BONN / KOALITIONS-ZERFALL Ende einer Dienstfahrt
Dort, wo der Staat gewesen sein könnte oder sein sollte, erblicke ich nur einige verfaulende Reste von Macht, und diese offenbar kostbaren Rudimente von Fäulnis werden mit rattenhafter Wut verteidigt!
Heinrich Böll
Seit Ende letzter Woche weiß die
deutsche Nation, daß Heinrich Bölls
Vision vom nicht mehr auffindbaren Staat makabere Wirklichkeit ist.
In Bonn amtierte ein Kanzler, den seine eigene Partei loswerden will, tagte ein Kabinett, in dem, neben drei anderen, der derzeit wichtigste Posten, der des Finanzministers, nicht besetzt ist, agierte eine Regierung, die regierungsunfähig ist, weil sie im Parlament keine Mehrheit besitzt.
17 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland war die deutsche Politik zum Stillstand gekommen. Dennoch blieb sich der von Freund und, sogar von Feind verlassene Regierungschef Ludwig Erhard auch noch in dieser Stunde selber treu - der Entschlußlose konnte den überfälligen Entschluß zum Rücktritt nicht fassen.
Zwar standen die Leichenträger, die ihn heraustragen möchten, schon vor der Tür. Aber sie alle - ob Barzel, ob Strauß, ob Kiesinger, Gerstenmaier, Schröder oder ob Dufhues - wagten nicht die Tür aufzustoßen, weil sie sich scheuten, damit den Wählern den Bankrott christlich-demokratischer Politik zu offenbaren.
Die Staatsfinanzen sind zerrüttet, der Bundeshaushalt weist Milliardenschulden auf. Das Wirtschaftswunder ist zu Ende, für den Winter droht das Gespenst der Arbeitslosigkeit. Außenpolitisch ist die Bundesrepublik fast so isoliert wie die DDR, deren Isolierung das erklärte Ziel der Bonner Politik war.
In dieser Lage regiert, wie unter Reichskanzler Brüning in der Agonie des Weimarer Staates auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise Anfang der dreißiger Jahre, zum erstenmal in Deutschland wieder ein Minderheitskabinett. Damals konnte der Reichskanzler mit Hilfe von Notverordnungen das Nötigste regeln und wurde von der sozialdemokratischen Opposition toleriert.
Heute hat der Bundeskanzler keine Möglichkeit, ohne parlamentarische Unterstützung zu handeln. Und die SPD wird ihm keine Schonung zuteil, werden lassen. Herbert Wehner zum SPIEGEL: »Wir sind nicht die Erfüllungsgehilfen der Union. Ehe wir denen helfen, müssen sie vor dem Volk den Offenbarungseid leisten.«
Noch aber will sich die Mehrheit der CDU/CSU von den Sozialdemokraten nicht helfen lassen. Sie will die liebgewordene Macht mit niemandem teilen. Trotz ihrer Überzeugung, daß eigentlich nur noch ein Koalitionswechsel und eine Beteiligung der Sozialdemokraten an der Regierung den Zerfall der Bonner Republik aufhalten könnte, können die führenden Christdemokraten sich nicht zu einer Bereinigung der Situation entschließen und schon gar nicht den Weg zu Neuwahlen freigeben.
Dies wäre möglich, wenn der Bundeskanzler im Bundestag nach Artikel 68 des Grundgesetzes die Vertrauensfrage stellte und keine Mehrheit fände. Dann könnte er dem Bundespräsidenten vorschlagen, den Bundestag aufzulösen.
Statt dessen hält sich Ludwig Erhard mit Hilfe des sogenannten konstruktiven Mißtrauensvotums, wonach der Kanzler nur gestürzt werden kann,
wenn der Bundestag einen Nachfolger wählt, an der Macht fest. Auf Vorhaltungen engster und höchster Parteifreunde, ihm bleibe jetzt nur noch der Rücktritt, um für Deutschland eine anständige Lösung zu finden, erwiderte Erhard ungerührt: »Ich bin der gewählte Bundeskanzler.«
Zwar haben SPD und FDP zusammen im Parlament eine Mehrheit von vier Stimmen und könnten den gewählten Bundeskanzler abwählen, aber weder ist die SPD willens, auf dieser dünnen
Grundlagen mit den Freien Demokraten zu koalieren, noch ist die FDP fähig, jetzt schon eine Umkehr der Allianz vorzunehmen.
Die CDU/CSU ihrerseits ist wegen ihrer inneren Zerrissenheit nicht in der Lage, aus sich selbst heraus die Widersprüchlichkeiten der Regierungspolitik zu korrigieren. Da ihr rechter Flügel an, einer kostspieligen Verteidigungspolitik, ihr linker Flügel an einer kostspieligen Sozialpolitik festhält, sollten die Freien Demokraten gezwungen werden, die Mitverantwortung für Steuererhöhungen zu übernehmen.
Wie sein liberaler Finanzminister Rolf Dahlgrün, hatte auch Ludwig Erhard schon seit Wochen den Überblick über die Bundesbilanzen verloren. Bei den Koalitionsgesprächen in der letzten Woche war er, wie ihm FDP-Fraktionsvorsitzender Kühlmann-Stumm schließlich vorwarf, unfähig, auch nur eine einzige Sachfrage des Haushalts plausibel zu beantworten. Ständig flüchtete er sich in allgemeine wirtschaftspolitische Erwägungen, wobei er zum Schluß sogar den von ihm noch vor kurzem als heilig gepriesenen Grundsatz aufgab, daß sich die Vermehrung der Staatsausgaben am Zuwachs des Bruttosozialprodukts orientieren müßte.
