HOCHSCHULEN Ende des Wunders
Im Auditorium maximum der Universität Bielefeld erregten sich Professoren: »Wie lange sollen wir das noch hinnehmen«, Uni-Rektor Karl Peter Grotemeyer nörgelte: »Flickschusterei.«
»Banauserie und Bankrott«, schimpften Mathematiker der Uni Köln. Bochums Uni-Rektor Knut Ipsen fühlt sich »persönlich getäuscht«; bei ihm sei die »Zumutbarkeitsschwelle überschritten«.
Wo in Nordrhein-Westfalen zwei Professoren zusammenkommen, klagen sie nicht mehr nur über faule Studenten und zuviel Demokratisierung an den Hochschulen - sie geben jetzt häufig einem ehemaligen Lehrer die schlechtesten Noten: Hans Schwier, 56, NRW-Minister für Wissenschaft und Forschung.
Mit Transparenten und Plakaten gehen die Gelehrten Seit' an Seit' mit den Studenten gegen die Politik des Sozialdemokraten auf die Straße. In Bochum luden Studenten aus Protest Mist ab. Als Schwier in Paderborn das zehnjährige Bestehen der Gesamthochschulen feierte, schleppten Studenten einen Sarg, sieben hat er schon, in den Saal; Musiker wurden mit Zitrone bespritzt.
Magnifizenzen wie der Aachener TH-Rektor Günter Urban drohten dem Minister mit Rücktritt, bereits vier Hochschulen riefen die Gerichte an, und im Düsseldorfer Wissenschaftsministerium erinnerten sich die Bürokraten an den alten Studenten-Spruch: »Über Gewalt redet man nicht, man wendet sie an.« Die Ministerialen ließen Zusatzsicherungen für ihre Fenster einbauen.
Bekannt und bei Professoren berüchtigt über Nordrhein-Westfalen hinaus wurde Schwier mit einem Papier zur »Konzentration und Neuordnung von Studienangeboten/ Studiengängen an den Hochschulen des Landes«. Kernpunkte des Schwier-Plans, dessen erster Teil nach dreimonatiger Diskussion mit den Universitäten in Kraft getreten ist:
* Rund 1600 wissenschaftliche wie nichtwissenschaftliche Stellen an den 34 NRW-Hochschulen sollen vorwiegend in jenen Fachbereichen aufgelöst werden, die zukünftige Lehrer ausbilden. Studienplätze verringern sich dadurch in zwölf Fächern zwischen zehn und dreißig Prozent. Begründung: »Die verminderten Einstellungschancen für angehende Lehrer zwingen zu Kürzungen des Studienplatzangebotes.«
* Für die eingesparten 1600 Stellen errichtet das Ministerium dort ebenso viele neue Stellen, wo sie nach Schwiers Meinung dringend gebraucht werden: rund ein Drittel an den Uni-Kliniken Aachen, Münster und Düsseldorf, ein Drittel für noch im Ausbau befindliche Hochschulen wie etwa Dortmund, ein Drittel für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs - letzteres vor allem, weil durch das Streichungsprogramm häufig zeitlich begrenzte Nachwuchsstellen entfallen.
* Aus Gründen der Sparsamkeit wie der Effizienz werden Lehramtsstudiengänge an sieben NRW-Hochschulen und einige Studiengänge kleiner Fächer ganz eingestellt und deren Kapazitäten großenteils auf andere Hochschulen verlagert. In technischen Studiengängen sollen benachbarte Universitäten sich ihre Aufgaben teilen: Für Ingenieure etwa sollen nicht in Dortmund und Bochum zweimal die gleichen teuren Labors unterhalten werden müssen.
Solche Pläne hatte noch kein deutscher Wissenschaftsminister, und der ehemalige Volksschullehrer Schwier ist auch nur wegen des knappen Geldes drauf gekommen. Denn im volkreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen gibt es außer Unis noch ein paar andere Probleme. Die Arbeitslosenziffern sind mancherorts zweistellig, der Sozialbereich bis hin zu den Kindergärten wird immer stärker gekappt, die Löcher im Haushalt sind nur noch in Bonn größer.
