Martin Morlock EINSTELLUNG
Die Luis-Trenker-Fältchen um
ihre Mundwinkel - auf dem Fernsehschirm einprägsame Wahrzeichen olympischer Selbstüberwindung - sind im Widerschein der Mittagssonne kaum zu erkennen. Unter dem ährenblonden Haar, das, den Gesetzen der Statik trotzend, eine Art Vordach bildet, schmeicheln Pastelltöne: Das lichte Blau der Augen findet in einem Pullover Entsprechung, der sanft, aber merklich mit einer himbeerbonbonfarbenen Überjacke kontrastiert.
Freilich sitze ich im Kölner Weinhaus Wiesel« nicht der Erfolgs-Sprinterin (200-Meter-Bestzeit: 23,3 Sekunden) zur Seite, vielmehr der hinkünftigen Public-Relations-Managerin, derzeit noch Beflissene der Betriebswirtschaft. »Das Studium selbst gefällt mir nicht so sehr, aber es gibt viele Richtungen.«
Die Frage, warum Jutta Heine, 24, 1,80, Niedersächsin, nicht länger gewillt ist, leichtathletische Hoffnungen der Nation zu erfüllen, liegt auch beim Verzehr einer Seezunge »nach Art der schönen Müllerin« in der Luft. Ich stelle sie und muß hören: Zwar sei die schnelle Fortbewegung ihr seit Kindesbeinen leichtgefallen, auch habe sie sich niemals während
ihrer achtjährigen Athletinnen -Laufbahn überanstrengt oder ernstlich verletzt; doch wo kein Ehrgeiz mehr sei, da sei auch keine Hochleistung. »Mit Training allein schafft man es nicht. 75 Prozent ist Einstellung.«
Aus dem Sportdeutschen übersetzt: Es mangelt ihr jenes Stimulans, das in einem verwandten Denkbereich »Moral der Truppe« oder »Sieg über den inneren Schweinehund« heißt.
»Was ist der Grund für diesen Mangel?«
»Übersättigung. Sehen Sie, jedes Wochenende auf dem Sportplatz; ständig die gleichen Übungen, das ist alles so eintönig, so abgegriffen. Man hat alle Städte schon gesehen, und näher kennenlernen wird man sie beim nächsten Mal auch nicht. Vom richtigen Moskau zum Beispiel habe ich keine Ahnung, obwohl ich dort war.«
Dennoch kommt es ihrem Sprinter-Gewissen zupaß, daß sie, wenn im Mai die Leichtathletik-Saison beginnt, eine imposante Entschuldigung zur Hand hat: Vom 27. April bis zum 26. Juni wird Jutta Heine als einzige Frau an einer Zuverlässigkeitsfahrt der Firma Ford teilnehmen; 20 000 Kilometer, - von Hammerfest - quer durch Europa und Afrika nach Kapstadt.
Vielleicht, sinniert sie lustlos, könne man im August, bei den Studentenweltmeisterschaften in Budapest, noch einmal mit ihr rechnen. »Natürlich nur Hürden. Die 80 Meter, die hab ich drin, da brauche ich nicht zu trainieren.«
Glanz tritt auf ihre Züge, als ich das Thema »Pferde« anschneide.
Vom Pony ihrer Kinderjahre, über den Hannoveraner, den Papa wieder abschaffen mußte, weil er zu wenig bewegt wurde, bis zur unlängst in Gelsenkirchen bei Wolkenbruch abgelegten Amateur -Fahrprüfung im Trabrennsport zieht sich ein hippophiler Schicksalsfaden, dessen sie zum erstenmal in Dinslaken deutlich gewahr wurde. Dort durfte sie, noch besonnt vom Läuferinnenruhm, an einem »Prominentenfahren« teilnehmen.
Das an ihrem Sulky befestigte Pferd »Virginius«, in zwei Einfahr-Runden auf Sanftmut erprobt, zeigte sich nach dem Start zu einem Überraschungssieg entschlossen, »doch bei den letzten 1000 Metern, da fingen dem doch sehr die Beine an zu wackeln«. Immerhin, Jutta wurde Vorletzte, und der Rennverein Dinslaken ermunterte sie, Ihre bis dahin verborgenen Fähigkeiten freizusetzen.
Seitdem fährt sie jeden Sonntag zum Trabertraining nach Mönchengladbach, indes ihre zweijährige Stute »Miss Ultimo« von Fachmannshand »eingebrochen« wird. »Das nennt man so, wenn sich der Mensch zum erstenmal darum kümmert.«
»Worauf kommt es beim Trabrennen an?«
»Ich muß spüren, wo das Pferd seine Schwächen hat; da muß ich ihm helfen. Ich muß alles rausholen bei einem schwachen Pferd, wo es vielleicht noch stark ist. Außerdem muß ich verhindern, daß es Galopp, Paß oder Dreischlag geht.«
»Wie machen Sie das?«
»Ich ziehe einmal rechts und einmal links am Zügel. Möglichst schon vorher. Das heißt 'durchparieren'.«
»Angenommen«, sage ich, »das von Ihnen gelenkte Pferd verabsäumt es, im Finish über sich hinauszuwachsen - was tun Sie, um die rechte Einstellung in ihm hervorzurufen?«
Die geprüfte Amateurfahrerin durchforscht ihren Erinnerungsschatz: »Anschreien, wachrütteln ...«
- jäh fällt ihr die passende Fachvokabel bei: »melken«.
Ein neuer Pastellton, schämiges Rosa, erscheint auf ihren Wangen, während sie erläutert: »Das heißt, man muß es ein paarmal ruckartig am Maul reißen, aber nicht zu stark.«
Jutta Heine