Aber auch die zahlreichen Kanzler-Aspiranten der CDU haben sich bisher weder mit einem klaren Alternativ-Programm zur Lösung der finanzpolitischen und außenpolitischen Malaise hervorgetraut, noch haben sie es bis zum Wochenende gewagt, sich öffentlich zu ihrem Ziel zu bekennen. Sie führen ihren Kampf um die Machtübernahme im dunkeln und mit verdeckten Karten. Es sind dies
DRainer Barzel, 42. Der CDU/CSU -Fraktionschef hat in der letzten Woche die Koalitionskrise manipuliert, um eine Entscheidung über die Ablösung Ludwig Erhards zu beschleunigen. Zahlreiche Christdemokraten sehen in dem aktiven jungen Politiker einen Mann, der bei den Bundestagswahlen 1969 die junge Generation ansprechen könnte. Aber Barzel hat wenig Freunde, viele Fraktionsgenossen mißtrauen seinem Ehrgeiz.
- Gerhard Schröder, 56. Der Außenminister hat in der vergangenen Woche zum erstenmal in der Fraktion seinen Anspruch auf die Kanzlernachfolge deutlich werden lassen. Schröder wird von vielen protestantischen Abgeordneten als entscheidungsfreudiger Mann gepriesen, obwohl er eher ein vorsichtiger Taktiker ist. Das Scheitern seiner amerikafreundlichen Außenpolitik und seine unnötige Härte gegenüber Frankreich haben ihm zahlreiche Gegner eingetragen.
- Eugen Gerstenmaier, 60. Der Bundestagspräsident gilt altersmäßig als die natürliche Generationsfolge auf den 90jährigen Adenauer und den 69jährigen Erhard, bemüht sich aber nicht aktiv um den Kanzlerposten. Ein Teil der christdemokratischen Führungsgruppe schätzt seine gelehrte Beredsamkeit, aber viele zweifeln daran, ob er die nötige Härte beweisen könnte.
- Kurt Georg Kiesinger, 62. Der baden württembergische Ministerpräsident wird von den süddeutschen CDULandesverbänden und auch von einigen norddeutschen Landesverbänden bevorzugt. Er könnte vor allem auch auf die Stimme der CSU rechnen. Seine Chancen sind dadurch gemindert, daß er schon zu lange von der Bonner Bühne verschwunden ist und viele CDU-Abgeordnete ihn kaum noch kennen.
- Josef Hermann Dufhues, 58. Der frühere Geschäftsführende CDU-Vorsitzende, der wegen einer schweren Erkrankung fast ein Jahr lang aufs dem Rennen um die Kanzler-Nachfolge war, hat eine sich langsam verbessernde Außenseiterposition, weil er es stets verstanden hat, ausgleichende Formeln zu finden und sich um die Partei zu kümmern. Weder Adenauer noch Erhard haben das je getan.
Am Ende letzter Woche war das heimliche Ringen um die Kanzlernachfolge unter diesen fünf Männern noch völlig offen. Keiner der heimlichen Bewerber hatte einen erkennbaren Vorteil aufzuweisen, keiner seine besondeie Qualifikation nachweisen können. Manche, wie Barzel und Schröder, blockierten sich bereits gegenseitig und gaben einen Vorgeschmack davon, zu welch einer Zerreißprobe für die Christlich-Demokratische Union der Kampf der Diadochen werden kann. Andere, wie Kiesinger und Dufhues, reisten aus der Provinz an, um die Lage zu sondieren.
Die Woche der Bonner Kanzlerdämmerung begann am Montagnachmittag mit einer Fraktionsvorstandssitzung der CDU/CSU in Zimmer 213 F des Bundeshauses. Ludwig Erhard geriet in der Routinesitzung der Fraktionsführung sofort unter scharfen Beschuß. Franz-Josef Strauß kritisierte, der Kanzler und sein Außenminister hätten eigenmächtig dem Umzug des Nato-Rats von Paris nach Brüssel zugestimmt. Dies sei ein weiterer Umfall vor den Amerikanern und ein weiterer Affront gegenüber den Franzosen.
Ludwig Erhard, um naive Ausreden nie verlegen, führte an, er sei in Zeitnot gewesen. Daher habe er die Fraktion nicht unterrichten können. Wenig später - Franz-Josef Strauß hatte die Sitzung inzwischen verlassen - mußte der Kanzler einen finanziellen Offenbarungseid leisten: Bei den Dreier-Verhandlungen mit Amerikanern und Engländern über die Truppenstationierung gehe es nicht um einen Aufschub der bis Mitte nächsten Jahres noch fälligen Zahlungen in Höhe von 3,6 Milliarden Mark, sondern um die Devisenhilfe für die folgenden Jahre. Selbst wenn es gelänge, die angloamerikanischen Forderungen für die weitere Stationierung der Truppen nach dem 30. Juni 1967 erheblich zu drücken, würde der nun anstehende Bundeshaushalt trotzdem so stark belastet werden, daß auch schon aus diesem Grund Steuererhöhungen unausweichlich seien.
Die christdemokratischen Vorstandsherren hatten den freidemokratischen Finanzminister Rolf Dahlgrün zu ihrer Sitzung geladen. Sie wollten wissen, wie sich der verantwortliche Ressortchef die Überwindung der Haushaltsmisere vorstelle.
Dahlgrün verfocht die liberale Grundthese: Der Staat dürfe nicht immer höhere Steuern verlangen, sondern müsse bei Geldmangel seine Ausgaben einschränken. Linkskatholik Winkelheide fuhr dazwischen: »Wo wollen Sie denn einsparen? Wollen Sie den Sozialstaat, demontieren?«
Der ehemalige Hamburger Industrie-Syndikus Dahlgrün, der das Riesenloch im Haushalt zu spät vorausgesehen hatte, übte sich daraufhin in kurzfristig richtiger Prophetie: »Wenn ich das höre, dann habe ich für heute abend große Sorgen.«
Für diesen Montagabend hatte Ludwig Erhard zu einem Koalitionsgeplauder im Kanzler-Bungalow geladen. Und Dahlgrün wußte, daß die zornigen jungen Männer seiner Partei, voran der geriebene Fraktionsgeschäftsführer Hans -Dietrich Genscher, 39, und der aktive Bundesgeschäftsführer Dr. Hans Friderichs, 35, sich vorgenommen hatten, der CDU die Zähne zu zeigen. Sie wollten verhindern, daß die FDP mit Kanzler Erhard untergeht, und hatten das Fernziel vor Augen, die von ihren Wählern mehr und mehr verlassene CDU zu beerben.