Obgleich sich auf 214 000 nordrheinwestfälischen Studienplätzen derzeit bereits 350 000 Studenten drängeln (1990: 450 000), obwohl überdies Personal- und Sachkosten Jahr für Jahr steigen, wird Schwiers 6,1-Milliarden-Haushalt auf S.52 Jahre hinaus kaum noch wachsen können, möglicherweise sogar schrumpfen. »Der totale Zusammenbruch des Hochschullebens wäre programmiert«, ahnt Schwier, »wenn wir nicht vorbeugen.«
Gegen »die neue Bildungskatastrophe« - allenthalben übervolle Hochschulen und leere Kassen - zieht Schwier mit einer neuen Bildungsökonomie zu Felde, die vor allem vom Berg der Lehrerstudenten ausgelöst wurde und an der kein Weg vorbeizuführen scheint. Obgleich es beispielsweise in Nordrhein-Westfalen im nächsten Jahr für rund 8000 zu erwartende Junglehrer nur 1000 freie Stellen gibt, scheint die Flut der nachrückenden Lehrerstudenten immer noch ungebrochen. Derzeit steuern an 14 nordrheinwestfälischen Hochschulen 32 300 Studenten und 45 400 Studentinnen den Lehrerberuf an.
In genau umgekehrtem Sinne hatte der Heidelberger Religionsphilosoph Georg Picht 1964 das Wort von der »deutschen Bildungskatastrophe« geprägt - zu kurze Schulzeiten, zu wenige Abiturienten, zu wenige Studenten im Vergleich zu anderen Ländern. Bis 1970, rechnete Picht damals vor, benötige man mehr als doppelt so viele Lehrer wie 1964, theoretisch müßten neun von zehn Abiturienten diesen Beruf wählen, wenn der Bedarf gedeckt werden sollte.
Der Bildungsnotstand avancierte zum Lieblingsthema. Um mehr Kinder fürs Gymnasium zu gewinnen, läuteten Verbände und Parteien, allen voran die Sozialliberalen, das Zeitalter der Bildungswerbung ein. Damals suchten Psychologen-Teams in Nordrhein-Westfalen und Studenten-Trupps in Baden-Württemberg Arbeiter und Bauern bildungsfreudig zu stimmen. Die »Aktion Gemeinsinn« feuerte Eltern an: »Schickt Euer Kind länger auf bessere Schulen.«
Um den Schülern den Übergang auf Oberschulen zu erleichtern, wurde das Schulsystem reformiert; um auch Nicht-Abiturienten den Weg zur Hochschule zu ebnen, wurde der zweite Bildungsweg ausgebaut. Noch 1977 beschlossen die Regierungschefs von Bund und Ländern, die Hochschulen angesichts der geburtenstarken Jahrgänge zu öffnen und Geld dafür bereitzustellen.
Hochschulen wurden hochgezogen, in keinem anderen Bundesland mehr als zwischen Münster und Bonn. »Die Regionalisierung der Hochschulen Nordrhein-Westfalens ist erfolgt wie die Missionierung der Indianer Kaliforniens«, so der Bochumer Uni-Rektor Ipsen, »nämlich mit Standorten, die nur eine Tagesreise mit der Postkutsche entfernt lagen.« Neue Hochschulformen wurden kreiert, Fachhochschulen und Gesamthochschulen, eine Fernuni und, in Herdecke, nunmehr eine Privatuni. Die Hochschulordnung wurde demokratisiert, die Gruppenuniversität trat neben die alte Ordinarienuniversität.
Die Wissenschaft mußte nicht mehr, wie einst, hinter dem Geld herlaufen. Hatten die Länder zur Zeit des aufblühenden Wirtschaftswunders, 1953, nur 105 Millionen Mark für den Ausbau wissenschaftlicher Hochschulen parat, so gaben sie 1975 sechzehn mal mehr aus. Mit dem Geld kamen auch die Studenten.
Ihr Anteil pro Jahrgang kletterte in den letzten 25 Jahren von drei auf fast zwanzig Prozent. Im Ruhrgebiet, wo 1960 nur 2000 studierten, gibt es jetzt 78 000 Studenten. 1,1 Millionen Immatrikulierte kämpfen in der Bundesrepublik derzeit um 750 000 Studienplätze - im Schnitt ein Drittel Überlast, in Teilbereichen bis zu 100 Prozent. Mit 43 000 Studenten hat die Kölner Uni mehr als doppelt so viele Studenten, wie die Richtzahlen vorgeben.
