FRANKREICH / MALRAUX Endlich ein Mann
Galliens glitzernder Geist und geistvollster Gaullist will seine Ruhe: Andre Malraux, 64, seit dem Tode Gides, einer der bedeutendsten französischen Literaten, Verfasser von mehr als 100 Essays, Romanen und kulturgeschichtlichen Analysen, Goncourt-Preisträger und Universal-Grübler, Intimfreund und Kulturminister de Gaulles, gedenkt dem Staatsdienst zu entsagen. Er will sein literarisches Werk vollenden.
Zwar dementierte sein Kabinettschef alle Gerüchte, daß der Minister dem General bereits im Juni den Abschied eingereicht habe. Aber einer weiteren Regierung de Gaulles - nach der März -Wahl 1967 - wird der seit langem kranke Kulturmann nicht mehr angehören. Beim Unfall-Tod seiner beiden Söhne 1961 erlitt Malraux einen Nervenschock, von dem er sich nicht erholte. (Zwei Brüder kamen im Krieg ums Leben, seine zweite Frau starb bei einem Zugunglück.)
Der Staatschef schonte ihn schon. Während sich alle anderen Minister auf allerhöchsten Befehl für die März-Wahl zur Nationalversammlung einen Wahlkreis suchen mußten (bisher waren nur 17 von 28 Kabinettsmitgliedern auch Abgeordnete), wurde ein solches Ansinnen an Malraux nicht gestellt.
Er wäre vielleicht gefolgt. Denn: »Was immer de Gaulle von mir verlangt, ich bin bereit«, gelobte er einmal. Aber de Gaulle verlangte diesmal nichts. Der atheistische Philosoph Malraux steht dem Herzen des katholischen Generals de Gaulle näher als irgendwer von den Größen der Fünften Republik, näher selbst als Premier Pompidou, Elysee-Generalsekretär Burin des Roziers und Kabinettschef Galichon.
Niemand weiß, auf welchen Wellenlängen die beiden sich austauschen. Am ehesten verbindet sie der gemeinsame Hang zum Mystischen, das Schweifen zu erdfernen Horizonten, vermischt mit der Gabe, die Vorteile dieser Welt zu erkennen und nutzbar zu machen - nicht für sich selbst, sondern für Frankreich.
1944, als der heimgekehrte Resistance -Führer de Gaulle dem Résistance-Unterführer Malraux zum erstenmal begegnete, bekannte der General - in bewußter Anlehnung an die Worte Napoleons nach seiner Zusammenkunft mit Goethe -: »Endlich habe ich einen Mann gesehen.« Malraux sagt über den General: »De Gaulle - das ist ein Cézanne, eine feste geometrische Figur. Er überrascht und überzeugt mich immer.« Und de Gaulle wiederum nennt Malraux »den Karl Marx des 20. Jahrhunderts«.
Wenn dieser Karl Marx seinen Amtssitz im rechten Flügel des Pariser Palais Royal, dem einstigen Sitz des Kardinals Richelieu, räumt, verliert Frankreich seinen aktivsten Kultur-Administrator und de Gaulle ein Prachtexemplar an Minister, dem sich niemand in den Regierungen zu Washington, Moskau, London oder Bonn vergleichen kann, einen Minister, der niemals das Abitur gemacht hat, aber das geistige Spektrum von den Religionsproblemen der Frühkulturen bis zum heroischen Nihilismus Nietzsches beherrscht.
Malraux überwältigt seine Freunde mit einem Sturzbach von Ideen, verwickelt sie in Gespräche über obskure japanische Maler und Gebräuche der altamerikanischen Indianer, über Schweizer Primitive und buddhistische Philosophen. Er springt dabei behende von einem Gedanken zum anderen, zuckt ständig mit dem Gesicht und irritiert seine Gesprächspartner durch permanentes Niesen, das von einem Asthma -Leiden herrührt.