An der schmalen Speisetafel der modernen Erhard-Heimstätte im Park des Palais Schaumburg drängten sich 24 Koalitionsunterhändler. Es gab belegte Brötchen, und des Kanzlers Hausdame, Fräulein von Quistorp, servierte nach Wunsch Sekt, Whisky, Bier oder Saft. Der Kanzler wählte wie immer - und in den vergangenen Tagen weniger mäßig als regelmäßig - Whisky. Fraktionschef Barzel orderte Sekt: »Ich bin Optimist.«
Einer fehlte: Franz-Josef Strauß. Der CSU-Chef hatte in letzter Minute abgesagt. Vorher hatte er sich telephonisch mit Rainer Barzel verständigt, der ihn sogleich in diesem demonstrativen Akt unterstützte.
Seine Absage begründete Strauß schriftlich unter der Anrede »Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, lieber Herr Erhard«. In dem Schreiben hieß es, daß Erhards und Schröders einsamer Entschluß, der Verlegung des Nato-Rats zuzustimmen, dem kürzlichen Beschluß der Fraktion widerspreche, die Bundesregierung solle einen sichtbaren Schritt auf Frankreich hin tun. Außerdem habe er mit Bestürzung von der Absicht gehört, das geltende Devisenhilfeabkommen zu prolongieren. Er könne die Mitverantwortung für diese Politik nun nicht mehr übernehmen.
Nicht nur wegen Straußens ostentativer Abkehr war die Stimmung im Bungalow gereizt. Zur gleichen Zeit, als die Herren zum Abendessen eintrafen, hatte, wie Kanzlergehilfen auf Notizzetteln mitteilten, FDP-Major Erich Mende in der Fernseh-Sendung »Panorama« erklärt, die Freien Demokraten seien notfalls auch bereit, in Bonn mit der SPD eine Regierung zu bilden.
Als dann bei der anschließenden Diskussion der übernervöse frühere FDPFinanzminister Heinz Starke aus Schlesien mit hastiger Lehrhaftigkeit über Soll und Haben des Bonner Budgets referierte, mangerte der münsterländische CDU-Abgeordnete und frühere Arbeits- und Verteidigungsminister Theo Blank dazwischen: »Sie können doch hier gar nicht für die FDP sprechen. Sie haben doch keine Ahnung.« Der aus Böhmen stammende Freidemokrat Siegfried Zoglmann empfand Blanks Attacke als Angriff auf die FDP-Solidarität und schnellte hoch: »Das ist eine Ungeheuerlichkeit, die wir zurückweisen.« Sachse Hans-Dietrich Genscher fing an, die Akten zusammenzupacken: »Ich lehne es ab, weiter zu verhandeln, wenn diese Diffamierung nicht vom Tisch kommt.« Aber Ostpreuße Barzel beschwichtigte: »Lassen wir die Sache auf sich beruhen.«
Der christdemokratische Fraktionsdirigent wollte sich nicht im Kleinkampf verschleißen, sondern den Koalitionsgenossen eine Blankokapitulation abverlangen. Bevor über Haushaltsdetails gesprochen werde, müsse die FDP sich grundsätzlich bereit erklären, notfalls auch Steuererhöhungen zuzustimmen.
FDP-Fraktionsgeschäftsführer Genscher akzeptierte den Prinzipienstreit: Dann wolle die FDP zunächst einmal wissen, »für welche Politik, insbesondere für welche Außen- und Verteidigungspolitik, die Regierung soviel Geld braucht und welche Weisung Staatssekretär Carstens für die Devisenverhandlungen mit den Amerikanern und Engländern bekommen hat«.
Rainer Barzel richtete nun das Feuer scheinbar ganz unschuldig auf jenen Mann, der nach seiner und auch nach Genschers Ansicht die Bonner Szene räumen muß, damit die deutsche Politik wieder ins Lot komme und nicht bei den kommenden Wahlen alle Macht an die Sozialdemokraten falle. Barzel: »Was sehen Sie mich so an, Herr Genscher, das sind doch wohl Fragen an den Herrn Bundeskanzler?«
Der Kanzler wich aus. Er schob alle Schuld für die Rüstungsmilliardenlast auf den abwesenden Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel, mit dem er »völlig zerfallen« sei. Erhard: »Ich habe Herrn von Hassel, um einen Ausdruck aus dem Schulleben zu gebrauchen, verboten, künftig Erklärungen über langfristige Verpflichtungen abzugeben.« Der Kanzler hatte offensichtlich vergessen, daß er selbst es gewesen ist, der den Amerikanern vor drei Jahren die pauschale Zahlungszusage gegeben hatte.
Freidemokrat Zoglmann war mit der Kanzler-Antwort nicht zufrieden: »Ich will Ihnen mal sagen, worum es hier geht. Es geht um die Liquidierung von zehn Jahren verfehlter CDU-Politik.«
Damit hatte der agile, immer einen Stich zu korrekt gekleidete stellvertretende Fraktionsvorsitzende der FDP ausgesprochen, was außer dem Kanzler in dieser Runde alle längst dachten: Das schwere Erbe Konrad Adenauers hatte der Nachlaßverwalter Erhard nicht ordnen können.
Nun suchte sich jeder aus der Verantwortung zu ziehen. CDU-Fraktionsgeschäftsführer Rasner wurde laut: »Was wollen Sie, Sie haben doch fünf Jahre mitgemacht. Wir verlangen, daß das zurückgenommen wird.« Zoglmann war um eine Antwort nicht verlegen: »Wir können uns höchstens vorwerfen, daß wir nicht genügend Widerstand geleistet haben.«
Schon an diesem Abend schien die Koalition im Tumult zu zerbrechen. Die Christdemokraten wünschten jetzt unter sich über die liberale Provokation zu beraten. Fräulein Quistorp kurbelte die versenkbare Trennwand im Bungalow hoch. Im Gänsemarsch marschierten die Freidemokraten in die Empfangshalle.
