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ARBEITSLOSE Einschließlich Streß

In einer Scheinwelt trainieren arbeitslose Angestellte für einen künftigen Job. 126 Firmen, bis hin zur Unternehmensberatung, machen untereinander fiktive Geschäfte.
aus DER SPIEGEL 46/1977

Sie kommen morgens kurz vor acht ins Büro, und ihre Pünktlichkeit wird von der Stempeluhr kontrolliert. Der Arbeitsalltag eines Angestellten der Düsseldorfer Top-Tape GmbH unterscheidet sich kaum von dem irgendeines anderen in einer beliebigen Firma nur: Es ist alles nur Schein.

Die Firma in einem gewöhnlichen Bürohaus gibt es nur auf dem Papier. Ein Zustand, der für gewöhnlich leicht einen wirtschaftskriminellen Tatbestand umschreibt, meint hier das genaue Gegenteil.

Arbeitslose Angestellte, denen es nicht reicht, immer nur auf Arbeit zu warten, können bei Top-Tape, einer Einrichtung der DAG-nahen Deutschen Angestellten-Akademie (DAA), den Alltag trainieren -- dazu gehört, einschließlich Streß und geregelter Kaffeepause, bis abends um 17 Uhr, eine Stunde Mittag. Wer blaumacht, braucht ein Attest vom Hausarzt. Und wer sich ungerecht behandelt fühlt, kann sich beim Betriebsrat beschweren, denn auch eine Betriebsratswahl wird durchgespielt »,Manch einer hat sich in seiner alten Firma nicht getraut«, sagt Dieter Kistner von der DAA, der die Top-Tape-Leute als Übungsleiter betreut und beurteilt.

Unbemerkt von der übrigen Wirtschaft, hat sich über das ganze Land hinweg eine fiktive Geschäftswelt ausgebreitet, fast eine komplette Volkswirtschaft nur so zum Schein. Die dort den Alltag proben, hoffen alle auf bessere Chancen bei einer realen Vermittlung.

Gegenstand des 30-Mann-Betriebes Top-Tape (angenommenes Stammkapital: eine Million) ist laut Handelsregister-Auszug: Groß- und Einzelhandel mit Toncassetten und den dazugehörenden Aufnahme- und Abspielgeräten. Und das Unternehmen mit Fernschreiber und EDV floriert.

»Übungsmaßnahmen mit Trainingscharakter sind sinnvoller als die Zahlung von Arbeitslosengeld ohne Gegenleistung«, sagt Rudolf Neumann, Chef des Landesarbeitsamtes in Nordrhein-Westfalen. Das Amt unterstützt auch die arbeitslosen Angestellten, die, mit Zuschuß, auf achtzig Prozent des früheren Gehalts kommen statt höchstens 68 Prozent beim Arbeitslosengeld.

In dieser Arbeitswelt des schönen Scheins mag mancher mitunter sogar seinen Status als Arbeitsloser verdrängen. Im Großraumbüro von Top-Tape -eines von mittlerweile 126 Unternehmen, die in der Zentralstelle für Übungsfirmen, kurz: Züf, zusammengeschlossen sind -- kann jeder Arbeitsplatz und Geschäftsvorgang simuliert werden.

Zum Beispiel, was so anfällt für einen Finanzbuchhalter, bei Top-Tape eine fiktive Inge Assmann (Handelsregister: »Mit Wirkung v. 1. 10. 75 wurde den Damen Assmann, Hermkes und Märker Gesamtprokura erteilt"), deren »Hauptfunktionen (nach Prioritäten)« laut Stellenbeschreibung von der Leiturig des Rechnungswesens bis hin zum Unterschreiben von Zahlungsmitteln reichen. Das alles noch einmal detailliert beschrieben in einem Dutzend Tätigkeiten wie das »Erstellen der Umsatzsteuer-Voranmeldung« oder die »Überwachung und Kontrolle der Debitoren-Buchungen«.

Den ganzen Tag lang tun Inge Assmann und ihre Mitarbeiter so, als sei es Ernst. Denn von denen, die sich nur einen Jux machen wollen, trennt sich die Firma ziemlich bald. »Berufsarbeitslose können wir hier nicht gebrauehen«, sagt der Betriebswirt Hans-Peter Müller, der die Trainingsfirmen der Deutschen Angestellten-Akademie betreut. »Gleich zu Anfang«, so Müller, »führen wir mit jedem ein sehr intensives Gespräch. Damit die das nicht als Monopoly empfinden.«

Das Spiel ist in der Tat komplizierter als Monopoly. Damit keiner den Überblick verliert, braucht man schon ein Branchenverzeichnis, das Auskunft über den Markt gibt bis hin zum Treibstoff der Stuttgarter Atlantis-Öl- und Treibstoff GmbH. Und wenn gar nichts mehr läuft, hilft nur noch die Hans Byte OHG in Bremen, Unternehmensberatung.

Top-Tape aus Düsseldorf ist bislang ohne Beratung ausgekommen. Die Firma arbeitet einerseits besonders eng mit der Bayer-eigenen Übungsfirma Mirakulix zusammen, die liefert nämlich die Rohstoffe, andererseits mit dem Osnabrücker Kaufhaus an der Hase, das die fertigen Produkte ordert und auch verkauft.

In dem Kaufhaus an der Hase wiederum kann jeder fürs Scheingehalt allerlei einkaufen, so gerät der Geldkreislauf nicht ins Stocken. Abgewickelt wird bargeldlos über eines der Bankinstitute oder das Postscheckamt in Heidelberg. Säumige Zahler werden vom Amtsgericht -- ein juristischer Fachberater in Dortmund -- belangt.

Damit nämlich selbst bei richtigem kaufmännischem Verhalten nicht alles gar zu glatt geht, werden auch Unregelmäßigkeiten eingegeben -- Müllers Leute erklären gelegentlich eine Sendung für verloren oder zu Bruch gegangen, damit auch Schadensabwicklungen geübt werden können, oder sie behaupten einfach, daß ein Wechsel geplatzt ist.

Über kaufmännisches Ungeschick von Top-Tape-Mitarbeitern freut sich Dieter Kistner, der die Firma als Übungsleiter von außen beobachtet und den Mitarbeitern reale Zeugnisse ausstellt: »Die müssen auch mal eine Bauchlandung machen. Ganz große Fehler passieren nur einmal.« Dann doch besser nur zum Schein. Gelegentlich ist sogar schon ein Unternehmen pleite gegangen.

Vorletzte Woche wurde die Konjunktur kräftig angeheizt. Da trafen sich Arbeitslose aus 70 Übungsfirmen zur großen Messe in Hamburg-Farmsen. Drei Tage lang stellten sie ihre Produkte aus, verteilten Kataloge, führten Verkaufsgespräche und brachten manch guten Abschluß mit nach Hause.

Selbst einen Stellenmarkt gibt es in dieser Scheinwelt. »Ein expandierendes Unternehmen in der Werkzeugbranche« sucht zur Zeit einen Verkaufsprometer für Nordrhein-Westfalen und Norddeutschland. Die üblichen Bewerbungen gehen an die Friwag OHG in Hamburg 63, oder: »Rufen Sie einfach an: Tel. (040) 500 92 04.«

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