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SPIEGEL Essay Englands Wachhunde bellen nicht

Von Christopher Tugendhat Der konservative Politiker Tugendhat, 48, von 1970 bis 1976 Abgeordneter im britischen Unterhaus, wurde 1977 Mitglied der Brüsseler EG-Kommission und amtierte voll 1981 bis 1985 als deren Vizepräsident. Er veröffentlichte vergangene Woche ein Buch über die Zukunft der Europäischen Gemeinschaft ("Making Sense of Europe«, Viking Verlag, London) und schrieb für den SPIEGEL den folgenden Essay. *
aus DER SPIEGEL 5/1986

In einer der berühmtesten Sherlock-Holmes-Geschichten kommt der große Detektiv einem Geheimnis so auf die Spur: Ein Hund bellt nachts nicht, sein Schweigen liefert Holmes den entscheidenden Hinweis auf den Verbrecher.

An diese Geschichte mußte ich in den letzten Wochen oft denken, als das Thema einer festen Kanalverbindung spruchreif wurde.

Man hätte erwarten können, daß der neuerliche Vorschlag, die physische Trennung zwischen Großbritannien und dem europäischen Kontinent zu beenden, in Großbritannien einen Sturm der Entrüstung auslösen würde.

Jahrhundertelang war uns - zu Recht - eingebleut worden, daß uns der Ärmelkanal vor jenen Invasionen und militärischen Besetzungen bewahrt habe, die alle Länder des Kontinents im Lauf ihrer Geschichte erdulden mußten.

Überdies wurden wir immer wieder darauf hingewiesen, daß unser Nationalcharakter und unsere ureigenen Institutionen sich dank des Kanals und unserer Isolation eigenständig - eben anders als bei unseren Nachbarn - entwickeln konnten.

Jahrhundertelang auch hatten die meisten Briten sich unbeirrbar gewünscht, daß diese Unterschiede erhalten blieben - und mit ihnen die physische Trennung auf der sie beruhen, selbst wenn der technologische Wandel das Verteidigungsargument entkräften würde, wie schließlich geschehen.

Jedoch - nachdem Margaret Thatcher und Francois Mitterrand ihre Entschlossenheit bekanntgegeben hatten, den Kanal zu überwinden, blieben die Wachhunde der nationalen Exklusivität fast stumm, Sie legten so ein höchst beredtes Zeugnis dafür ab, daß sich in der Psychologie der britischen Nation während der letzten Jahre ein fundamentaler Wandel vollzogen hat.

Die Menschen in den südenglischen Hafenstädten, in Dover und Folkestone zum Beispiel, die um ihren lukrativen Fährbetrieb fürchten, sind natürlich gegen die feste Kanalverbindung. Ebenso die Einwohner der Grafschaft Kent, die befürchten, daß neue Terminals, Straßen- und Gleisbauprogramme ihre Umwelt schädigen, unter anderem auch den Wert ihrer Grundstücke.

Aber die wenigen Versuche, eine große landesweite Kontroverse zu entfachen, sind völlig fehlgeschlagen, so eine penetrant chauvinistische Anzeigenkampagne der Fährenbesitzer. Die vorweihnachtliche Kanal-Debatte im Londoner Unterhaus war buchstäblich ein Nichtereignis.

Statt darüber zu streiten, ob unsere Insel mit dem europäischen Festland verbunden werden soll oder nicht, statt sich über die eventuellen Folgen einer solchen Verbindung für unseren Nationalcharakter zu erregen, hat unsere öffentliche Meinung fast kommentarlos akzeptiert, daß nun das Vorhaben ausgeführt wird.

Es wäre falsch zu behaupten, das Projekt habe große Begeisterung ausgelöst. Frau Thatcher präsentiert es mit Sicherheit auch nicht als eine symbolische Verbindung Großbritanniens mit seinen Partnern auf dem Kontinent. Vielmehr wird es als Teil des natürlichen Laufs der Welt in einem modernen Zeitalter dargeboten und angenommen; als ein gewaltiges, aber normales Investitionsvorhaben wie die neue Londoner Ringautobahn oder das Themse-Wehr gegen Überschwemmungen; als ein Projekt mithin, das Arbeitsplätze schafft und das tägliche Leben zweckmäßiger gestaltet.

