SOMMERZEIT Einseitig gedreht
Ihr Nutzen sei »äußerst zweifelhaft«, ihre Übernahme »eher verwirrend«, ihre Folgen »keinesfalls wünschenswert«; im Kabinett herrschte Einigkeit: Die Bundesrepublik Deutschland wird keine Sommerzeit einführen.
Das war vor einem Jahr. Als jetzt bei der Bundesregierung erneut das Thema zur Beratung anstand, blieben die Argumente gleich, doch die Entscheidung änderte sich. Vom nächsten Jahr an sollen die Bundesbürger zwischen April und Oktober ihre Uhren um eine Stunde vorstellen -- it's summer time.
Mit der Billigung des Entwurfs eines »Gesetzes über die Zeitbestimmung« markierten Kanzler Helmut Schmidt und seine Minister am Mittwoch vorletzter Woche eine Zeitenwende, freilich um den Preis gesamtdeutscher Übereinstimmung. In Zukunft verläuft, wenn es warm wird, von Lübeck bis Hof die Zeitgrenze mitten durchs Land.
Mit dem Hinweis auf die politisch bedenklichen Aspekte hatten es die Bonner bislang stets abgelehnt, einseitig an der Uhr zu drehen. Und dies, obwohl verstärkt seit der Energiekrise im Herbst 1973 immer mehr europäische Staaten darauf drängten, durch eine einstündige Zeitverschiebung im Sommerhalbjahr für eine bessere Ausnutzung des Tageslichtes zu sorgen, um so, wegen des geringeren Beleuchtungsaufwandes am Abend, Kohle, Gas und Öl zu sparen.
Bonns Weigerung, die im letzten Jahr auch bei den Länderinnenministern Beifall fand, hatte allerdings ebenso sachliche Gründe. Denn dem Bundesinnenministerium war von Experten vorgerechnet worden, was das Frühaufstehen wirklich einbringt: vielleicht mehr Freizeit in der Sonne, aber keinerlei nennenswerte Energieersparnis.
13 000 Tonnen Öl würden bei Einführung der Sommerzeit weniger verbraucht, gutachtete der Münchner Energiewissenschaftler Helmut Schaefer. Und warum die Werte so gering sind, erklärte die Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke in Frankfurt: »Am gesamten Stromverbrauch hat der Lichtstrom einen Anteil von unter zehn Prozent. In den Kriegs- und Mangelzeiten betrug dieser Lichtanteil noch 25 his 30 Prozent. Da außerdem nur ein Drittel des Jahreslichtstroms im Sommer, zwei Drittel im Winter verbraucht werden, ist die Stromersparnis mit einer Sommerzeit fast gleich Null.«
Ins Wackeln geriet Bonns Position denn auch nicht durch neue Expertisen, sondern als sich im letzten Jahr überraschend Frankreich den Sommerzeit-Ländern Großbritannien, Irland, Italien, Spanien und Griechenland anschloß, im bundesdeutschen Westen für eine »große Konfusion« ("Stuttgarter Zeitung") sorgte und gleichzeitig aus der Zeitfrage ein Bekenntnis machte.
Unabhängig von der eigenen Entscheidung forderte Paris den Rat der EG auf, dafür zu sorgen, daß alle Mitgliedstaaten ein gemeinsames Sommerzeit-System einführen. Als Begründung nannte Frankreich nicht nur die »Möglichkeit von Energieeinsparung« und »die förderlichen Einflüsse auf die Volksgesundheit und die Verkehrssicherheit«, sondern vor allem die »gesamteuropäische Bedeutung eines solchen Schrittes«.
Das eher gesamtdeutsch begründete Veto der Bundesregierung wurde vollends unhaltbar, als in den EG-Gremien alle Mitgliedsstaaten bis auf Dänemark der Sommerzeit prinzipiell zustimmten und bereits für Beginn und Ende der Zeitverschiebung verbindliche Termine festlegten, vom 3. April bis 16. Oktober 1977, vom 2. April bis 15. Oktober 1978 und vom 1. April bis 14. Oktober 1979. Ein Bonner Ministerialer: »Politische Bedenken hin, sachliche Fragwürdigkeit her, vom nächsten Jahr an müssen wir bei der Gemeinschaft mitmachen.«
Zwar entfallen nach der Bonner Zustimmung künftig im Westen all jene Probleme, die nach Frankreichs Alleingang an Mosel und Saar auftraten -- deutsch-französische Pendler kamen zu spät zur Arbeit, weil Bus- und Bahnanschlüsse nicht mehr paßten; Fernzüge aus Frankreich mußten in Straßburg eine Stunde stehenbleiben, um nach deutschem Fahrplanschema weiterfahren zu können -- im Osten kehren sie potenziert wieder.
Und wenn auch wahrscheinlich ist, daß sich DDR-Besucher und Reisende im kleinen Grenzverkehr daran gewöhnen werden, jenseits der Demarkationslinie die Uhren zurückzustellen, in West-Berlin drohen sich die spärlichen Vorteile der Sommerzeit nachgerade in ihr Gegenteil zu verkehren. Zwar stimmte letzte Woche der Senat folgsam der Bundesvorlage zu, wies jedoch vorsorglich die Innenverwaltung an, aufzulisten, welche Vereinbarungen mit der DDR von der neuen Zeit betroffen wären. Senatsdirigent Gerhard Sander: »Alles, was an feste Fahrpläne, Öffnungs- oder Abfertigungszeiten gebunden ist.«
Schwierigkeiten befürchtet der Senat nicht nur, weil Ost-Berlin-Besucher sommers eine Stunde später in den Ostteil der Stadt einreisen dürfen, ihn irritiert vor allem, daß im Westteil demnächst womöglich zwei Zeitsysteme nebeneinander existieren. Wenn an den U-Bahnhöfen die Uhren zwölf zeigen, stehen bei der unter DDR-Regie fahrenden S-Bahn die Zeiger erst auf elf. Die von Ost-Berlin bezahlten Schleusenwärter an Havel und Spree würden nach Ostzeit arbeiten, genauso wie die DDR-Bediensteten in den Besucherbüros.
In den nächsten Wochen sollen deshalb Unterhändler in Ost-Berlin auf die beabsichtigte Zeitumstellung hinweisen und dabei vorsichtig eruieren, ob der DDR mit dem Energiespar-Argument nicht noch in letzter Minute eine Beteiligung an der westeuropäischen Sommerzeit schmackhaft gemacht werden kann. Nachdem in Brüssel bereits interessierte Anfragen aus Polen eingegangen sind, keimt im Innenministerium neue Hoffnung. Ein Bonner Beamter: »Vielleicht haben die andere Gutachter.«