HAUPTLEUTE Einmaliger Vorgang
Seit Helmut Schmidt Verteidigungsminister ist, hat sein Offizierkorps dreimal gemuckt,
Zuerst die Generale: In der sogenannten Schnez-Studie verlangte die Heer-Führung 1969 »eine Reform an Haupt und Gliedern, an Bundeswehr und Gesellschaft«. Dann forderten im Dezember 1970 acht Leutnante der Hamburger Heeresoffizierschule unter dem Stichwort »Leutnant 70« einen von traditionalistischen Fesseln befreiten Offizierstyp. Nun marschieren 30 Hauptleute, allesamt Kompaniechefs in der westfälischen 7. Panzergrenadier-Division, auf eine heile Armee in einer heilen Umwelt los.
Rechtzeitig vor der Sicherheitsdebatte des Bundestags am vergangenen Freitag gaben sie ihrem von Opposition und Springer-Presse ohnehin bedrängten Oberbefehlshaber Schmidt zusätzlich Zunder und erklärten: »Die Zustände in der Armee sind unerträglich geworden und nicht mehr zu verantworten.«
Mit diesem Alarmruf schreckten die sonst eher betulichen »Westfälischen Nachrichten« am vorletzten Freitag die Befehlszentrale auf der Hardthöhe. Reserve-Oberleutnant und »Nachrichten«-Reporter Wolfgang Kenntemich hatte bei einer Wehrübung in Hannover eine Denkschrift ergattert, die von den Hauptleuten erarbeitet, seit Wochen in der Bundeswehr verbreitet und ohne Rücksicht auf den Dienstweg auch Helmut Schmidt direkt zugestellt worden war.
Kernsätze der rechtsgewirkten Attacke:
* »Die Politisierung der Armee hat bedenkliche Ausmaße angenommen.«
* »Die Disziplin leidet unter dem fortschreitenden Abbau der Erziehungsmittel.«
* »Das tatsächliche Kräfteverhältnis zwischen Ost und West wird aus politischen Zweckmäßigkeitserwägungen verfälscht.«
Die Feststellungen ihres 16-Seiten-Elaborats versahen die Junior-Troupiers mit ausführlichen »Erläuterungen« und hängten Punkt für Punkt massive Forderungen an:
* Die öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Rundfunkanstalten sollten »endlich ihren Beitrag zur Erziehung zum Wehrwillen leisten«. > Der Soldat solle -- entgegen den Erfordernissen einer hochtechnisierten und deshalb arbeitsteiligen Armee -- »in erster Linie als Kämpfer anerkannt, nicht aber als militärtechnischer Spezialist begriffen werden«.
* Der Wert »formaler Disziplin« -- sprich: Kommiß -- müsse wieder anerkannt werden.
* Die Truppe müsse vor »diffamierenden Beschimpfungen durch die Bevölkerung und Nachlässigkeiten der Polizeiorgane« geschützt werden.
Am Schluß der Denkschrift kündigte die Hauptmänner-Clique pathetisch und drohend weitere Aktivität an: »Wir werden entsprechend unserem Diensteid alle uns geeignet erscheinenden Maßnahmen in und außer Dienst verantwortungsvoll und konsequent ergreifen, diesen Forderungen Nachdruck zu verleihen, bis verantwortliche Stellen gewillt sind, die erkannten Mängel abzustellen, um damit das Vertrauen zur Führung wiederherzustellen.«
Ursprünglich hatten sich die Hauptleute Ihre »Feststellungen« als Reform-Vorschläge gedacht. Denn sie bemängelten, daß der schwerfällige Bundeswehr-Apparat alle Reform-Ansätze Helmut Schmidts erstickte: Die Kompaniechefs fühlten sich weiterhin überfordert, Unteroffizier-Mangel, Papierkrieg und Disziplinschwierigkeiten ließen nicht nach.