Er hat den Kommunismus mit Trotzki diskutiert und den Hinduismus mit Nehru. Mit blendenden Formulierungen und gescheiten Anspielungen ist er das »Konversationswunder der Welt« ("Time"). Selbst sein Freund Andre Gide kapitulierte vor ihm: »Er ist zu intelligent für mich.«
Malraux, der fließend Deutsch, Englisch, Spanisch, Russisch und Chinesisch spricht, wurde niemals in einem Pariser Intellektuellen-Café gesehen, aber immer dort zitiert. Als »homme engage« ist er das Idol der »Mandarine«, wie Frankreichs Berufsintellektuelle abwertend genannt werden.
Während auf den Umschlagplätzen des romanischen Geistes der Kampf zwischen Idealismus und Revolution zerredet wurde, praktizierte er ihn. Malraux: »Ideen wollen nicht gedacht, sondern gelebt sein.« Sein Leben ist die Sage des gottlosen Mannes auf der Suche nach sich selbst.
Der junge Malraux, frühreifer Sprößling einer seit 300 Jahren in Dünkirchen ansässigen Familie von Schiffsbauern. verfaßte schon als 19jähriger Schriften über die kubistische Poesie und die Gesänge des französischen Lyrikers Tailhade. Schon als Twen schritt er zur Tat.
Er half als Berater, den Chinesischen Bürgerkrieg für die Revolutionäre zu gewinnen, stritt 1933 mit André Gide in Berlin für die Angeklagten im Reichstagsbrand-Prozeß, Dimitroff und Thälmann, und verkündete auf dem Ersten Sowjetischen Schriftsteller-Kongreß in Moskau: »Wenn ein Krieg ausbricht, gibt es für uns nur ein Vaterland: die Sowjet -Union.«
Zwei Tage nach Beginn des Spanischen Bürgerkriegs zog er in das Lager der Republikaner und organisierte deren Luftwaffe. Erst im Zweiten Weltkrieg - nach dem Hitler-Stalin-Pakt - brach der Rote mit seinen roten Freunden.
Malraux kämpfte als Panzersoldat gegen die Hitler-Wehrmacht, geriet in deutsche Gefangenschaft, riß aus und leitete unter dem Decknamen »Colonel Berger« die 1500 Mann starke Résistance-Truppe »Elsaß-Lothringen«.
Auf allen Schauplätzen seiner Taten oblag er - mit der gleichen ingeniösen Hast - der Kultur. Fasziniert von den frühen Hochkulturen der Sumerer, Ägypter, Asiaten. Maya und Inka sammelte und buddelte der Altertums-Fan in Afrika, Asien und Amerika - infolge der Eile nicht immer einwandfrei.
1924 überredete der Archäologie- und Sanskrit-Student Malraux Frankreichs Kolonialminister, ihn zusammen mit Ehefrau Clara und Jugendfreund Louis Chevasson zur Erforschung khmerischer Tempelbauten ins französische Kambodscha zu schicken. In Pnom Penh deckten sich die Tempelritter mit Hacken, Sägen und Drahtseilen ein, mieteten einen Ochsenkarren und erreichten in dreitägigem Marsch durch den Dschungel den Tempel Banteai-Srey. Clara Malraux: »Ein Trianon im Urwald.«
Mit Fuchsschwänzen sägten Andre und Louis eine Tonne Statuen ab. Als die Sägen brachen, rissen sie die asiatischen Götter mit Seilen vom Sockel und - wurden von der französischen Polizei erwischt. Die »Chambre Correctionelle« in Saigon verurteilte Malraux zu drei Jahren schweren Kerkers.
Frau Clara simulierte einen Selbstmordversuch, trat für zehn Tage in den Hungerstreik und wurde nach Paris zurückverfrachtet, wo sie die Literaten alarmierte. 22 prominente Schriftsteller, unter ihnen Andre Gide, Francois Mauriac und Louis Aragon, baten in einer Petition um Gnade für das straffällige Jung-Genie, »dessen schon veröffentlichte Werke zu großen Hoffnungen Anlaß geben«. Saigons Richter kassierten das Urteil. Der Angeklagte erhielt ein Jahr Gefängnis mit Bewährung.
