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KANZLER-NACHFOLGER Englisch gut

aus DER SPIEGEL 43/1962

Vizekanzler Ludwig Erhard, Bonns provisorischer Kronprinz ohne Königssegen, fand wieder einmal »alles zum Kotzen«.

Als Renommierfigur zur CSU-Landesversammlung nach Nürnberg gebeten, grämte sich der Wirtschafts- und Wunderdoktor am vorletzten Sonnabend beim nächtlichen Drink in der Grandhotel-Bar über Pressemeldungen, »daß über Jahr und Tag nur ein ernsthafter Kanzlerkandidat zur Entscheidung stehen wird: Gerhard Schröder« ("Die Welt").

Noch am Vorabend der Nürnberger Bar-Betrachtung hatte Bayerns CSUParteisekretär Friedrich Zimmermann verheißen, die Christsozialen wollten den Vizekanzler in Nürnberg als »einzig richtigen Regierungschef der Zukunft herausstellen«. Am Morgen nach dem Gefühlsausbruch Erhards beim Whisky bedauerte Zimmermann kleinlaut, der Vizekanzler sei mittlerweile »sehr nervös« geworden.

Ludwig Erhard hat allen Grund zur Nervosität. Obgleich er bis heute mit weitem Vorsprung vor allen erdenklichen Nebenbuhlern den Gipfelpunkt demoskopischer Popularitätskurven hält*, bröckelt der Anhang des Wirtschaftsministers in der CDU stetig ab.

Die Enttäuschung über Erhards Hilflosigkeit auf wirtschaftspolitischem Terrain hat mehr und mehr Christdemokraten überzeugt, daß Konrad Adenauer recht hat, wenn er den Papiertiger und Vizekanzler für ungeeignet hält, Kanzler zu werden.

Da Ludwig Erhard zwar weich, aber noch nicht blind ist, hat er erkannt, daß Adenauers Kampagne gegen ihn in der CDU Boden gewinnt. Deshalb entschloß er sich zu einem verzweifelten Schritt: zu einem Pakt mit der CSU und Franz-Josef Strauß.

Es ist die Neuinszenierung eines Spiels, das schon bei der Uraufführung vor einem Jahr durchfiel: Nach den letzten Bundestagswahlen vom Herbst 1961 hatten Erhard und Strauß - in jenen Wochen noch gemeinsam mit der FDP - ein Komplott geschmiedet, den Kanzler zu stürzen und die Macht in der Bonner Republik zu übernehmen.

Das Konzept scheiterte an Erhards Unentschlossenheit. Der »Dicke« blieb Vize und wurde nicht Kanzler. Und auch Strauß konnte daher seinen Wunsch, die Übernahme des Außenministeriums, nicht verwirklichen, obgleich damals in der Koblenzer Straße eine Wachablösung stattfand.

Es nützte Strauß nichts, daß er bei den Koalitions-Beratungen über die Nachfolge des ausgebooteten Außenministers Heinrich von Brentano dem FDP-Koalitionshändler Willi Weyer schriftlich dessen Zettelanfrage »Schröder?« mit großgeschriebenem »Nein« beantwortete. Gerhard Schröder wurde Außenminister und Strauß brockte sich auf seinem alten Posten eine Affäre nach der anderen ein.

War damals Strauß die treibende Kraft der Kabale, so ist es diesmal Ludwig Erhard. Doch das Ziel der beiden Schröder-Geschädigten blieb gleich: den überreifen Kronprinzen ins Palais Schaumburg zu befördern, ehe er als Fallobst vom Baum fällt.

Den Preis, den Erhard heute für die Strauß-Hilfe leisten soll, hat sich allerdings erhöht: Der CSU-Boß will Vizekanzler und Außenminister werden.

Für den Plan zur Eroberung dieser beiden Bastionen existiert ebenfalls in der jüngeren Bonner Geschichte bereits ein Modellfall: Als 1956 der damalige Atomminister Strauß den damaligen Verteidigungsminister Theodor Blank unterwanderte, nutzte er dabei den Vorsitz in einem auf sein Betreiben neu geschaffenen Verteidigungsrat. Von dieser überhöhten Feuerstellung aus war es Strauß leicht, den Rivalen kapitulationsreif zu schießen.

