ISLAMISTEN Ende unter Trümmern
Aus den Häuserruinen im Flüchtlingslager quoll Rauch, als die islamistischen Kämpfer einen letzten Ausbruchversuch wagten. Über dem Camp Nahr al-Barid im Norden des Libanon lag noch die Morgendämmerung, doch die Armee des Levantestaates, die das Gebiet weiträumig abgesperrt hatte, war auf dem Posten: Der Vorstoß endete in Maschinengewehrsalven des Militärs. Nur zehn der verbliebenen Kämpfer der Islamistentruppe Fatah al-Islam konnten entkommen, wohl durch einen unterirdischen Gang. Im Schlachtfeld an der Mittelmeerküste barg die Armee nach eigenen Angaben 222 Leichen von Untergrundkämpfern, 163 Soldaten der Regierungstruppen seien bei den Kämpfen gefallen. Und mehr als 200 mutmaßliche Kämpfer sitzen seit jenen Septembertagen 2007 in den Gefängnissen.
Unter den Festgenommenen befindet sich auch ein junger Mann, der nicht in das Profil eines mit sunnitischem Glauben erfüllten arabischen Freischärlers zu passen scheint: Sinasi A., 25, ein Deutscher türkischer Abstammung. Laut libanesischen Behörden soll er an vorderster Front in der Schlacht um Nahr al-Barid gekämpft haben.
Das Schicksal des jungen Mannes aus Goslar könnte sich für die Bundesregierung zu einem jener diplomatischen Krisenfälle entwickeln, bei denen es um Leben oder Tod geht. Denn die libanesischen Behörden werfen Sinasi A. mehrfachen Mord, Mordversuch sowie die Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung Fatah al-Islam (FI) und das Schüren innerer Unruhe vor. Er selbst sagt, er sei in der Haft gefoltert worden. Mögliches Urteil im Falle eines Schuldspruchs: die Todesstrafe. Derzeit wartet der Mann, der im Beiruter Gefängnis von der deutschen Botschaft betreut wird, auf seinen Prozess, in dem es auch um seine Vergangenheit in Deutschland gehen wird.
Aus dem heimischen Goslar war Sinasi im Sommer 2006 verschwunden. Das Haus der Familie A. liegt im Stadtteil Oker, es ist ein Industriegebiet mit gewöhnlichen Reihenhäusern. Im Wohnzimmer hängen drei in Holz gerahmte Koranverse an der Wand, auf dem Sofa sitzt seine Mutter Leyla, die über ihren Sohn spricht. »Sinasi hat immer davon geredet, dass er ins Ausland wollte, um Arbeit zu finden«, sagt die Türkin. Nach der Schule hatte ihr Sohn eine Lehre als Dreher in einer Werkstatt absolviert, doch dauerhafte Beschäftigung fand er nicht. Mehrere Umschulungen lösten sich mit Arbeitslosigkeit ab, zum Schluss bildete er sich zum Computerfachmann weiter. »Er schrieb Hunderte Bewerbungen«, erzählt seine Mutter, »aber keine einzige brachte etwas.«
Dann war Sinasi plötzlich weg. Die kleine Zweizimmerwohnung, in die er zwischenzeitlich gezogen war, hatte er in aller Stille verlassen. Die Mutter erfuhr erst davon, als sich der Vermieter Wochen später bei ihr beschwerte. Sie dachte, ihr Sohn sei in die Türkei gegangen, »da haben wir ja viele Verwandte«.
Sinasi war Muslim, und er ging in Goslar in die Moschee, aber ein Fanatiker? »Mein Sohn ist nicht radikal«, glaubt Leyla A. Aber womöglich hat sie einfach übersehen, wie ihr Sinasi sich allmählich veränderte. Vielleicht ist er ein Musterbeispiel für die Entwicklung eines Jugendlichen, der nach außen ein unauffälliges, unspektakuläres Leben führte, sich aber unbemerkt von der eigenen Familie radikalisierte.