Malraux enttäuschte die Fürsprecher von Anno 24 nicht. Sein Buch »La Condition humaine« schlug bei den Intellektuellen wie eine Bombe ein und brachte ihm den »Prix Goncourt«, Frankreichs begehrtesten Literatur -Preis. Schwärmte Andre Gide: »Ein Gemälde von beinahe unerträglichem Weltschmerz.« Und selbst der erzkatholische Francois Mauriac bewunderte den Atheisten Malraux: »Er hat Talent, mehr Talent als jeder andere.«
Ab und zu passierte noch ein kleiner Unfall. 1934 beispielsweise sichtete Malraux in der südarabischen Wüste Ruba el -Chali ein Trümmerfeld und glaubte, die legendäre Stadt Scheba, einst Hauptstadt der Königin von Saba, entdeckt zu haben. Kaiser Haile Selassie von Äthiopien, dessen Dynastie sich von der
Salomon-Gespielin herleitet, empfing den Scheba-Finder mit Staatspomp. Später fanden Archäologen heraus, daß die vermeintliche Saba-Metropole eine verlassene, geschichtslose Oase war.
Malraux selbst hat nie Details über seine Reisen veröffentlicht. Aber: Seine bedeutendsten Bücher reflektieren einen Zeitabschnitt seines Lebens, seine Helden sind Pseudo-Malrauxs.
Sie führen die Biographen - über ihn erschienen 20 Abhandlungen - des echten Malraux in die Irre. So wurde aus seinen Epen herausdestilliert, daß Malraux 1925 einer der führenden Köpfe der Kuomintang war, als kommunistischer Kommissar mit Tschiang Kai-schek im »Revolutionsausschuß der Zwölf« saß und zum Propaganda-Minister des heutigen Formosa-Chefs avancierte. Malraux BiCersprach diesen Darstellungen nicht.
Der amerikanische Literaturprofessor Frohock von der Columbia-Universität prüfte die Dokumente und fand heraus, daß Malraux in der fraglichen Zeit Direktor einer Saigoner Gazette war und vermutlich erst sechs Jahre nach der Revolution nach China kam. Frohock: »Malraux ist der Komplice seiner Legende.« Dazu Malraux: »Ich lüge zwar, aber meine Lügen werden zur Wahrheit.«
De Gaulle offerierte ihm in seinem ersten Nachkriegskabinett das Informationsministerium, der Literat schlug ein. Malraux: »Nicht daß ich meine, de Gaulle sei die Jungfrau von Orleans, aber was für mein Land getan werden muß, kann nicht ohne ihn getan werden.«
1946, als de Gaulle sich nach Colombey-les-Deux-Eglises zurückzog, saß Malraux oft bei ihm und redigierte seine Bücher. Der Literat über sein Verhältnis zu dem General: »Er erlernte mein Handwerk und ich das seine.«
Als de Gaulle ihn 1958 wieder rief, schlug Malraux abermals ein: »Jetzt ist keine Zeit mehr für die Literatur. Wir müssen Frankreich erneuern. Frankreich ist nur dann Frankreich, wenn es für das Noble der Welt einsteht.«
Programmgemäß erneuerte der Kulturchef zunächst Frankreich, das er in einen strahlenden Kunsttempel wie unter dem Sonnenkönig verwandeln will: »So wie es einen Stil Louis XIV. gegeben hat, wird es einen Stil de Gaulle geben.«
Der De-Gaulle-Stilist ließ Paris abwaschen. Alle historischen Bauwerke, Invalidendom, Pantheon, Palais Bourbon, Institut de France, Marineministerium, Palais du Luxembourg und weitere 50 000 Gebäude wurden vom grauschwarzen Staub der Jahrhunderte befreit und erstrahlen heute in originalem Sandstein -Gelb.
Zunächst protestierte halb Paris gegen den Angriff auf die Patina, heute ist jede Kritik verstummt: Die hellen Fronten lassen die Skulpturen viel deutlicher erscheinen, das große Waschen überzeugt.
Er ließ die meisten der etwa 1000 Provinz-Museen renovieren und die mittelalterlichen Viertel von Aix, Bourges, Lyon und Rouen in ihrer ursprünglichen Form wiederherstellen. Die Schlösser von Versailles, Fontainebleau, Chambord und Vincennes werden geputzt, um in neufranzösischem Glanz zu erstehen.