Ein Hauptmann aus Unna: »Ein guter Kompaniechef ist man, wenn sich auf Toilette keiner aufhängt, wenn es keine »Besonderen Vorkommnisse« bei Materialkontrollen gibt und wenn man ein gutes Verhältnis zu den lokalen Politikern hat. Für alles muß man Zeit haben, nur nicht für seinen Job: die Ausbildung.«
»Herr General, die Stimmung in der Truppe ist schlecht«, meldeten im Herbst die Kommandeure der 19. Panzergrenadier-Brigade und des Artillerie-Regiments 7, Günther Reanhack und Conrad Bahr, ihrem Divisionär Eicke Middeldorf. Der Generalmajor, ebenso ehrgeizig wie anpassungsfähig, entsann sich eines Leitsatzes seines Ministers: »Die Diskussion ist die Form moderner Führung.«
Am 16. Oktober trommelte Middeldorf dreißig Hauptleute seiner Division im Offizierheim des Einöd-Standortes Augustdorf bei Detmold zusammen -- »zu völlig freier und ungezwungener Aussprache« (ein beteiligter Hauptmann). Ebenso wie Schmidt bei seinen Soldaten-Meetings schloß Middeldorf die zwischenvorgesetzten Bataillons- und Brigadekommandeure aus. Seine Hauptleute ermunterte er, Mängelrügen In einem ungeschminkten Arbeitspapier festzuhalten.
Froh über das neue Ventil für ihren Unmut, tüftelten die zornigen Dreißig in mehreren Arbeitssitzungen an ihrem Dokument. Bataillons- und Brigadekommandeure hatten vom Inhalt der explosiven Schrift keine Ahnung -- die Hauptleute verwehrten ihren unmittelbaren Vorgesetzten jeden Einblick. Zum erstenmal fiel von einem der übergangenen Verbandsführer das Wort »Meuterei«.
Initiator Middeldorf hatte inzwischen seinen Vorgesetzten, Generalleutnant Hans Hinrichs von 1. Korps in Münster, über das Augustdorfer Autoren-Kollektiv informiert. Die Weihnachtstage benutzte der Divisionsgeneral, Bonns Obersoldaten Ulrich de Maizière und den Vize-Inspekteur des Heeres, Ernst Ferber, stolz über die fortschrittlichen Methoden in seinem Großverband zu unterrichten.
Vier-Sterne-General Maizière witterte Unrat und flog am 12. Januar mit seinem Stabsspezialisten für Innere Führung, Brigadegeneral Eberhard Wagemann, sowie einem Hardthöhen-Photographen nach Augustdorf. Und hier geschah, was Wagemann später einen »in der deutschen Militärgeschichte einmaligen Vorgang« nannte.
Die Atmosphäre im Offizierheim war feindselig. Die aufsässigen Captains verlangten zunächst den sofortigen Abzug des Bonner Pressestabs-Photographen Menke: »Der muß raus, sonst reden wir hier kein Wort:«
Kaum hatte der ranghöchste Soldat der Bundesrepublik diesem Ansinnen entsprochen, dokumentierten die Dreißiger ihr Mißtrauen gegenüber der obersten Führung zum zweitenmal. Als Maizière für die Diskussion ein Exemplar der Denkschrift verlangte, antwort ten die disziplinversessenen Untergebenen: »Die geben wir nicht her, die kriegt nur der Minister.«
Und als der General seinen Bleistift zog, um mitzuschreiben, brach der vortragende Hauptmann seine Lesung ab. Maizière wurde belehrt: »Der Inhalt soll geheim bleiben.«
Ein beteiligter Offizier: »ich dachte, jetzt gibt's 'nen Anschiß.« Der Generalinspekteur fügte sich: »Meine Herren, dann muß ich mein Gedächtnis anstrengen.«
Erst in der Diskussion verlor auch der milde Maizière die Fassung. »Erregt« (ein Hauptmann) reagierte er vor allem auf die Vorwürfe, die militärische Befehlsstruktur werde für politische Zwecke mißbraucht und die militärische Führung sei den Politikern aus Opportunismus hörig.