Als Sinasi sich wieder meldete und am Telefon von der Suche nach Arbeit berichtete, war Leyla A. erleichtert: Ein Gerücht, Sinasi habe sich in die Luft gesprengt, konnte also nicht stimmen. Das Telefongespräch war der letzte Kontakt zur Mutter. Erst später fiel ihr auf, dass Sinasi nie sagte, wo er eigentlich gerade war.
Einiges spricht dafür, dass der junge Deutsche sich auf den Weg in den Irak gemacht hatte. Die libanesischen Behörden, die A. immer wieder verhört haben, vermuten, dass Sinasi zeitweilig in Haditha untergetaucht war, einer Stadt nordwestlich von Bagdad. Angeblich habe er sich dort einer Qaida-nahen Gruppe angeschlossen, gemeinsam mit drei weiteren Rekruten. Bewiesen ist das nicht, aber Sinasi A. wäre dann einer jener Gefährder, vor denen das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verfassungsschutz seit langem warnen.
In einer vertraulichen Analyse haben die beiden Behörden 80 Personen aus Deutschland identifiziert, die in den vergangenen Jahren in den Irak reisten, um sich dem Dschihad anzuschließen. 45 von ihnen exportierten den Krieg aus dem Irak in andere
Staaten. Stimmen die Vorwürfe der Libanesen, dann ist Sinasi A. über Syrien in den Libanon gezogen, wo er wohl bei der FI landete.
Die FI ist eines jener Derivate von Osama Bin Ladens Qaida, die es mittlerweile in fast allen nordafrikanischen und arabischen Ländern gibt. Gegründet wurde die Gruppe von einem Palästinenser namens Schakir al-Absi, den seine Anhänger Scheich nennen und nach dem die Vereinigten Staaten wegen seiner Beteiligung an der Ermordung eines amerikanischen Diplomaten in Jordanien fahndeten. Seit sich der ehemalige Kampfpilot im Frühjahr 2007 öffentlich zur Ideologie Osama Bin Ladens bekannte, gilt die FI als Statthalterin der Qaida im Libanon, im Norden des Landes proklamierte Absi ein islamisches Emirat.
Die wortgewaltige PR zeigte alsbald Wirkung: Junge Kämpfer aus aller Welt schlossen sich der FI an, selbst aus Ländern wie Dänemark stammen die Freiwilligen. Mehrere hundert Mitglieder soll die Gruppe vor dem Kampf um Nahr al-Barid gehabt haben. Als Hauptquartier hatte Absi das Flüchtlingslager nahe der Mittelmeerstadt Tripoli auserkoren, das einst gebaut wurde, um den endlosen Strom von palästinensischen Flüchtlingen aufzufangen. Bis zu 40 000 Menschen hausten hier dicht gedrängt. Von dort aus attackierten die illegalen Kämpfer die libanesische Armee.
Die Krise begann mit einem Banküberfall mutmaßlicher FI-Mitglieder im Mai 2007. Weil die Soldaten die Flüchtlingslager nicht betreten dürfen, bezogen Panzer Stellung auf den nahegelegenen Hügeln. Die Militärs beschossen das Quartier, die FI reagierte mit Panzerabwehrraketen. Aus den Scharmützeln entwickelte sich ein dreimonatiger Bürgerkrieg, der das Land einmal mehr erschütterte. Zu den Toten dieser Auseinandersetzung gehört auch ein Bruder des »Kofferbombers von Köln« Youssef al-Hajdib, der in Tripoli aufwuchs.
Glaubt man der Darstellung libanesischer Ermittler, die mittlerweile auch mehrere Zeugen vernommen haben, dann hat Sinasi A. in diesem Krieg an zentraler Stelle gekämpft, nachdem er im Frühjahr im Libanon eingetroffen war. Die ersten zwei Monate verbrachte er angeblich in einem Gästehaus der FI in der Nähe des sogenannten Chan-Viertels, das für Neuankömmlinge der FI in Nahr al-Barid reserviert war. Von dort aus wurden die Freiwilligen verteilt. Später soll er in ein eigenes Heim umgezogen sein, das zugleich als Munitionslager diente.