Kurzum, das Jahrhundertereignis wird mit einer merkwürdigen Nüchternheit aufgenommen. Es offenbart nicht so sehr eine symbolische Hinwendung zu Europa nach dem Vorbild eines Bräutigam, der seiner Braut einen Ehering an den Finger steckt, als vielmehr die überfällige Anerkennung des Umstands, daß wir nun schon lange zusammenleben und unseren internen Betrieb sinnvoller ordnen sollten.

Bis auf eine kleine Minderheit haben die Briten den Enthusiasmus und den Idealismus nie geteilt, den Europa und der auf diesem Begriff beruhende Traum in den sechs ursprünglichen Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft geweckt haben. Wahrscheinlich werden die Briten diesen Traum auch in der Zukunft nie träumen.

Man kann ja auch kaum behaupten daß der Europa-Idealismus bei diesen Sechs derzeit besonders stark ausgeprägt wäre. Auf ihre Art jedoch - eher pragmatisch und realistisch als visionär oder gar phantastisch - haben die Briten sich damit abgefunden, Teil Europas zu sein.

Inzwischen ist in Vergessenheit geraten, daß die britischen Fußballklubs mit dem Europapokal nichts zu tun haben wollten, als dieser Wettkampf eingeführt wurde. Die Briten sahen in ihm eine Ablenkung von den Kämpfen um britische Trophäen, die damals allein zählten.

Heute ist diese Einstellung längst passe, wirkt sie wie ein Relikt aus einem anderen Zeitalter. Seit einigen Jahren ist es nicht mehr schlicht Selbstzweck, die Meisterschaft der britischen Football League oder den Football Association Cup zu gewinnen; inzwischen gelten derartige Erfolge als Sprungbrett nach Europa.

Erst durch ihre Siege bei den europäischen Länderkämpfen gelangten Liverpool, Manchester United und andere führende Mannschaften zu ihrem Ansehen. Ihre Aussperrung vom europäischen Fußball nach den traurigen Ereignissen im Stadion von Brüssel war für sie ein schwerer Schlag. Die englischen Preise, die zu gewinnen einst als höchster Triumph galt, erscheinen in ihrem Wert gemindert und provinziell nachdem sie - zumindest im Augenblick - nicht mehr Ausgangsbasis für Spiele auf der breiteren europäischen Fußballszene sind.

Sogar auf kulinarischem Gebiet hat ein Wandel stattgefunden, wenn auch weniger dramatisch. Ich erinnere mich noch an die Unterhaus-Debatten über den Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft am Anfang der siebziger Jahre. Bei einer dieser Debatten, an denen ich als Abgeordneter teilnahm, sagte der für die Verhandlungen zuständige Minister, Geoffrey Rippon, zum Beweis, daß unsere nationalen Gewohnheiten und Eigenheiten nicht beeinträchtigt würden: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgendwann der Tag kommen wird, an dem die Leute in Wigan Camembert essen.«

Wigan ist jene Stadt in Lancashire, die George Orwell als Inbegriff des britischen Industriezentrums unsterblich machte.

Doch als ich im Europa-Wahlkampf 1984 durch das Land zog, stellte ich fest, daß nicht nur in den Supermärkten von Wigan, sondern auch in jeder anderen Stadt, so provinziell sie auch sein mag, Camembert und andere französische Käsesorten, deutsche Würste, italienische Nudeln und Delikatessen aus vielen anderen europäischen Ländern feilgeboten wurden.