Nach dem gleichen Rezept betreibt Strauß heute die Bildung eines »Nationalen Leitungsstabes«, der nicht nur wie der Verteidigungsrat - die Verteidigung koordinieren soll, sondern auch die Außenpolitik, der Straußens neue Neigung gilt. Als Vizekanzler Erhards will Strauß dort den Vorsitz führen, um mit Außenminister Gerhard Schröder nachzuexerzieren, was ihm mit Theo Blank so wundervoll gelang: den Einbruch in das begehrte Ministerium.

Einen ersten Vorstoß in dieser Richtung hat Strauß schon vor etwa Jahresfrist unternommen: Er legte dem Kanzler einen Organisationsplan für Zeiten internationaler Spannung vor, in dem verfügt werden sollte, daß in Krisen dem Verteidigungsminister ein weitgehender Einfluß auf die Außenpolitik eingeräumt wird.

Was Kanzler Adenauer damals seinem Verteidigungsminister Strauß abschlug, soll nun in der Zukunft Kanzler Erhard seinem Vizekanzler Strauß zugestehen.

So bescherte der Parteitag der CSU in Nürnberg der Bundesrepublik ein sonderbares Bündnis: Zwei wankende Aspiranten haben beschlossen, einander künftig wie Bleigewichte an den Beinen zu hängen. Dem schrumpfenden Kanzler-Nachfolger Ludwig Erhard wurden die Stimmen der bayrischen CSU zugesichert; Erhard seinerseits wurde verpflichtet, den abgewirtschafteten Franz-Josef Strauß zu seinem Außenminister und Stellvertreter zu machen, der dadurch seine mancherorts geglaubte Unentbehrlichkeit im Verteidigungsressort selbst ad absurdum führt.

Einen Fuß hat Erhard damit in den Münchner Sumpf gesetzt, indem er akzeptierte, daß er sich bei der Bemannung seines Regierungs-Bootes nicht von den Interessen der Bundesrepublik, sondern von denen seines Huckepacks leiten lassen würde, der ihm gar zu gern im Nacken säße.

Dennoch hätte der Pakt vielleicht Aussicht auf Erfolg, wenn Konrad Adenauer weiter ausschließlich in seiner negativen Politik verharren würde, Erhard den Weg ins Kanzleramt zu versperren. Erstmals aber hat er in den letzten Monaten einem anderen Christdemokraten Gelegenheit gegeben, sich als Kanzler-Kandidat aufzubauen: Gerhard Schröder.

Seit der glatte Schröder vor einem Jahr aus dem Innenministerium ins Außenamt umgezogen ist, hat er keine Zeit verloren, seine Positionen auszubauen.

Den sozialdemokratischen Vorderbänklern im Plenarsaal des Bundestages bot er schon am Tage seiner Vereidigung als Außenminister die Friedenshand: »Jetzt werden Sie meine angenehmeren Seiten kennenlernen. Ein anderer macht nun die undankbare Arbeit im Innenministerium. Und wir können, das hoffe ich doch, in der Außenpolitik zusammenarbeiten.«

Die Sozialdemokraten im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages versorgt er inzwischen so reichlich mit Informationen, daß sogar SPD-Vize Herbert Wehner zufrieden ist: »Wir haben jetzt endlich einen Außenminister, der uns unterrichtet und mit dem man diskutieren kann.«

Dem Berliner SPD-Bürgermeister Brandt, dem ausgerechnet Stärke-Fanatiker Strauß am vorletzten Sonnabend in der Nürnberger CSU-Versammlung eine »Politik der Stärke« vorwarf, schickte Schröder drei Tage später von seiner Visite in Washington einen detaillierten telegraphischen Bericht über die Besprechungen mit den Amerikanern.

Auch die Berliner CDU-Kollegen, die noch 1961 den Bundespräsidenten Lübke wegen Schröders »weicher« Berlin-Haltung vor einer Berufung ins Außenamt gewarnt hatten, sind bekehrt.