Eine Viertelstunde später, Mitternacht war schon vorüber, fand man sich wieder zusammen. Aber die gereizte Stimmung war nicht verflogen und auch nicht zu beruhigen, obwohl Vizekanzler Mende sich alle Mühe gab: »Der Kollege Zoglmann hat doch nur, wenn auch überspitzt, dasselbe ausgedrückt, was der Bundeskanzler gesagt hat. Wie bei den Devisenverhandlungen zum Beispiel können wir nicht weiter Politik machen.«
Die eigenen Parteifreunde hörten nicht mehr auf ihren Parteichef. Sie wiesen spitz darauf hin, daß bald wieder November sein werde. Und schon einmal, vor vier Jahren, während der SPIEGEL-Krise, seien die liberalen Bundesminister kurz vor der Bayern-Wahl im November aus der Koalition ausgezogen. Als dann auch noch Dahlgrün zu längerem Vortrag ausholte, stoppte ihn Blank: »Mit einem so rüden Verein kann man ja nicht weiterkommen.« Selbst Dahlgrün wurde nun zornig: »Das nehmen Sie zurück.« Blank wechselte nur einen Buchstaben aus: »Ich hab' doch nur müder Verein gesagt.«
Die Helden waren wirklich müde. Um zwei Uhr schlug Barzel vor, das Palaver abzubrechen und am nächsten Vormittag weiterzumachen. »Von zehn bis elf bin ich für jeden zu sprechen.«
Doch kein Freidemokrat wollte mehr mit Barzel reden.
Der CDU/CSU-Fraktionschef war nun entschlossen, die Stunde zu nützen und eine Änderung der Lage zu erzwingen. Bevor er zur Aktion schritt, rief er den Mann an, der sich nächst Konrad Adenauer am meisten um die christdemokratische Zukunft sorgt, aber im Unterschied zu Konrad Adenauer noch aktionsfähig ist: Parteiveteran Heinrich Krone, der schon seit langem in den eigenen Reihen gewarnt hat: »Die Partei darf nicht zum Deubel gehen.«
Barzel fragte an, ob er den nächtlichen Koalitionskrach der CDU-Fraktion enthüllen oder ihn besser verschweigen solle. Krone, auch in politischen Geschäften von betonter Redlichkeit, riet: »Sie müssen den Leuten reinen Wein einschenken.«
Derart von einem Repräsentanten der Parteitradition gestützt, gab Barzel der CDU-Fraktion am Dienstagvormittag einen ungeschminkten Bericht: Die CDU/CSU habe für die Bewältigung der Haushaltskrise ein klares' Konzept entwickelt. Nun sei »die Stunde der Entscheidung« gekommen, ob man sich von dem kleineren Koalitionspartner erpressen lassen wolle.
Strauß war nun auch mit von der Partie. Über den Kopf des Kanzlers hinweg, der zwischen Strauß und Barzel saß, unterstützte er den Fraktionschef: »Dem Kollegen Barzel gebührt Dank und Anerkennung und Vertrauen für die bisherige Verhandlungsführung.« Er schlug vor, man solle der FDP noch eine letzte Chance geben. In kleinster Besetzung solle man noch einmal miteinander sprechen, »um herauszufinden, ob es noch eine gemeinsame Basis für die Zusammenarbeit gibt«.
Wie verloren saß der Kanzler mit trübem Blick am Vorstandstisch, unfähig zu einer Reaktion auf die politische Herausforderung. Als er, anstatt eine politische Parole auszugeben, sich in längeren Ausführungen über das Devisenabkommen erging, gab es Gemurmel und Gekicher. Und wie Erhards Aktionen, so verlor sich auch seine Rede im Ungewissen.
Der Hamburger CDU-Landesvorsitzende Erik Blumenfeld nach diesem Auftritt: »Erhard regiert wie einer, der Auto fährt, ohne einen Führerschein zu haben.«
Der Kampfgeist, der dem Kanzler fehlte, erhob sich nun in der Fraktion. Einige plädierten dafür, Erhard solle beim Bundespräsidenten sofort die Entlassung der FDP-Minister erwirken und eine Minderheitsregierung bilden, andere meinten, die Not des Vaterlandes gebiete eine Große Koalition mit der SPD. Um die Mittagsstunde prophezeite Barzel voll verhaltener Freude dem SPIEGEL: »Es brennt und bricht.«
Derweilen hielten auch die Freidemokraten Kriegsrat. Auch sie hatten schon seit langem auf den richtigen Augenblick zum Absprung gewartet und nun erkannt, daß der Streit um die Steuererhöhungen genau der richtige Punkt sei, zumal auf dem letzten FDP-Parteitag im vergangenen Juni in Nürnberg bindend beschlossen worden war, Steuererhöhungen in jedem Fall abzulehnen, um die Stabilität von Währung und Wirtschaft zu retten.
Am Dienstagnachmittag begegneten sich CDU und FDP erneut im Kanzler -Bungalow, diesmal bei Kaffee und Kuchen. Man wollte noch einmal einen Versuch unternehmen. Es ging um Einzelheiten einer Haushaltskürzung. Plötzlich erklärte Barzel zu aller Überraschung, er müsse fort, er sei zum Bundespräsidenten bestellt. Mende später: »Das mußte bei uns den Verdacht erregen, daß es Barzel gar nicht um den Haushalt, sondern um ganz andere Dinge ging. Es war doch eine Brüskierung, am Bundeskanzler vorbei zu Lübke zu laufen.«
In der Tat hatte Barzel sich diese Audienz in der Villa Hammerschmidt, dem Amtssitz des Buhdespräsidenten, selbst bestellt. Er wollte das Staatsoberhaupt, dessen Abneigung gegen Ludwig Erhard nur noch von Konrad Adenauer überboten wird, auf seine Seite ziehen.
