Magalhaes -- an der wirtschaftlich-industriellen Erschließung der ehemaligen Indianergebiete interessiert sind.
Für sie waren die Indianer mit ihrer primitiven, der modernen Konsumgesellschaft abholden Lebensweise nur lästige Störenfriede, die den Straßenbau und die Ausbeutung des Amazonas-Gebietes behindern. Die italienische Zeitschrift »L'Espresso« schrieb ironisch: »Was hat ein Nichtverbraucher in einer Gesellschaft von Verbrauchern zu suchen!«
Der Massentod der Indianer blieb unbeachtet, solange sich die brasilianische Zentralregierung an der Wildnis des Mato Grosso desinteressiert zeigte. In den letzten zwanzig Jahren befaßten sich zahlreiche amtliche Ermittlungen mit den an Brasiliens Indianern verübten Greueln, aber immer wieder gelang es Interessengruppen, die Wahrheit zu verschleiern. Alle Untersuchungen endeten ergebnislos.
Erst Mitte der sechziger Jahre wurde die Zentralregierung auf den Mato Grosso aufmerksam, freilich nicht aus humanitären Gründen. Inzwischen hatte man dort Öl und Uran gefunden, nordamerikanische Wirtschaftsunternehmen begannen, sich für das Gebiet zu interessieren -- Grund genug für Brasiliens Militärdiktatoren, »Ordnung« zu schaffen.
Fahnder der brasilianischen Polizei machten sich auf, nun ernsthaft die Indizien und Informationen zu überprüfen, die auf den Indianermord im Urwald hindeuteten. Im Innenministerium bildete Untersuchungsrichter Jader Figueiredo Correia einen Stab aus erfahrenen Ermittlungsbeamten, die in allen Teilen des Landes auf Spurensuche gehen sollten.
Schon 1963 hatten Reporter der Zeitung »O Estado de Sao Paulo« von einem Massaker berichtet, das Bauern unter den Pacas-Novas-Indianern in der Provinz Rondonia (genannt nach dem Indianerschützer Rondon) angerichtet hatten, um die Bodenschätze in ihrem Gebiet auszubeuten.
Drei Jahre später brachte der Jesuitenpater Valdemar Weber ein Photo zur Redaktion der brasilianischen Tageszeitung »O Globo«. das er von einem SPI-Funktionär erhalten hatte. Es zeigte eine von Kautschuksammlern an den Beinen aufgehängte nackte Indianerin, kurz bevor sie mit einer Machete in zwei Stücke zerschnitten wurde.
»O Globo« veröffentlichte daraufhin Einzelheiten über eine Mordaktion gegen Indianer des Cinta-Larga-Stammes und stützte sich dabei auf die Aussagen des Kautschuksammlers Ataide Pereira dos Santos, der sich an dem Massenmord beteiligt hatte. Grund für die Redseligkeit des Indianer-Killers: Der Unternehmer Antônio Mascarenhas Junqueira, wohlangesehener Bürger der Stadt Cuiabá im Staate Mato Grosso und Auftraggeber der Expedition gegen die Indianer, war ihm die versprochene Gage in Höhe von 15 Dollar schuldig geblieben.
Forschungsreisende, die aus dem Dschungel kamen, ehemalige SPI-Funktionäre und der amerikanische Baptistenpfarrer Wesley Blevens unterstützten die Fahndungen der Polizei mit weiteren Augenzeugenberichten über den Massenmord an den Indios.
Vor allem die gefürchtetste Frau der brasilianischen Polizei half den Ermittlern entscheidend weiter: Senhora Neves da Costa Valle, Kommissarin der Geheimen Sicherheitspolizei, Leiterin des Dezernats »Menschenhandel« im Bundeskriminalamt in Brasilia, entdeckte im kolumbianischen und peruanischen Grenzgebiet ein ganzes System kolonialistischer Menschenausbeutung.
Sie spürte auf, daß sieh in dem Gebiet die Verhältnisse seit den Tagen des Kautschukbooms mit seinen Sklavenheeren nicht geändert hatten: Indianer wurden von den Großgrundbesitzern in Hörigkeit gehalten und mit schlimmsten Strafen zur Arbeit getrieben. Es kam nicht selten vor, daß Fazendeiros zu ihrer Belustigung mit Schußwaffen Treibjagden auf die Indianer veranstalteten.
Zwei Monate benötigten die Beamten des Untersuchungsrichters Figueiredo, bis sie die volle Wahrheit Über den Völkermord kannten. Als sie darangingen, ihren 5115 Seiten langen Bericht über die Ausrottung der Indianer zusammenzustellen, hatten sie 15 000 Quadratkilometer Urwald durchquert, ein Gebiet, das 17 Staaten und Territorien Brasiliens umfaßt. Ihre Bilanz: Mindestens 40 000 Indianer sind dem Indianerschutzdienst zum Opfer gefallen.
Der SPI wurde schließlich aufgelöst, die Bestrafung der Schuldigen angekündigt. Da jedoch die Verantwortlichen juristisch nicht belangt werden können -- ihre Verbrechen sind in den meisten Fällen entweder verjährt. oder nicht nachzuweisen -, brauchen sie einen Prozeß kaum zu befürchten. Lediglich ihre Beamtenrechte verloren Über 200 SPI-Funktionäre und Staatsbeamte, unter ihnen ihr ehemaliger Chef Luiz Vinhas Neves.
Die Nachfolgeorganisation des Indianerschutzdienstes kündigte inzwischen Maßnahmen zur Rettung der letzten Indianer an. Für die überlebenden 50 000 Indios Brasiliens aber kommen alle Rettungsaktionen zu spät.
1980, so prophezeite der brasilianische Völkerkundler Professor Darci Ribeiro, werde kein einziger Indianer mehr am Leben sein. Brasiliens Indianer sind endgültig zum Tode verurteilt -- ihre Leidensgeschichte hat Serien-Autor Norman Lewis in dem folgenden Bericht niedergeschrieben.