Der libanesische Geheimdienst geht davon aus, dass der Deutsche zu jenem Kommando gehörte, das am 20. Mai, nach dem Banküberfall in Tripoli, die Armee beschoss. Sinasi A. soll als Heckenschütze, später auch mit Panzerfäusten eingesetzt worden sein. Er habe eine Gruppe von fünf Männern angeführt, die aus einem Präzisionsschützen, einem Kämpfer mit einer Panzerfaust, zwei Aktivisten mit Kalaschnikows und einem Munitionsträger bestanden habe. Todesmutig sei Sinasi A. auf einem Motorrad durch Nahr al-Barid gerast und habe die Stellungen der Militärs beschossen. Die libanesischen Behörden beschreiben ihn als einen »sehr religiösen, sehr harten Kämpfer«.
Es muss in den letzten August- oder ersten Septembertagen gewesen sein, als das Militär Sinasi A. in einem eingestürzten Gebäude in der Tauniji-Straße unter Trümmern fand, verletzt und mit wenig Hoffnung. Wochenlang befragte ihn der Geheimdienst, im Oktober wurde er in das berüchtigte Gefängnis Rumi im Norden Beiruts verlegt, das Terrorverdächtigen und Staatsfeinden vorbehalten ist.
Als Leyla A. ihn dort an einem Mittwoch Mitte Dezember besuchte, erkannte sie ihren Sohn kaum wieder. Abgemagert, mit leerem Blick und tiefen Augenhöhlen saß Sinasi ihr gegenüber, Arme und Gesicht übersät von Narben. Der Geheimdienst habe ihn gefoltert, habe Sinasi ihr gesagt, erinnert sich Leyla A. Es wäre nicht das erste Mal, dass der libanesische Geheimdienst Häftlinge misshandelt. Einem Beamten des Bundeskriminalamts, der im Libanon zusammen mit dem Militärgeheimdienst ermittelte, fiel schon vor Jahren auf, dass ein Verdächtiger nach einem Verhör grün und blau geprügelt erschien.
Sinasi A.s frühe Vernehmungen beim Nachrichtendienst fanden anfangs ohne Anwalt oder Konsularbeamte statt; in dieser Zeit soll er seine Beteiligung an dem Aufstand gestanden haben. In den Ermittlungsakten ist auch die Rede von zwei Geheimdienstagenten, die der Deutsche ermordet habe. Seiner Mutter sagte Sinasi dagegen, er habe »niemanden umgebracht, ich wollte hier nur eine Frau finden«. Erst am 12. Oktober, beim Untersuchungsrichter, wurde ein Vertreter der deutschen Botschaft vorgelassen. Seitdem haben sich die Haftbedingungen deutlich verbessert.
Im Gefängnis lernte Sinasi A. auch einen weiteren Mann aus Deutschland kennen, der wie er im Verdacht steht, der FI anzugehören: Fayez A., 42, ein Deutsch-Libanese aus Koblenz, der vor drei Jahren mit seiner Frau und drei Kindern zurück in den Libanon zog. Fayez A. sitzt bereits seit Mai in Rumi, die Ermittler werfen ihm vor, Anlagen des Militärs ausgespäht und Anschläge geplant zu haben.
Dreimal besuchten ihn deutsche Diplomaten bislang im Gefängnis, zuletzt am 5. November. Gegenüber seinem Anwalt klagte er ebenfalls über Folter durch den Geheimdienst. Der Fall von Fayez A. wird demnächst vor Gericht verhandelt, ihm drohen bis zu fünf Jahre Haft. Vor einem Richter hat A. zugegeben, als Kurier für die FI zwischen Syrien und dem Libanon gependelt zu sein, den terroristischen Charakter der Gruppe will er allerdings nicht gekannt haben.
Die beiden Deutschen haben sich mittlerweile angefreundet, Fayez übersetzt für Sinasi, der kein Arabisch spricht. Auf einen Rechtsanwalt hat der junge Mann aus Goslar bislang verzichtet. Sein Schicksal, hat er gesagt, liege allein »in Allahs Hand«. Nur der könne gerecht über ihn urteilen.
MATTHIAS GEBAUER, HOLGER STARK