Die Zurückgebliebenen im Bungalow debattierten nun ins Blaue hinein. Erhard wandte sich beschwörend an den Ritterkreuzträger Mende: »Denken Sie bloß einmal, wo wir hinkommen, wenn ein Mann wie Brandt Kanzler wird. Dessen beide Söhne schänden das nationale Symbol des Eisernen Kreuzes, indem sie das Ritterkreuz zum Badeanzug tragen*.«
Ehe der Ritterkreuzträger antworten konnte, hakte der EK II-Träger Strauß ein, der diesmal mit an Erhards Tisch saß: »Sie haben ja recht, Herr Bundeskanzler, doch ich würde das nicht so laut sagen.« Erhard fragte perplex: »Warum nicht?« Strauß erläuterte: »Weil Ihr Innenminister Lücke die nach dem Ordensgesetz erforderliche Genehmigung erteilt hat und außerdem den Film mit 180 000 Mark subventioniert.« Dann nahm der Streit um größere Summen seinen Fortgang, der Streit um den Bundeshaushalt. Der einstige Wirtschaftswunderling Erhard berief sich dabei auf die sachkundige Auskunft eines Mannes, den er früher nicht gelten lassen wollte und der den Kanzler für einen Traumtänzer hält: den Bankier Hermann Josef Abs. Dieser habe ihm gesagt, der Bundeshaushalt sei nur durch eine Ergänzungsabgabe auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer, die allein dem Bund zusteht, auszugleichen. Der Kanzler schlug eine solche sechsprozentige Abgabe vor.
Die Liberalen blieben stur. Eine derartige Steuererhöhung müsse die Krise weiter nach oben treiben, die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie gefährden und Arbeitslosigkeit heraufbeschwören. Nach zweieinhalb Stunden trennte man sich ergebnislos, obwohl Franz-Josef Strauß versucht hatte, eine Brücke zu schlagen. Er hatte angeregt, noch einmal über die möglichen Haushaltskürzungen und dann über die notwendigen Steuererhöhungen zu beraten. Strauß, stolz auf sein Alibi, konnte hinterher verkünden: »Ich habe konstruktiv verhandelt.«
Die zerstrittenen Koalitionspartner beschlossen, die Haushaltsberatungen am nächsten Tag im Kabinett fortzusetzen. FDP - Einpeitscher Genscher schwante schon in diesem Augenblick Unheil: »Das Kabinett ist unsere schwächste Stelle, es ist die einzige Körperschaft, in der Erhard noch eine Mehrheit hat.«
Auch der Kanzler hatte in einem seltenen Moment politischer Erleuchtung diese Lage erkannt. Er hatte inzwischen begriffen, daß es nun nicht mehr nur um die Rettung der Wirtschaft, um den Bestand seiner Regierung, sondern daß es um seinen eigenen Kopf ging.
Er eilte am späten Dienstag nachmittag in die Fraktion und deklamierte: »Die FDP muß gestoppt werden. Ich bin mit den beiden Herren neben mir (Strauß und Barzel) völlig einer Meinung. Was die FDP verlangt, kann einer Volkspartei wie der unseren nicht zugemutet werden.« Zum erstenmal erhielt der Kanzler wieder Beifall.
Nach der Sitzung übernahm Erhard sogar die Regie bei einer internen Besprechung im Zimmer des Fraktionschefs. Er versprach, den Finanzminister Dahlgrün zu entlassen, falls dieser sich weigern sollte, dem Parlament Steuererhöhungen vorzuschlagen.
Am nächsten Tag, Mittwoch-Vormittag, beschloß die FDP-Fraktion unter dem Druck von Genscher und Friderichs ein Votum gegen Steuererhöhungen jeglicher Art, obwohl die Abgeordneten Miessner, Hellige und Wächter warnten, die FDP solle sich nicht wieder zuviel vornehmen. Miessner: »Wir sind am Ende doch immer umgefallen. Auch diesmal werden wir nicht durchhalten, denn Steuererhöhungen sind unvermeidbar.«
Miessner berief sich auf Mende, der in seiner Interview-Serie stets nur die Erhöhung von Einkommen- und Körperschaftsteuer, nicht aber die Erhöhung der umstrittenen Tabak- und Branntweinsteuer abgelehnt habe. Der Vizekanzler, auf die Rettung der Koalition bedacht und wie sein Kanzler kein geborener Führer, schwieg.
Genscher, der schon in den frühen Morgenstunden des Mittwochs Mendes Stellvertreter im Parteivorsitz, den Düsseldorfer Innenminister Willi Weyer, sowie den Partei-Veteranen Reinhold Maier im schwäbischen Remstal angerufen hatte, um ihren Segen für die Rebellion zu erbitten, boxte nun in der Fraktion eine Direktive für das Verhalten der Minister im Kabinett durch. Sie sollten
- sich gegen jegliche Steuererhöhung
sperren;
- sich darauf berufen, daß der Kanzler gegen den Willen des Finanzministers keine Steuererhöhungsvorlage machen könne, weil er den Chef eines Ressorts trotz der Richtlinienkompetenz dazu nicht zwingen könne.
Genschers Kalkulation: Erhard bliebe dann nichts weiter übrig, als Dahlgrün zu entlassen. Dann könnten auch die anderen Minister um ihren Abschied bitten, und der Bruch der Koalition käme auf Erhards Konto.
Am gleichen Mittwoch flammte auch der Interview-Krieg wieder auf. Um die Vorwürfe der FDP wegen der von der CDU beabsichtigten Steuererhöhungen abzufangen, erklärte Barzel mittags vor den Fernsehkameras: Nur ein einziger Teilnehmer der Koalitionsgespräche habe »als Diskussionsbeitrag« von der Erhebung einer Ergänzungsabgabe gesprochen.
Sogleich eilte Zoglmann ins Studio des Westdeutschen Rundfunks und sprach den letzten Bonner Frontbericht in das Mikrophon des »Mittags-Magazin": »Es muß mit aller Deutlichkeit gesagt werden, daß dieser eine Gesprächsteilnehmer immerhin der Herr Bundeskanzler Professor Erhard war.«
Unterdessen stritten die Minister weiter darüber, wie das Loch im Haushalt zu stopfen sei. In der Kabinettssitzung, die am Mittwoch vormittag um 10 Uhr begonnen hatte, erklärte Mende vor versammelter Runde: »Es geht hier in Wirklichkeit gar nicht mehr um den Haushalt, Herr Bundeskanzler. Es gibt Leute, die auf Ihren Platz wollen.«
Erhard versuchte, seinen Sessel durch einen Kompromiß zu retten. Er verließ die besonders von den katholischen Sozialpolitikern geforderte harte Verhandlungslinie gegenüber der FDP und fand sich zu dem von den Freidemokraten geforderten Spar-Gespräch bereit.
