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Wie lang ist eine Schrecksekunde? Untersuchungen ergaben, daß sie von Gerichten zu knapp bemessen wird.
aus DER SPIEGEL 28/1979

Seit über 25 Jahren«, schimpft der Kölner Professor Klaus Engels, »billigen die deutschen Obergerichte den Autofahrern eine Reaktionsdauer zu, die als willkürlich und vor allem als viel zu kurz angesehen werden muß.«

Engels leitet die »Arbeits und Forschungsgemeinschaft für Straßenverkehr und Verkehrssicherheit« (AFO), ein Institut an der Universität Köln. wo Unfälle analysiert, Ursachen erforscht, Schwächen und Lücken bei Verkehrsregelung und Rechtsprechung aufgezeigt werden. Der Verkehrsexperte wirft nun erstmals und unverblümt den Oberlandesgerichten und dem Bundesgerichtshof vor, »neuere Forschungsergebnisse nicht nur nicht zu beachten, sondern geradezu zu negieren.

Die Reaktionsdauer bei Kraftfahrern, die -- zusammengesetzt aus Sehreckzeit und »Bremsansprechzeit« von Fachleuten »Systemreaktionsdauer« genannt wird, ist in der Tat von jeher auf eine Untergrenze von 0,6 und eine Obergrenze von nur einer Sekunde festgeschrieben.

Das heißt: Wenn ein unvermutetes Hindernis auftaucht, ein Kind hinter parkenden Wagen hervorspringt, ein Radfahrer plötzlich ausbiegt, ein vorausfahrendes Fahrzeug abrupt bremst -dann muß ein Autofahrer allemal und überall in Sekundenbruchteilen reagieren können.

Nach einer Kollision wird nämlich das Verschulden und damit die Höhe der Strafe nach einer angenommenen -- Reaktionszeit bemessen, die für Engels »einfach nicht mehr vertretbar« ist, weil offenbar immer »optimale Fahrer und optimale Verkehrssituationen« unterstellt würden.

Bereits 1954 befand der Bundesgerichtshof (BGH), Reaktionszeit und Bremsbeginn würden »üblicherweise zusammen eine Sekunde betragen«. 1966 bestätigte der BGH abermals, ein Fahrer müsse »umsichtig und reaktionsschnell« sein, eine Reaktionszeit von 0,8 Sekunden sei deshalb »nicht zu beanstanden«. Und 1969 nannte der BGH erneut eine Systemreaktionsdauer von »0,7 bis 0,8 Sekunden, in aller Regel nicht mehr als eine Sekunde« als ausreichend.

Die Oberlandesgerichte (OLG) hielten und halten sich durchweg an die BGH-Bestzeiten, und der Karlsruher Senatspräsident a. D. Heinrich Jagusch summierte die BGH- und OLG-Urteile in seinem Standardkommentar »Straßenverkehrsrecht« zu einer scheinbar unumstößlichen Erkenntnis, die bis jetzt kein Gericht mißachten mochte.

»Im Stadtverkehr«, fixierte der ehemalige BGH-Richter Jagusch, »wo gesteigerte Aufmerksamkeit nötig ist, können 0,75 Sekunden als Reaktions- und Bremsansprechzeit ausreichen, im allgemeinen betragen sie zusammen auch innerorts 0.7 bis 0,8 Sekunden, in aller Regel höchstens eine Sekunde, mindestens aber um 0,6 Sekunden.«

Professor Engels wundert sich über diese »Festsehreibung durch Herrn Jagusch«, die geradezu »normierenden Charakter« habe, deren Werte jedoch »ganz offensichtlich zu gering bemessen seien. Er verweist auf Laboruntersuchungen mit simulierten Reaktionstests, obwohl dabei »die Situation im Straßenverkehr auf keinen Fall ausreichend berücksichtigt werden konnte«.

Für diese Versuche, beispielsweise am Nachfahrsimulator des Volkswagenwerks, waren »gesunde, ausgeruhte junge Männer« (Engels) ausgesucht worden, die ohne Ablenkung und nur auf ein einfaches und ihnen zuvor erklärtes Gefahrensignal -- Aufleuchten einer roten Lampe etwa -- mit Pedaldruck reagieren mußten.

Das Ergebnis trotz optimaler Umstände; Der Mittelwert betrug bereits 0,93 Sekunden, 95 Prozent der Testpersonen brauchten bis zu 1,3 Sekunden, vier Prozent lagen noch darüber, bei 1,45 Sekunden. Bei Laboruntersuchungen der Landesverkehrswacht von Nordrhein-Westfalen ergaben sich Mittelwerte von 0,67 und Höchstwerte von 1,10 Sekunden.

Engels schränkt jedoch noch ein, daß es sieh dabei eben »ausnahmslos um Einfachreaktionen« handelte, die »allenfalls mit einem Störreiz verbunden waren, aber in allen Fällen war den Probanden die Quelle des Gefahrensignals bekannt« -- anders als in der Fahrpraxis.

Das Kölner AFO-Institut ließ sich von der unfallchirurgischen Klinik der Medizinischen Hochschule in Hannover und von der Bundesanstalt für Straßenwesen die Unterlagen zahlreicher Fußgängerunfälle geben, um dann anhand der dokumentierten Brems-, Blockier- und Kollisionsspuren die Ausgangsgeschwindigkeit des Fahrzeugs, die Reaktionszeiten und das Kollisionstempo zu bestimmen. Die Unfallfahrer waren, das wiesen die polizeilichen Feststellungen aus, nüchterne, jüngere oder höchstens vierzigjährige Männer.

Nach diesen Kölner Ermittlungen zum realen Unfallgeschehen ist »nach dem gegenwärtigen Stand nur eine Reaktions-Obergrenze von 1,4 bis 1,5 Sekunden geeignet, den gesamten Unsicherheitsbereich abzudecken«. Selbst dieser Wert, der schon erheblich über den gerichtsüblichen Grenzen liegt, kann »nur für den Fall eines eindeutigen Gefahrensignals unterstellt werden«. Wenn jedoch eine Gefahr auf der Straße zunächst nicht eindeutig erkennbar sei, dann, so stellt Engels in seiner »Pilot-study« fest, »muß von noch wesentlich höherer Systemreaktionszeit ausgegangen werden«.

Nach Engels' Einschätzung haben die deutschen Verkehrsrichter die neueren Reaktions-Recherchen »in ihrer Tragweite nicht erkannt«. Das soll bald anders werden. Zusammen mit der Deutschen Akademie für Verkehrswissenschaft in Hamburg und der Kölner Gesellschaft für Ursachenforschung bei Verkehrsunfällen veranstaltet das AFO-Institut im Oktober in Köln ein Kolloquium, auf dem es -- erstmals und ausschließlich -- um die »Bedeutung der Reaktionsdauer für Unfallursachenermittlung und Verkehrsrechtsprechung« geht. »Da ist«, prophezeit Engels, »noch einiges aufzubrechen.«

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