Im Schloß von Fontainebleau wurde nicht nur gewaschen, sondern gemeißelt: Malraux ließ den steinernen Statuen im Treppenaufgang das Laubwerk von den Blößen nehmen, das ein keuscher Zeitgeist den klassischen Nackten angefügt hatte.
Der Minister überredete Marc Chagall, die Decke der Pariser Oper neu auszumalen, und zählte persönlich die 365 Schornsteine des Renaissance -Schlosses Chambord im Loire-Tal, er beauftragte seine Angestellten, in den Archiven den original-blauen Ton der Trikolore zu erforschen, und schickte 20 Meisterwerke aus dem Louvre in die Kantinen von Renault, um den Arbeitern die Kunst nahezubringen.
Malraux beschämte sogar Ludwig XIV.: Pioniere buddeln derzeit einen Graben, der die (bereits abgewaschene) Ostfassade des Louvre mit den weltberühmten »Kolonnaden des Perrault« so zeigen wird, wie Architekt Claude Perrault sie im 17. Jahrhundert geplant hatte: mitsamt den Fundamenten. Wegen der umliegenden Häuser hatte der Sonnenkönig den Graben nicht schaufeln lassen können, später geriet das Aussehen der Original-Fassade in Vergessenheit - bis Malraux kam.
Überzeugt, daß Frankreich der Fackelträger der Menschheit und Amerika wie Europa intellektuelle Ableger Frankreichs sind, exportierte Malraux gallischen Geist. Er reiste in die USA, wo John F. Kennedy ihn den »Vertreter des ewigen Frankreichs« nannte, nach Lateinamerika, wo er als »conquistador« (Eroberer) gefeiert wurde, und nach China, wo ihn der gelbe Gott Mao vieldeutig empfing: »Für uns sind Sie eine Legende.« Dem Sauerländer Lübke prostete er zu: »Es lebe der deutsche Genius.«
Seinen größten Propaganda-Erfolg heimste Malraux mit dem Leih-Export berühmter Louvre-Werke ein: Die »Mona Lisa« Leonardo da Vincis schickte er nach New York, wo mehr als eine Million Amerikaner sie bewunderten, und die »Venus von Milo« beglückte die Japaner. Malraux zu de Gaulle: »Vier Millionen Japaner haben die französische Fahne hinter dieser Statue gesehen.«
Diesen Sommer überreichte Malraux seinem Staatschef als Abschiedsgeschenk das in fünfjähriger Arbeit innen wie außen völlig renovierte große Trianon-Schloß im Park von Versailles - ein Rausch in Marmor, Seide und Gold, eine Art Sühne wohl auch für den Kunstraub, den der 22jährige einst am kambodschanischen Urwald-Trianon beging. Das Schloß soll künftig de Gaulles Staatsgäste beherbergen.
Die Jugendsünde ließ den Kulturminister allerdings auch an der Schwelle des Ruhestands nicht los. Im September 1966 veröffentlichte die von André Malraux geschiedene Frau Clara, geborene Goldschmidt, ihre Memoiren, In denen sie das große Göttersägen im Dschungel detailliert beschreibt*.
Wenn Malraux in Pension geht, wird es einsam um de Gaulle. Niemand weiß, wer künftig bei den Kabinettssitzungen rechts vom General sitzen wird. Bis jetzt war es Andre Malraux. De Gaulle redet ihn mit »Maitre« - »Meister« an.
* Clara Malraux: »Nos vingt ans«. Verlag Bernard Grasset, Paris; 284 Seiten; 15 Franc.
Minister Malraux (r.), Freund: »Ein Gemälde von unerträglichem Weltschmerz«
Forscher Malraux, Ehefrau Clara (1924)
Götter gesägt
Ungereinigte, gereinigte Fassade in Paris*: Patina abgewaschen
* Links die noch ungereinigte Front des
»Touring-Club de France«, rechts das bereits abgewaschene Marineministerium an der Pariser Place de la Concorde.