Zehn Stunden diskutierte das Kabinett »vom Pennälergehalt bis zur Käse -Subvention« (Mende) Möglichkeiten für Einsparungen in Höhe von 900 Millionen Mark - bei einem Fehlbetrag im Etat von mehreren Milliarden.
Die FDP-Minister glaubten schon, sie hätten gegen die von der CDU propagierte »Wahrung des sozialen Besitzstandes« einen Sieg errungen, als es bei der Formulierung des Kommuniqués erneut Schwierigkeiten gab.
Um vor dem eigenen Lager bestehen zu können, verlangte Erhard, die FDP -Minister müßten dem Satz zustimmen: »Es bestand Einvernehmen..., daß, wenn diese beiden Maßnahmen (Ausgabekürzungen und Einnahmeverbesserungen durch Abbau von Steuervergünstigungen) zur Schließung verbleibender Lücken nicht ausreichen, Steuererhöhungen in Betracht gezogen werden müssen.«
Arbeitsminister Katzer riet von einem Kommuniqué ab: »Ich bin dagegen. In jedem Fall muß doch einer Haare lassen, entweder die FDP oder wir. Wenn Sie diesen Satz von der FDP verlangen, Herr Bundeskanzler, ist die Koalition morgen geplatzt.«
Darauf Erhard, der die Faust der eigenen Parteifreunde im Nacken fühlte: »Wenn dieses Kommuniqué nicht herauskommt, ist die Koalition heute geplatzt.«
FDP-Vizekanzler Mende und FDP -Finanzminister Dahlgrün waren bereit, Erhards Satz zu akzeptieren; FDP-Entwicklungsminister Scheel war zu einer Unesco-Tagung nach Paris gereist; das vierte FDP-Kabinettsmitglied, Wohnungsbauminister Bucher, opponierte jedoch hartnäckig.
Daraufhin schlug Außenminister Schröder einen kosmetischen Kunstgriff vor. Man könne doch in das Kommuniqué das Wörtchen »erst« einfügen: »Es bestand Einvernehmen..., daß, erst wenn diese beiden Maßnahmen...« Als die Verlautbarung so im Sinne der FDP entschärft war, befand Erhard bekümmert: »Nun bin ich zu 80 Prozent unterlegen.«
Die drei anwesenden FDP-Minister waren zufrieden. Alle drei - nun auch Ewald Bucher - stimmten dem Kommuniqué zu Bucher: »Wir waren ganz stolz auf das, was wir durchgesetzt hatten.«
Es war aber nicht das, was sie hatten durchsetzen sollen. Noch während der Kabinettssitzung am Mittwoch waren die FDP-Minister von ihren Fraktionseinpeitschern Hans-Dietrich Genscher und Siegfried Zoglmann telephonisch und brieflich immer wieder gewarnt worden, in jedem Fall müsse das Kommuniqué den Satz enthalten, daß die Freien Demokraten »Steuererhöhungen zur Zeit nicht für nötig« hielten.
Als die Nachrichten über den Umfall der FDP-Minister ruchbar wurden, gab es daher in der Partei einen Aufstand. Im Düsseldorfer Altstadtlokal. »Zum alten Hafen« bewirtete Minister Willi Weyer gerade Gäste, als ihn die Nachricht erreichte. Unwirsch fegte er Eisbein und Bommerlunder beiseite und stürzte zum Telephon: »Das ist unerhört. Ich muß sofort den Erich anrufen.«
Allen Liberalen war klar, daß die FDP nun wieder mit dem Makel der Kapitulation behaftet war. Thomas Dehler sprach von einem »Dokument der Erniedrigung«.
Unter dem Eindruck der vernichtenden Schlagzeilen in den Morgenzeitungen versammelte sich der FDP-Fraktionsvorstand am Donnerstag um 9.00 Uhr zum Scherbengericht über seine Kabinettsmitglieder.
Der inzwischen heimgekehrte Entwicklungshelfer Scheel trat sogleich die Flucht nach vorn an: »Ich hätte diesem Kompromiß nie zugestimmt, ich trete zurück.«
Mende fiel nun zum zweitenmal um: »Selbstverständlich schließen wir anderen uns dem Kollegen Scheel an.« Dem Parteichef war in diesem Moment klar, daß er anderenfalls als Vorsitzender abgewählt werden würde:
Kurz nach 11 Uhr hörte die ganze FDP-Fraktion erleichtert die Kunde, daß die Koalition mit Erhard beendet sei.
In Barzels Chefzimmer tagten in dieser Stunde gerade die obersten Spitzen der Christdemokraten. In diese Runde platzte der Pressereferent der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, Dr. Eduard Ackermann, und berichtete, was er auf dem Korridor aufgeschnappt hatte: »Die FDP-Minister treten zurück.«
Die führenden Männer der Union reagierten unterschiedlich. Die einen ließen die Köpfe hängen, die anderen konnten ihre Genugtuung kaum verhehlen, daß sich die Koalitionsspannung so radikal gelöst hatte und der Weg zur. Ablösung des Unglückskanzlers freigeschaufelt schien. Franz-Josef Strauß gestand auf die Frage, was er in diesem Augenblick empfand: »Endlich.« Um die Hiobsbotschaft persönlich überbringen zu können, ließ Mende den Kanzler um 12.24 Uhr telephonisch um eine Unterredung bitten. Der Kanzler ging in sein Bundeshaus-Büro, um seinen bisherigen Vize-Kanzler zu empfangen. Unter vier Augen bedauerten sie das Scheitern ihrer Ehe. Mende: »Es tut mir leid, daß es zu dieser Zuspitzung kommen mußte.«
Tief deprimiert, aber voller Einsicht, sagte Erhard nach seinem Gespräch mit Mende zu einem Vertrauten: »Nun weiß ich, daß mein Kopf weg ist.«
Lachend war an diesem Donnerstag zum erstenmal nach vielen Tagen CDUPatriarch-Konrad Adenauer aus seinem Altenteil-Büro im Bundeshaus zur Sitzung des Fraktionsvorstandes gekommen. Doch schon einen Tag später war er von der Bonner Szene wieder verschwunden: Mit einer fiebrigen Grippe, die den alten Herrn jedes Jahr im Herbst anfällt, mußte der 90jährige ins Bett. Am späten Freitag hatte er 39 Grad Fieber.