Maizière: »Sie, meine Herren, haben mir nichts Neues gesagt.« Antwort »us dem Saal: »Sie uns auch nicht.« Ein Sprecher: »Herr General, wir haben einen Feind, das ist die Disziplin. Erst als die Studenten mit faulen Eiern warfen, kam die Universitätsreform.«
Immer wieder brachten die im Umgang mit wehrunwilligen Rekruten rüde gewordenen Offiziere ihre Hauptforderung vor: »Wir wollen den Minister sprechen.« Maizière befahl Wagemann: »Notieren Sie das mal.« Der Brigadegeneral wurde sarkastisch: »Ich darf ja nichts aufschreiben.«
Als Freizeit-Pianist Maizière den Raum verließ, rief ihm ein Hauptmann hinterher: »Vergessen Sie Ihren Geigenkasten nicht.«
Einen Tag später berichtete der Generalinspekteur dem Heereschef Albert Schnez seine Augustdorfer Erlebnisse, Au Middeldorf schrieb er einen Brief, der den Aufsässigen bekannt wurde: »Vortrag und Argumentation waren an der Grenze des Hinnehmbaren. Trotzdem war der Nachmittag insgesamt für mich sehr nützlich.«
Wochenlang warteten die »Rebellen ohne Risiko« (Kanzlerberater Brigadegeneral Johannes Gerber) auf den versprochenen Gesprächstermin bei Schmidt. Als sich nichts tat, traf sich die Möchtegern-Junta -- getarnt als Zivilisten -- zum erstenmal »an geheimem Ort« (ein Hauptmann). Obwohl Middeldorf ihnen jede weitere Aktion verboten hatte, beschlossen die Frondeure, ihre Ziele weiter zu verfolgen. Für alle Eventualitäten legten sie ein Sonderkonto »Rechtshilfe Hauptleute« an und nahmen Kontakt zu zwei Anwälten auf.
Als am 5. März noch immer keine Aussprache mit dem von ihnen persönlich geschätzten Minister ("Wir haben 1969 auf Schmidt wie auf einen Messias gewartet") in Sicht war, schritten die Putschisten aus dem Pumpernickel-Land zur Tat: Wehrbeauftragter und Verteidigungsausschuß, 300 gleichrangige Kameraden in anderen Divisionen sowie ausgewählte Journalisten erhielten das Papier »ad personam«, die Zeitungsschreiber freilich mit einer Sperrfrist von 14 Tagen, dem Minister indes wollten sie es selbst überreichen.
Zwei Wochen noch glaubte die Bundeswehrspitze den Fall Unna unter der Decke halten zu können. Die »Westfälischen Nachrichten« zerstörten die Illusion. Und dann hatten es Minister und Generale eilig.
Am Sonntag, dem 21. März, vormittags um elf Uhr, versammelte sich auf der Hardthöhe ein allerhöchster Krisenstab: Schmidt nebst Staatssekretär Karl Wilhelm Berkhan, Maizière mit Wagemann und Erziehungsgeneral Karl-Hermann Friedrich, Schnez mit seinem Stellvertreter Ernst Ferber, Presse-General Carl-Gero von Ilsemann und Korps-General Hinrichs.
Ergebnis des fünfstündigen Palavers waren zwei von Maizière und Schnez unterzeichnete Fernschreiben an die inzwischen von Alarmmeldungen der »Welt am Sonntag« ("Krise in der Bundeswehr") aufgeschreckten Kommandostellen der Armee. Ministeriums-Sprecher Armin Halle später: »Die Fernschreiben tragen unübersehbar die Handschrift des Ministers.« Und die las sich (Autor: Albert Schnez) so: »In ihrem Eifer, das Beste zu erreichen, orientierten sich die Verfasser der Niederschrift an Idealvorstellungen und ließen die gegebenen Verhältnisse und Möglichkeiten außer acht.«
Am Freitag letzter Woche las dann der Minister im Parlament den Hauptleuten vorsichtig die Leviten: »Wer meint, für die Straffung militärischer Formen öffentlich eintreten zu sollen, muß selbst peinlich auch nur den Anschein eines Loyalitätsverstoßes vermeiden, wenn man ihn ernst nehmen soll.«
In dieser Woche ist im Verteidigungsministerium eine Vollversammlung der Bundeswehroffiziere vom Generalmajor und Konteradmiral an aufwärts einberufen worden. Divisionär Middeldorf kann Rede und Antwort stehen.