Die Bildungsreform, die zum Jahrhundertwerk werden sollte, ist zum Flickwerk verkümmert. »Die Regierung hat nicht nur kein Geld mehr«, kritisiert der Bielefelder Uni-Rektor Grotemeyer seinen Wissenschaftsminister, »sie hat nicht einmal einen ernst zu nehmenden Plan.«
Das große Konsilium der Gelehrten hat zwar Pläne, ist aber uneins über Diagnose und Therapie. George Turner, Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz, klagt, die Finanzpolitik habe die Bildungspolitik völlig überlagert.
Turners Rektoren-Kollegen in Nordrhein-Westfalen vermissen die Koordination von Spar-, Bildungs- und Beschäftigungspolitik. Sie befürchten, der Schwier-Plan laufe faktisch auf einen immens verschärften Numerus clausus in allen Fächern hinaus, weil potentielle Lehrerstudenten jetzt auf andere Studiengänge umschwenkten. Der totale NC wiederum bewirke, daß Abiturienten, die nicht studieren, auf dem Arbeitsmarkt verstärkt Haupt- und Realschüler verdrängten.
Schwier hat sich in dem Streit um den richtigen Plan entschieden - »für andere Ansätze als in den zurückliegenden Jahren, wo die Mittel reichlich zur Verfügung standen«. Ein Numerus clausus, wie ihn beispielsweise Schleswig-Holstein für Lehrerstudenten beschlossen hat, ist auch für Schwier so absurd nicht: »Wir können doch angesichts der Finanzlage an den Hochschulen wie auch außerhalb Leute nicht einfach studieren und studieren lassen, obwohl wir genau wissen, daß sie zum größten Teil mit ihrem Studium keinen Beruf finden werden.«
Falls die Hochschulen sich gegen den Plan sperren sollten, hat der Minister sein Rezept schon bekanntgemacht. »Es wäre fatal«, sagte er in einer Rede vor Hochschullehrern, »wenn Sie mich in unaufhörliche rechtliche Auseinandersetzungen hineinzerren, weil ich dann aus der Verantwortung für alle Hochschulen heraus das Hochschulgesetz ändern muß, um auf dem Verordnungsweg Maßnahmen zu oktroyieren.«
Hochschulrahmengesetz und NRW-Hochschulgesetz schreiben vor, daß die Hochschulen bei Strukturveränderungen beteiligt werden müssen. Schwier hat mit den Hochschulen »eingehend diskutiert« und noch zahlreiche Details geändert.
Bis der Schwier-Plan vollständig in die Tat umgesetzt wird, vergehen ohnehin noch »Jahre« (Schwier-Pressesprecher Wolfgang Nowak). Zwar ist für das Ministerium S.56 der Abbau der Lehrerausbildung, außer im Fach Physik, auf dem Papier nunmehr abgeschlossen; im Herbst wird über die Reduzierung der Physik - vorgesehene Kürzung: 30 Prozent - mit Hilfe wissenschaftlicher Gutachten endgültig entschieden sein. Aber umgesetzt werden kann der Plan nur Schritt für Schritt, nämlich immer erst dann, wenn eine entsprechende Stelle durch das Auslaufen von Verträgen frei wird.
Auch an den Fall, daß dies eines Tages zu langsam gehen oder zu wenig sein könnte, hat der Minister gedacht. »Weiterreichende Maßnahmen werden dann ergriffen werden müssen«, schrieb er in sein Papier, »wenn die künftige, derzeit nicht sicher prognostizierbare gesamt- und finanzwirtschaftliche Entwicklung einschneidendere Maßnahmen erfordert.« Rektoren-Präsident Turner fürchtet nun, »daß solche Überlegungen auch woanders Schule machen könnten«.
Dabei ist den meisten Bildungspolitikern der nordrhein-westfälischen SPD-Landtagsfraktion der Schwier-Plan noch zu zahm. Auf einer Klausurtagung forderten sie - mit Ausnahme weniger, denen die Lobby ihrer örtlichen Hochschule im Nacken saß - radikalere Maßnahmen: Auch die Medizin dürfe künftig von Kürzungen nicht verschont bleiben; »brotlose« Disziplinen müsse man notfalls »bis an die Numerus-clausus-Grenze herunterfahren«, die Lehrerausbildungskapazität sei selbst im Schwier-Papier immer noch zu hoch.