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PORTUGAL / VERHAFTUNGEN Ende einer Illusion

aus DER SPIEGEL 22/1970

Im Haus des Lissabonner Rechtsanwalts Dr. Mário Soares gaben kürzlich Unbekannte ein Paket ab. Es enthielt eine Patrone. »Dies«, las Soares-Ehefrau Maria auf dem beigefügten Zettel, »ist eine der zwölf Kugeln, die für Ihren Mann bestimmt sind.«

Zur gleichen Zeit, da unbekannte Feinde dem Advokaten nach dem Leben trachten, will sein bekanntester Gegner ihm die Freiheit rauben: Anfang Mai ordnete Portugals Regierungschef Marcello Caetano ein Strafverfahren gegen Soares an, das ihn für acht bis zwölf Jahre ins Gefängnis bringen kann.

Grund der Drohung mit Patrone und Prozeß: Soares, Führer der im Einparteien-Staat Portugal verbotenen sozialdemokratischen Opposition, hat während einer Auslandsreise Caetanos Politik kritisiert. Wegen »Verbreitung falscher Nachrichten, die das Ansehen des Landes gefährden« und »Bedrohung der territorialen Integrität des portugiesischen Staates« soll er nun, falls er nach Portugal zurückkehrt, vor Gericht gestellt werden.

Sozialdemokrat Soares ist das bislang prominenteste Opfer einer »wachsenden Welle der Unterdrückung«, die, so 35 führende protugiesische Intellektuelle in einem Protestbrief an Caetano, »alle ergreift, welche frei ihre Meinung äußern wollen«.

Allein seit April dieses Jahres verhaftete Caetanos politische Polizei rund 40 Kritiker des Regimes: Rechtsanwälte, Professoren, Studenten, Gewerkschaftler und Priester -- darunter auch den erst im letzten Jahr aus dem Exil zurückgekehrten Pater José da Felicidade Alves, der 1968 wegen progressiver Ansichten vom Priesteramt suspendiert worden war.

»Wir erleben«, kommentierte ein junger Wissenschaftler an der Universität von Lissabon die jüngsten Verhaftungen, »das Ende einer Illusion.«

Die Illusion hatte begonnen, als vor anderthalb Jahren Marcello Caetano den siechen Diktator António de Oliveira Salazar ablöste. Kaum im Amt, gestattete damals der neue Mann in Lissabons Sao-Bento-Palast dem von Salazar deportierten Mário Soares die Heimkehr aus der Verbannung auf der westafrikanischen Insel Sao Tomé.

Caetano versprach der Nation »gegenseitige Toleranz« und ein »Klima ohne Haß, ... das ein normales Zusammenleben von Leuten mit verschiedenen Meinungen erlaubt.« In vielen regte sich, so die liberale Lissabonner Tageszeitung »A Capital«, nach vier Jahrzehnten politischer Friedhofstille »eine Hoffnung, die mehr als nur passive Erwartung oder Neugier ist«.

Die erste Enttäuschung kam schon bald: Bei den Wahlen zur Nationalversammlung Im vergangenen Oktober konnten zwar erstmals portugiesische Bürger für Politiker stimmen, die In Opposition zum Regime standen. Doch wieviel Opposition erlaubt war, bestimmte die Regierung -- alle Kandidatenlisten mußten von ihr genehmigt werden, Die Wahlkommissionen, in denen oppositionelle Politiker sich zusammenschlossen, wurden gleich nach dem Votum wieder aufgelöst. Vier Ex-Kandidaten sitzen heute aus politischen Gründen im Gefängnis.

Seither schmolz die Hoffnung auf wirklichen Wandel von Monat zu Monat zusammen. Denn immer deutlicher zeigte sich, daß der Nachfolger des Diktators das System nicht ändern, sondern allenfalls retuschieren will.

So löste er zum Beispiel die 1945 mit Hilfe einstiger Gestapo-Agenten geschaffene Staatspolizei »Pide« auf. Gleichzeitig aber schuf er eine »Generaldirektion für Sicherheit«, die alle Dossiers und das wegen seiner Brutalität berüchtigte »Pide«-Personal übernahm. Wie einst die »Pide«, darf auch die neue Polizei Untersuchungshäftlinge bis zu sechs Monate lang einsitzen lassen, ohne daß sie einem Richter vorgeführt werden müßten.

Einziger Unterschied zu früher: Die Polizei untersteht nicht mehr dem Ministerpräsidenten, sondern dem Innenminister. Der aber -- António Goncalves Rapazote -- Ist der Rechtsaußen in Caetanos Kabinett.

Wie Altdiktator Salazar ließ Caetano keine neuen politischen Parteien zu. Statt dessen polierte er die von seinem Vorgänger begründete Staatsbewegung

»Nationale Union« (Salazar: »Die Partei für jene, welche keine Parteien mehr wollen") auf.

Im vergangenen Februar taufte er sie um in »Nationale Volksaktion«, ließ sich selbst zum Präsidenten und Salazar zum Ehrenpräsidenten wählen. Die Grundprinzipien der neuen Bewegung entlieh er der alten: Verteidigung von Vaterland, Familie und Privateigentum, Verachtung des Parteienstaates -- das sind einst wie jetzt die Leitideen der einzigen in Portugal erlaubten politischen Vereinigung.

Einst wie jetzt wachen Zensoren darüber, daß nichts veröffentlicht wird, was diese Werte in Frage stellt. Die Pressezensur, während des vierwöchigen Wahlkampfes im Oktober vorübergehend großzügiger gehandhabt als früher, ist jetzt lästiger als je.

Denn vor einem Vierteljahr entdeckte Caetanos Innenminister einen »Feldzug der moralischen Verderbnis ... der besonders an die Jugend gerichtet ist« und wies die zuständigen Behörden zu »größter Wachsamkeit« an. Seither schaffen die überlasteten Zensoren -- vornehmlich pensionierte Militärs -- kaum noch ihr Lesepensum. Oft müssen Zeitungen acht oder 14 Tage auf die Freigabe warten.

Unerbittlich wie Salazar verfolgt Caetano jeden, der Portugals Anrecht auf die »Überseeprovinzen« Guinea« Angola und Mocambique bestreitet. In diesen Kolonien liefern schwarze Guerrilleros den Kolonialherren seit neun Jahren einen zähen Kleinkampf.

»Der Krieg«, erklärte der Generalstabschef des portugiesischen Heeres, »wird so lange dauern, bis unsere Feinde nachgeben, denn wir sind in Afrika zu Hause, und wir werden hier auch zu Hause bleiben.«

In Portugals Universitäten aber wird seit Wochen der Protest gegen den Krieg immer lauter. Studenten formieren sich in »antikolonialen Komitees« und halten Teach-ins ab. Vor drei Wochen schossen in Coimbra Polizisten bei einem Tumult zwischen zwei feindlichen Studentengruppen einen jungen Mann nieder.

Daraufhin schlossen die portugiesischen Behörden bis zum Ende des Semesters alle Universitäten im Land.

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