POLITIKER Ende einer Flucht
Der Platz heißt Pariser Platz, aber er hat mit Paris so viel Ähnlichkeit wie der Kahle Asten mit dem Kilimandscharo. Von zwei Seiten dröhnen Hauptstraßen, an den beiden anderen türmen sich Mietskasernen aus den fünfziger Jahren. Am Boden schwebt Geröllstaub, aus den Lautsprechern säuseln die Flippers. Auf einer Bank raufen drei Penner.
Es ist kurz vor halb sieben am Abend. Knapp 50 Sozialdemokraten sitzen auf Bierbänken oder lehnen an der Würstchenbude. Die Herren tragen dunkle Schuhe und Tennissocken, die Damen Gesundheitssandalen. Sie warten auf ihren großen Helden.
»Er war immer für das arme Volk da«, sagt Wilma Stoffel. Ihre kleinen grünen Augen weiten sich. Sie ist 73 und nur seinetwegen auf den Pariser Platz von Saarbrücken-Malstatt gekommen. Wie alle hier.
Plötzlich steht er mitten unter ihnen. Der Held trägt braune Schuhe, beige Hose, Sommerhemd, die oberen drei Knöpfe offen. Oskar Lafontaine hält einen Plastikbecher mit Bier in der Hand. Er ist gut gebräunt, er lacht, küsst, klopft Schultern. Der DJ spielt den »Ententanz«.
Auf dem Platz parkt ein blauer Kleinlaster. »Maurerarbeiten, Altbausanierung, Bautrockenlegung« steht auf der Fahrertür. Lafontaine klettert eine Leiter hinauf. Dann steht er auf der Ladefläche des Kleinlasters. Es ist Dauerwahlkampf im Saarland. Jetzt, nach den Kommunal- und Europawahlen, geht es am 5. September um die Landtagsmandate.
Sein Kopf glüht in der Abendsonne. »Ich habe extra schönes Wetter mitgebracht. Ich hoffe, das Wetter gefällt Ihnen«, sagt Lafontaine ins Mikrofon. Die Penner bespritzen sich mit Bier.
Er schimpft über Merkel, Westerwelle, Vodafone, den Neoliberalismus, Herrn Ackermann und die Kopfpauschale. Aber nicht mehr über die Bundesregierung. Er kämpft für die SPD, als wäre er Franz Müntefering. Er redet, als wollte er sich mit seiner Partei versöhnen - und ein bisschen auch mit Gerhard Schröder.
Vom Kleinlaster herab lobt Lafontaine den Kanzler: »Dass er im Sicherheitsrat nicht bereit war, den Vereinigten Staaten eine Blankoscheck für diesen verlogenen Krieg auszustellen, ist eine historische Leistung, die anerkannt werden muss.«
Ist das wirklich Oskar Lafontaine? Jener verbiesterte Mann, der seit seiner Flucht vor Schröder im Frühjahr 1999 überall erzählte, dieser Kerl mache die SPD kaputt? In Büchern, in Talkshows, in seiner »Bild«-Kolumne, bei Vorträgen.
»Das hier«, sagt Ralf Latz und zeigt über den staubigen Platz, »das ist ein Stück sozialdemokratische Heimat für den Oskar.« Latz ist Lokalpolitiker in Saarbrücken und seit vielen Jahren mit Lafontaine befreundet. Seinetwegen steht Lafontaine jetzt oben auf dem Kleinlaster.
Und die Gerüchte, Lafontaine könne seine eigene Linkspartei aufmachen? »Alles Kappes«, sagt Latz. »Der Oskar ist Sozialdemokrat, er wird es bleiben. Er liebt diese Partei. Trotz allem.«
Nachdem er ewig langen Applaus geatmet, nachdem er fast jede Frau auf dem Platz geküsst und jeden Mann fest am Unterarm gedrückt hat, steht Lafontaine hinter der Bierbude. »Ich bin erleichtert, dass der Müntefering jetzt versucht, den Kurs wieder zu halten«, sagt Lafontaine.
Die SPD bewegt sich wieder auf ihn, den Linken, zu. Und er kommt ihr entgegen.
Am nächsten Sonntag wird er Müntefering sogar persönlich treffen, auf dem Landesparteitag der Saar-SPD. Es wird die erste Begegnung mit einem aus der Parteispitze sein, seit diese Lafontaine zum Aussätzigen erklärt hat. Das erste Mal seit fünf Jahren. Der saarländische Spitzenkandidat Heiko Maas hat sich in vielen Gesprächen um eine Befriedung des Verhältnisses bemüht. Auch der Kanzler soll eingeweiht sein. Maas hofft auf einen historischen Händedruck, er hofft auf Bilder der Aussöhnung.
Bis dahin genießt Lafontaine weiter sein Comeback als Wahlkämpfer für die SPD. Er fährt hinaus nach Namborn-Furschweiler. Die Genossen haben die schrumpelige Turnhalle der Grundschule hübsch gemacht. Sie haben sechs rote SPD-Papierfähnchen mit Tesafilm an die weiße Wand geheftet und rote Rosen auf den Tischen verteilt. Als Lafontaine in die Halle einzieht, blasen sich die Rentner von der »Stammtisch-Kapelle« des Musikvereins Hirstein die Lunge aus dem Leib. Lafontaine greift sich den Taktstock, schwingt ihn wild durch die Luft und schielt lachend über die Schulter zu den Genossen hinter ihm in der Turnhalle.
Es sind wieder nur 50 ältere Menschen, aber sie feiern ihn so laut wie ein halbes Fußballstadion. Lafontaine steigt hinter das Rednerpult. Über ihm baumelt eine vergilbte SPD-Fahne vom Basketballkorb. Es scheint ihm nichts auszumachen, dass die Umgebung an eine Garagenparty fürs Seniorenheim erinnert.
Als Lafontaine fertig ist und die Stammtisch-Kapelle losbläst, springt Herta Klein auf. Sie rennt auf ihn zu. Sie ist 80 Jahre alt und seit 42 Jahren Sozialdemokratin. Sie hat geweint, als Lafontaine vor fünf Jahren zum Privatmann wurde. Sie umarmt ihn und sagt: »Du bist der Größte, Oskar. Schön, dass du wieder bei uns bist.«
MARKUS FELDENKIRCHEN, HORAND KNAUP