Gleich bei seiner ersten Berlin-Reise als Außenminister Mitte November vorigen Jahres hatte Schröder im Flugzeug einen Platz neben Berlins CDUBürgermeister Amrehn gewählt. Er zeigte ihm den Fragebogen eines Interviews über die Berliner Situation und bat Satz für Satz um sachkundigen Rat für die rechten Antworten. Bürgermeister Amrehn später: »Das war eine nette Geste.«

Selbst bei den Freidemokraten, die sich nach der letzten Bundestagswahl mit dem CSU-Anführer Strauß auf das mißratene Komplott eingelassen hatten, Adenauer und Erhard aus dem Palais Schaumburg zu verdrängen, lief Schröder dem Alt-Kronprinzen mittlerweile den Rang ab. Denn CDU-Manager Josef Hermann Dufhues hat gegenüber der FDP durchblicken lassen, daß Adenauer möglicherweise doch noch gemäß Koalitionsvertrag vor den nächsten Wahlen abtreten wird, wenn nicht Erhard, sondern ein anderer sein Nachfolger wird.

Schließlich wird Schröders Position im Erbfolgekrieg auch noch durch siegreiche Scharmützel im Ausland gestützt. In einem PK-Bericht aus Washington schrieb nach dem US-Besuch des Bonner Außenministers in der letzten Woche Amerikas bekannteste politische Kolumnistin, die Generals-Ehefrau Marguerite Higgins: »Dies ist der erste wirkliche Erfolg eines hohen deutschen Diplomaten der Regierung Adenauer seit Beginn der Ära Kennedy. Denn Schröder ist der erste Diplomat, der auf der gleichen Wellenlänge denkt wie Präsident Kennedy und Außenminister Dean Rusk.«

»Sein Englisch ist gut; da er aber mit starkem Akzent spricht, benutzte er einen Dolmetscher. Da Schröders Dolmetscher außerdem die amerikanische Umgangssprache spricht, fühlten sich seine Kollegen in Washington mit dem Außenminister viel vertrauter als etwa mit jemand wie Verteidigungsminister Strauß, der auf seinem eigenen gutturalen Englisch besteht, das - in seinem Klang manchmal an die Sprache erinnert, die die Amerikaner von den ,bösen Deutschen' der Kriegsfilme des Fernsehens kennen. (Wer weiß, welche Wirkung diese unbewußte - und ungerechte - Assoziation auf Straußens amerikanische Zuhörer gehabt haben kann.)«

Konrad Adenauer selbst lobte nach dem Besuch des Außenministers im Urlaubsquartier Cadenabbia Ende vergangenen Monats: »Es ist ja interessant, wie schnell sich der Herr Schröder in sein neues Amt eingearbeitet hat und wie entschieden er das Amt führt.« Alsdann noch deutlicher: »Ob das nicht mal der geeignete Mann wäre?«

Dem so aufdringlich gerühmten Erhard-Rivalen Schröder behagte die laute Propaganda nicht. Obschon seine Reputation in der Christenpartei wächst, hält er sich wohlweislich zurück, darauf gefaßt, daß die CDU/CSU-Fraktion, müßte sie das Kanzleramt über Nacht plötzlich neu besetzen, vorerst noch Volksmagnet Ludwig Erhard oder eventuell Adenauers Freund Heinrich Krone erwählen würde.

Eine solche Notstands-Kanzlerschaft wäre jedoch - das steht schon heute fest - nur noch eine Übergangslösung. Schröder: »Natürlich, warum soll ich nicht eines Tages Kanzler werden? Aber ich habe keine Eile.«

* Bei der letzten Emnid-Umfrage Im Juni 1962 entschieden sich auf die Frage nach einem »geeigneten Kanzler-Nachfolger« 32 Prozent für Ludwig Erhard, 15 Prozent für Willy Brandt, drei Prozent für Eugen Gersteinmaier, zwei Prozent für Franz-Josef Strauß und je ein Prozent für Carlo Schmid, Heinrich von Brentano, Erich Mende und Gerhard Schröder.

Verbündete Erhard, Strauß in Nürnberg: Der einzig Richtige ist sehr nervös geworden

US-Kolumnistin Marguerite Higgins Seit Anbruch der Ära Kennedy ...

... der erste deutsche Erfolg: US-Reisender Schröder, Dienstherr

Simplicissimus

»Auf die Plätze! Eins ... zwei ... fünf nach zwei ... viertel drei ... halb drei ... dreiviertel drei ... fünf Minuten vor ...«

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