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»ENDE DER ERERBTEN PRIVATEN MACHT«

Als ein Sanierungsprogramm für Partei, Staat und Gesellschaft präsentiert Servan-Schreiber, Ex-Herausgeber des Pariser »Express« und Generalsekretär der »Parti republicain radical et radical-socialiste«, sein »Manifeste radical«. Es sall Frankreichs Radikalsozialisten -- eine links-liberale Honoratiorenpartei -- zur gesellschaftspolitisch führenden Kraft machen. Das Manifest -- französischer Titel: »Ciel et terre« (Himmel und Erde) -, dem folgender Auszug entnommen ist, erschien jetzt auf deutsch*.
aus DER SPIEGEL 21/1970

Privater Reichtum und öffentliche Macht sind heute durch Mitschuld der Gesellschaft in einem System wechselseitiger Interessen vereint, das bis auf Colbert zurückgeht. Ständig werden die Aufgaben, die dem Privateigentum und der öffentlichen Gewalt zukommen, durcheinandergeworfen. Denn politische und wirtschaftliche Macht befinden sich in denselben Händen.

Wenn wir die künstlich eingeführten und kostspieligen Hilfen des Staates für einzelne Wirtschaftszweige abschaffen, wenn wir so die Unternehmen zwingen, die strengen Gesetze des Wettbewerbs und der Rentabilität zu befolgen, werden beträchtliche finanzielle Mittel freigesetzt.

Mit diesen Geldern ist ein System der wirtschaftlichen und sozialen Sicherung für jene Gesellschaftsgruppen aufzubauen, die Opfer der Entwicklung geworden sind. Wir investieren diese Gelder in die Erziehung und Ausbildung des einzelnen Menschen und beschleunigen so unmittelbar den Umwandlungsprozeß unserer Gesellschaft. Wenn, wie das heute der Fall ist, die politische Macht Helfer oder Vormund der Unternehmen bleibt, wer kümmert sich dann um den Menschen?

Die grundlegende Neuerung unserer Generation wird darin bestehen, daß wir den Menschen schon von frühester Kindheit an bilden. Die Erziehung soll noch vor der Einschulung im Kreis seiner Familie und in seiner sozialen Umwelt beginnen.

Wenn der Staat die richtigen Impulse gibt, kann die Erziehung zu einem Instrument werden, das dem zukünftigen Erwachsenen jene Fähigkeiten des Ausdrucks, des Mitteilens und des Vorstellungsvermögens vermittelt, die er sein ganzes Leben lang braucht, um anderen ebenbürtig zu sein. Unter den herrschenden Verhältnissen wird den meisten Menschen dies alles vorenthalten.

Die spätere Erziehung soll die Persönlichkeit entfalten und nicht nur jene Fähigkeiten ausbilden, die im Kampf um die Stellung im Berufsleben nützlich sind. Das Erziehungsziel wird nicht mehr im wesentlichen

* Jean-Jacques Servan-Schreiber: »Die befreite Gesellschaft. Eine Charta für Europa.« Hoffmann und Campe, Hamburg; 307 Seiten: 24 Mark.

darin bestehen, den Menschen den von der Wirtschaft diktierten Bedürfnissen anzupassen, sondern vor allem darin: jedem dabei zu helfen, die Welt, in der er lebt, zu begreifen, ihm neue Möglichkeiten der Einsicht in die Zusammenhänge zu geben. Darin liegt der Schlüssel zu persönlicher Unabhängigkeit.

So wird die Erziehung der sozialen Ungleichheit den Nährboden entziehen und nicht mehr, wie in unserer gegenwärtigen Gesellschaftsordnung, die überkommenen, gleichsam schicksalhaft vorherbestimmten sozialen Lebensbedingungen zementieren. Sie wird die Bildungsschranken einreißen, die mehr als alles andere und unwiderruflich von Geburt an für die Dauer des ganzen Lebens die Mächtigen von den Unterprivilegierten trennen.

Für unser Aktionsprogramm bedeutet das:

>Verminderung der bildungsmäßigen Ungleichheit an der Basis, und zwar noch vor der Einschulung, beginnend im Alter von zwei Jahren;

* fortwährende Erziehung an Stelle der zu lange dauernden akademischen Ausbildung, mit der die Jugendzeit übermäßig verlängert wird, die die Jugend in ihrem Schwung bremst, sie daran hindert, ihrem Alter gemäß zu leben, und die für das ganze Leben die Trennwand der Diplome zwischen den Menschen errichtet;

* Gründung eines Zivildienstes, der wirtschaftliche, pädagogische und soziale Aufgaben erfüllt und an die Stelle der Wehrpflicht tritt, die aufgehoben wird. Den Zivildienst leisten die Studenten während ihrer Freizeit. Sie werden so nicht mehr in den Augen anderer -- und oft auch in ihren eigenen -- als Parasiten der Gesellschaft erscheinen;

* Abschaffung des hierarchischen Systems der Eliteschulen, Aufgabe der hierarchischen, korporativen Struktur der hohen Beamtenschaft in Verwaltung und Justiz, Verzicht auf das elitäre Prüfungssystem. Statt dessen sind neue und erweiterte Möglichkeiten für den Nachwuchs des Landes an Führungskräften zu schaffen.

Unser Ziel ist das Ende der ererbten privaten Macht. Die Kontrolle über das Kapital der Unternehmen und damit das Recht, die Unternehmen selbst

führen oder das Management zu bestimmen, bleibt noch häufig, viel zu häufig, von Generation zu Generation in den Händen der gleichen Familien. Private Macht wird so weitgehend durch Erbfolge weitergegeben. Das widerspricht nicht nur unserer Weltanschauung, das steht auch im Widerspruch zu einem optimalen Einsatz der Produktionsmittel.

Entscheidend kommt es dabei auf eine möglichst große Beweglichkeit in der Unternehmensspitze an. Die Abschaffung des Erbrechts an den Produktionsmitteln führt dazu, daß die Leitung der Unternehmen schneller als bisher in kompetente Hände übergeht.

Dieses Ziel wollen wir mit der Reform der Erbschaftsteuer erreichen, deren ganze Tragweite sich schon in einer Generation auswirken kann.

Zum anderen darf die Machtbefugnis im Unternehmen nicht mehr mit dem Eigentumsrecht verquickt werden. Die Arbeitnehmer werden die gesetzliche Möglichkeit bekommen, auf die Wahl der Unternehmensführung direkten Einfluß auszuüben. Denn ohne das Vertrauensvotum der Belegschaft gibt es schon heute keine wirksame Autorität in einem Unternehmen mehr.

Die traditionellen Formen der politischen Machtausübung -- zentralisiert in der Verwaltungsbürokratie und auf die nationalen Grenzen beschränkt -- erlauben es nicht mehr, beherrschenden Einfluß auf die gesetzmäßigen Wirtschaftsabläufe zu nehmen.

Während der Bürger selbst auf die Entscheidungen, die seine Zukunft bestimmen, immer noch keinen Einfluß nehmen kann, gelingt dies auch der Regierung immer weniger.

Denn draußen errichten die Industriefirmen ihr weltweites Imperium über die Köpfe der nationalen politischen Machthaber hinweg. Drinnen aber isoliert die schwerfällige bürokratische Hierarchie die Politiker von den lokalen Problemen und den Gegebenheiten, die ihnen zugrunde liegen.

Deshalb wollen wir überall, im kleinsten Dorf bis hin in einen europäischen Bundesstaat der demokratischen Willensbildung mehr Geltung verschaffen. Die Aufgabe nationaler Souveränitätsrechte wird einen ungeheuren Fortschritt der Demokratie bedeuten.

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