Verbiestert, einen Aktendeckel unter dem Arm, gefolgt von Mende und Bundespressechef von Hase, eingekreist von Journalisten, stapfte Erhard am Donnerstag durch die verschlungenen Korridore des Bundeshauses.
Er verlor den Weg. Hase faßte ihn am Arm: »Wo wollen Sie denn hin, Herr Bundeskanzler?« Erhard: »Ich will zu Barzel.« Unversehens stand man vor dem Amtszimmer des CSU-Chefs Strauß. Mende versuchte einen matten Scherz: »Hier wollen wir nicht hin - noch nicht.«
Von dort war es nur noch ein kurzer Weg zum CDU/CSU-Fraktionschef. Bei Barzel gab es Linsensuppe mit Speckscheiben aus dem Bundestags-Restaurant. Mende verzichtete dankend auf das Linsengericht und zog ab. Während die Vorstandsherren der Christenfraktion noch ihre Suppe auslöffelten, ließ sich Erhard, von den Parteifreunden angestachelt, die Geschäftsordnung der Bundesregierung bringen. Er blätterte, um seine Rache an der FDP zu stillen. Die anwesenden Christdemokraten hatten ihn aufgehetzt: Die FDP-Minister müßten sofort ihre Schreibtische räumen, Bundespräsident Heinrich Lübke dürfe sie nicht mit der Wahrung der Geschäfte beauftragen, bis neue Minister ernannt seien.
Auf den Vorschlag, die vakanten Stellen mit Christdemokraten neu zu besetzen, ging Erhard nicht ein. Er verfügte, daß die verwaisten Ressorts von amtierenden CDU-Ministern erst einmal mitverwaltet werden sollten. Vielleicht werde die FDP ja nach den bayrischen Landtagswahlen am 20. November wieder in die Koalition zurückkehren.
Der Kanzler war mit solchen Erwägungen nicht allein. Auch andere, die sich nun schon als mögliche Nachfolger sahen, wollten den Streit mit der FDP nicht übertreiben. Vor allem Außenminister Schröder, der als Kanzler unbedingt die Kleine Koalition fortsetzen möchte, bemühte sich, eine Erklärung des CDU / CSU-Fraktionsvorstandes zum Zerfall der Koalition zu entschärfen.
Wie Schröder, so dachte auch Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier: »Wer auch immer diese Sache weitermachen will, muß Alternativen haben. Deshalb dürfen wir die Tür zur FDP nicht vollständig zuschlagen.«
Die beiden Protestanten Schröder und Gerstenmaier sprachen sich zwischendurch in einer Fensternische vertraulich über die Lage aus. Sie stellten dabei fest, daß sie, was die Haushaltsprobleme angeht, weitgehend übereinstimmten und die Haltung der FDP gegenüber den Ansprüchen des, linken katholischen CDU-Flügels für ganz vernünftig hielten. Gerstenmaier erläuterte seine Auffassung, daß man den Gefälligkeitsstaat bremsen müsse. Schröder pflichtete bei: »Das Übermaß der sozialen Verpflichtungen muß im Interesse der Wirtschaft abgebaut werden, aber das versteht von den Brüdern in unserer Fraktion ja kaum jemand.«
Dabei hatten diese beiden jetzt einigen Kanzlerkandidaten der CDU in den Krisentagen ein völlig unterschiedliches Verhalten an den Tag gelegt. Eugen Gerstenmaier ließ in der Haltung des unbeteiligten Zuschauers die Ereignisse vorübergehen und rührte keinen Finger; unmittelbar nach dem Koalitionsende machte er sich daran, einen Vortrag zum Reformationsfest über das Thema »Das Ende der Lutherschen Amtskirche« zu Papier zu bringen.
Schröder indes war aktiv gewesen. Während der Fraktionssitzungen ging der Außenminister durch die Reihen und trieb Volksaufklärung: »Hier wird ein doppeltes Spiel gespielt; hier wird intrigiert.«
Schröders Flüsterpropaganda zielte auf die Ambitionen eines dritten CDU -Kanzlerkandidaten - Rainer Barzel. Zu diesem Zweck wies der Außenminister im Fraktionsvorstand auch eigens auf Presseveröffentlichungen hin, in denen die Behauptung von einem Komplott zwischen Barzel und Strauß zum Zweck des Kanzlersturzes aufgestellt wurde.
Ein solches Komplott bestand und besteht - aber es umfaßt nicht nur Barzel und Strauß. Alle führenden Männer der Christenunion von CDU-Adenauer
bis CSU-Zimmermann sind sich schon seit Wochen darin einig, daß Erhard weg muß (SPIEGEL 43/1966). Aber sie konnten sich nicht über Zeitpunkt und Methoden des Attentats und noch weniger darüber einig werden, wer an Erhards Stelle treten sollte. Selbst bis Ende letzter Woche konnten sich die seit Adenauers Weggang führungslosen Spitzenkräfte des ehristdemokratischen Wahlvereins noch zu keiner Entscheidung durchringen.
In dieser Situation war den Fraktionschefs Barzel und Strauß zwangsläufig die Initiative zugefallen. Aber sie ergriffen sie nur zögernd, wohlwissend, daß übergroße Aktivität ihre eigenen Chancen nur mindern konnte. Allerdings verhehlte Barzel nicht, daß er brennend gern Kanzler werden, Strauß nicht, daß er sich durch eine Rückkehr ins Kabinett rehabilitieren wolle.