Großbritannien ist gewiß keine kulinarische Hochburg, die sich mit Belgien vergleichen könnte; das kann die Bundesrepublik vielleicht auch nicht. Das Sortiment an Nahrungsmitteln in britischen Geschäften und die Auswahl an Speisen in britischen Restaurants selbst

außerhalb Londons aber unterscheidet sich heute deutlich von dem Angebot vor zehn Jahren. Der Genuß von Wein und Mineralwasser, einst als typisch »kontinentaler« Geschmack angesehen, nimmt in allen Schichten der Gesellschaft und in allen Teilen des Landes rapide zu.

Nicht, daß Großbritannien mit dieser Entwicklung einzigartig dastände. Die Menschen in ganz Europa essen und trinken zu Hause oder im Restaurant heute mehr von den jeweiligen Produkten ihrer europäischen Nachbarn als früher. Ich will damit nur sagen, daß der britische Lebensstil sich in der gleichen Richtung entwickelt wie der anderer Länder.

Selbst in den Medien sind erste schwache Anzeichen eines Wandels zu erkennen. Das britische Fernsehen bringt, wie das der meisten Länder auf dem Kontinent, immer noch weit mehr Sendungen aus den Vereinigten Staaten als aus anderen europäischen Ländern. In Großbritannien ist das weniger überraschend und natürlicher als beispielsweise in Deutschland oder Belgien, da wir die gleiche Sprache wie die Amerikaner sprechen.

Jetzt aber strahlt die BBC einmal pro Woche spätabends ein Fernsehprogramm aus, in dem französische, deutsche und andere Reporter das Geschehen in ihrem jeweiligen Land teils in ihrer Muttersprache, teils auf englisch kommentieren und Nachrichten direkt aus den ausländischen Medien ohne Übersetzung oder Untertitel in die Sendung einblenden.

Nur wenige dürften dieses Programm sehen. Noch kleiner ist wohl die Zahl derer, die es verstehen. Die Tatsache aber, daß diese Sendungen überhaupt als aktuelle Nachrichten und nicht als Kulturbeiträge ausgestrahlt werden, ist an sich schon bemerkenswert.

Auf einem anderen Gebiet reicht der europäische Einfluß noch weiter: Wenn britische Parteien, ob in der Regierung oder der Opposition, politische Punkte sammeln möchten, führen sie inzwischen immer häufiger europäische Beispiele an.

So werden die wirtschaftliche Wachstumsrate, die Inflation und die Arbeitslosigkeit Großbritanniens, ob nun günstig oder ungünstig, immer wieder mit dem europäischen Durchschnitt oder der Entwicklung in einem anderen europäischen Land verglichen. Das jüngste Beispiel dieser Art ist die Behauptung des Kabinetts, Großbritannien habe mit seinen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mehr Erfolg gehabt als die gesamte übrige EG.

Früher wurden derartige Vergleiche weit mehr mit Teilen der englischsprachigen Welt angestellt als heute. So hätten die Befürworter und die Gegner einer linksgerichteten Politik zur Erhärtung ihrer Argumente früher eher auf die Erfahrungen der verwandten australischen Labor-Regierung verwiesen als auf die der sozialistischen Regierung Frankreichs.

Wie sehr sich die politische Einstellung in Großbritannien geändert hat, zeigte die Unterhaus-Debatte nach dem Europa-Gipfel vom Juni 1985 in Mailand. Frau Thatcher kam von dieser Veranstaltung im Sommer angeschlagen zurück: In einem wochenlangen erbitterten Kleinkampf über die Streitfrage, ob zwischen den zehn Regierungen eine Konferenz über die Reform der EG-Verträge stattfinden solle oder nicht, war sie besiegt worden.

Bei ihrer Rückkehr schlug die Kritik über ihr zusammen. Während früher jedoch die Labour Party argumentiert hatte, ihre Niederlage zeige nur erneut, wie falsch es gewesen sei, der EG beizutreten, erklärte Parteichef Neil Kinnock diesmal lediglich: Man müsse daraus die Lehre ziehen, daß Großbritannien es sich nicht erlauben dürfe, der Konferenz fernzubleiben.

Und schließlich: In den letzten Wochen erschütterte eine groteske Debatte über die Zukunft der Hubschrauberfirma Westland die politische Szene Großbritanniens. Das Problem wurde - meiner Ansicht nach zu Unrecht - als Wahl zwischen einer europäischen und einer amerikanischen Alternative der Hilfe für Westland hingestellt.

Ob die in der Debatte vorgebrachten Argumente richtig oder falsch sind, steht hier nicht zur Diskussion. Höchst bedeutsam aber ist die Tatsache, daß Michael Heseltine, der schillernde und äußerst ehrgeizige Verteidigungsminister, es als politisch vorteilhaft ansah, sich zum streitbaren Anwalt einer Sache zu machen, die er als ein europäisches Programm gegen ein amerikanisches darstellte.

Er erlitt in dieser Frage zwar eine Schlappe, was aber nichts daran ändert, daß er es für sinnvoll hielt, seine Kandidatur für die Thatcher-Nachfolge durch ein Eintreten für Europa in die Wege zu leiten.

Auch andere Politiker - etwa Edward Heath, Roy Jenkins und der jetzige Innenminister Douglas Hurd - haben sich stark mit Europa identifiziert. Doch für sie war das die Maxime ihres politischen Lebens, die sie ungeachtet der damit verbundenen Popularität oder Unpopularität verfolgten. Michael Heseltine tritt zwar auch schon lange für eine engere Zusammenarbeit mit Europa auf dem Verteidigungssektor ein. Im Grunde aber ist er ein populistischer Politiker auf der Suche nach populistischen Themen. Für den Zustand des politischen Lebens in Großbritannien ist es mithin mehr als bezeichnend, daß Europa jetzt von einem führenden Konservativen als karrierefördernd benutzt werden kann.

Mit den subtilen, aber entscheidenden Veränderungen in der britischen Haltung zu Europa ändert sich auch die Zielrichtung der britischen Außenpolitik. Obwohl Margaret Thatcher sich persönlich bei Präsident Ronald Reagan in Washington wohler fühlt als bei Helmut Kohl in Bonn oder bei Francois Mitterrand in Paris, steht heute außer Zweifel, daß die alte anglo-amerikanische Sonderbeziehung in jeder Weise durch das Verhältnis zu unserem französischen und unserem deutschen Partner aufgewogen wird.

Großbritannien begreift, daß die französisch-deutsche Freundschaft für Stabilität und Fortschritt in Europa das Sine qua non ist. Ohne diese Freundschaft läuft nichts.

Gleichzeitig hält London es für äußerst wichtig, daß die Position Großbritanniens in Bonn der französischen und in Paris der deutschen Position in nichts nachsteht. Erfahrene Diplomaten und alle, die in den Institutionen der Gemeinschaft gearbeitet haben, wissen, daß viel Zeit und Anstrengung erforderlich sind, um dieses Ziel zu erreichen. Die Richtung jedoch ist vorgegeben, und der dazu nötige innenpolitische Konsens besteht jetzt auch.

In Großbritannien war es von jeher Tradition, lieber schrittweise und undramatisch voranzugehen als durch Revolutionen und aufregende Sprünge, wie sie andere Länder bevorzugen, vor allem - für einige von uns oft bedrückend - in Europa. Aber gerade weil Veränderungen sich bei uns so langsam vollziehen, sind sie dann auch meist von Dauer.

Für unsere Geschichte und unseren Charakter ist es irgendwie bezeichnend, daß über den letzten Akt der Vereinigung zwischen Großbritannien und dem europäischen Kontinent entschieden wird, als handle es sich schlicht nur um ein weiteres Investitionsvorhaben - und um einen Vorwand, unserer nationalen Spielleidenschaft zu frönen.

Unsere Buchmacher boten ja bereits Wetten an, welche Variante des Projekts nun den Zuschlag bekommen würde: Tunnel, Brücke oder die Kombination von beidem.

Christopher Tugendhat
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