Aber erst die totale Unfähigkeit Erhards, mit den Haushaltsproblemen und den außenpolitischen Schwierigkeiten fertigzuwerden, sowie der unaufhaltsame Abstieg der CDU/CSU in der Wählergunst unmittelbar vor den wichtigen Landtagswahlen in Hessen und Bayern zwangen sie zur Aktion.
Barzel und Strauß wurden dabei der-Ereignisse der letzten Woche nicht recht froh. Sie mußten den Kanzler mit seinem Selbstrettungsplan einer Minderheitsregierung gewähren lassen, obwohl sich jedermann darüber klar war, daß dieses Restkabinett nicht von langer, sondern nur von ganz kurzer Dauer sein kann. Barzel im engsten Führungskreis seiner Fraktion: »Es ist nicht sichtbar, in, welcher Form Erhard noch eine Mehrheit finden kann. Aber wir müssen die letzte Entscheidung über sein Schicksal dem Kanzler selbst überlassen.«
Strauß sagte dem Kanzler ins Gesicht: »Sie finden keine Mehrheit mehr, Sie sind am Ende.«
Erhard dagegen zeigte am Donnerstagabend schon wieder neuen Optimismus: »Es kann mir ja gar nichts passieren. Links und Rechts finden doch nicht zusammen.«
Und seinen Pressestaatssekretär von Hase ließ Erhard am selben Abend im deutschen Fernsehen verkünden, er werde sich sofort um Fortsetzung seiner Arbeit bemühen.
Kurz vorher hatten die FDP-Minister, deren Entlassung Bundespräsident Lübke inzwischen verfügt hatte, damit begonnen, in ihren Amtszimmern die Schreibtische auszuräumen. Anschließend brach Erich Mende mit seiner Schäferhündin Anka zu einem langen Waldspaziergang auf.
Ehefrau Margot, mitten in Vorbereitungen für Erichs 50. Geburtstag am nächsten Tag, erklärte Anrufern, die sich nach der Familienstimmung erkundigten: »So ein Sprung ins kalte Wasser soll ja abhärten. Nun wird uns der 50. Geburtstag in ständiger Erinnerung bleiben.«
Bevor letzten Freitagmorgen bei Mendes auf dem Godesberger Millionärshügel die große Feier für den Hausherrn begann, machte der abgedankte Vizekanzler gemeinsam mit seinen Leidensgenossen Abschiedsbesuche beim Bundespräsidenten und im Kanzleramt. Entwicklungsminister a. D. Scheel kam als Selbstfahrer im grauen Opel-Kapitän, alle anderen im Dienstwagen. Kaum hatte Scheel die in schwarzes Leder gebundene Entlassungsurkunde in Händen, da mußte er schon wieder nach Paris. Erhard hatte in gewohnter Inkonsequenz den Verabschiedeten gebeten, weiterhin als Vertreter von Außenminister Schröder an einer Unesco-Tagung teilzunehmen.
Der Kanzler benutzte die Gelegenheit darüber hinaus, seine ehemaligen Kabinettsmitarbeiter darauf hinzuweisen, daß er vorerst ihre Posten für eine Rückkehr noch offen halte. Erhard hoffte trotz allem, seine kleine Koalition mit der FDP nach den bayerischen Landtagswahlen am 20. November fortsetzen zu können.
Wenig später traf man sich schon wieder: auf Erich Mendes Geburtstagsparty. Die von Willi Weyer mobilisierte Kölner Polizeikapelle spielte auf der Terrasse den Fehrbelliner Reitermarsch und den Beethoven-Choral »Die Himmel rühmen«. Um Punkt 12.00 Uhr kam Minderheitskanzler Erhard mit dem bereits vor einigen Wochen zurückgetretenen, aber immer noch amtierenden Kanzleramts-Minister Ludger Westrick durch den Garten in Mendes Salon. Der Kanzler überreichte dem Nichtraucher Mende einen silbernen Zigarettenkasten mit eingraviertem Namenszug und sagte mitfühlend: »Ich hätte Ihnen einen schöneren Tag zum Geburtstag gewünscht.«
Dann stand Ludwig Erhard, wie immer bei derartigen Gelegenheiten, unbeholfen herum, umringt von neugierigen Fragern. In der Linken hielt er die Zigarre, in der Rechten das Sektglas.
Achtlos, wie mit der Macht, die ihm einst kampflos zugefallen war und die ihm nun entgleitet, ging er auch mit den beiden Wohlstandsattributen in seinen Händen um. Nach kurzer Zeit war sein grauer Anzug von Zigarrenasche bestäubt und von Sektspritzern angefeuchtet.
So wurde er gefragt, wie es denn nun mit ihm und seiner Regierung, wie es denn mit Deutschland weitergehen solle. Ludwig Erhard zuckte ratlos mit den Schultern.
* Die Brandt-Söhne Lars, 15, und Peter, 18,
haben Rollen in der von Hansjürgen Pohland gedrehten Graß-Verfilmung »Katz und Maus« übernommen.
Süddeutsche Zeitung
Einsturzgefahr
Zerstrittene Koalitionspartner Erhard, Mende
am 27. Oktober 1966: »Die Himmel rühmen«
Unterhändler Barzel, Blank:
»Rüde« oder »müde« gesagt?
FDP-Einpeitscher Genscher
Briefe ins Kabinett
FDP-Einpeitscher Zoglmann
Frontberichte ins Mikrophon
Groß-Mimen Lars und Peter Brandt
»Wo kommen wir bloß hin...
...wenn das Ritterkreuz geschändet wird?": Anti-FDP-Schlagzeilen am 27. Oktober 1966
Strauß-Gegner Schröder
»Hier wird ein doppeltes Spiel gespielt
Schröder-Gegner Strauß
...hier wird intrigiert«
Ausgeschiedene FDP-Minister bei Lübke*: Wird Bonn doch Weimar?
* Von links: Bucher, Mende, Lübke, Scheel,
Dahlgrün.