MULTIPLE SKLEROSE Entdeckung im Rückenmark
Neben dem Krebs ist die Multiple Sklerose die unheimlichste Krankheit der zivilisierten Menschheit. Rund 100 000 Bürger der Bundesrepublik leiden an der am weitesten verbreiteten organischen Nervenkrankheit, die in zahllosen Variationen auftritt, für den Arzt aber stets an den Krankheitsherden im Rückenmark und im Gehirn kenntlich ist: Dort entstehen aus wucherndem Zwischengewebe der Nerven - und der Gehirnsubstanz graurötlich gefärbte Verhärtungen. Die fettartige Hülle der Nervenfasern zerfällt und wird durch Bindegewebe ersetzt*. Die Folge sind schwere Störungen der Nervenfunktion.
Bis jetzt glich die Diagnose auf Multiple Sklerose, die im Mediziner-Jargon kurz MS genannt wird, einer Verurteilung zu langem, unheilbarem Siechtum. Das Leiden beginnt wie der Krebs schleichend und schmerzlos, oft mit Seh- und Augenmuskel -Störungen, mit Prickeln in großen Körperteilen und Schwäche. Der Gang wird unsicher und breitspurig.
Da die MS periodisch auftritt, können Jahre vergehen, ehe die nächste »Krankheitswelle« einsetzt und der Patient schließlich das typische Bild des MS-Kranken bietet: mit krampfhaft ungeregeltem ("spastisch-ataktischem") Gang, mit fahrigen Bewegungen und abgehackter ("skandierender") Ausdrucksweise, bei der er die Worte in eigentümlicher Weise in die einzelnen Silben zerhackt. Während die Sprachstörungen immer stärker werden, Krämpfe und Lähmungen auftreten, nimmt auch das Sehvermögen ab. Nicht selten müssen die Ärzte zunehmenden Geistesverfall konstatieren.
Das Leiden der meisten MS-Kranken ist ein langes Martyrium: Wenn die Krankheit zwischen dem 20. und dem 30. Lebensjahr beginnt, sind die Patienten nach durchschnittlich zehn bis fünfzehn Jahren völlig arbeitsunfähig und hilflos. Trotzdem können sie ein hohes Alter erreichen, wenn sie auch den Rest ihres Lebens wie lebende Tote verbringen, die bei dem geringsten Bedürfnis auf die Hilfe der Krankenschwester angewiesen sind. Der Tod tritt meistens infolge einer Lähmung der Harnblase ein, die zu einer Infektion der Harnwege führt. Er kann auch leicht durch eine Infektion der Wunden herbeigeführt werden, die sich der gelähmte Kranke durch jahrelanges Liegen zuzieht.
Seit der englische Pathologe Sir Robert Carswell 1838 die Multiple Sklerose zum erstenmal beschrieb, bemühen sich die Mediziner, die Ursache der krankhaften Veränderung im Gehirn und im Rückenmark zu entdecken. Unzählige Theorien wurden aufgestellt, unzählige Therapien wurden erprobt. Doch die Bemühungen einer Armee von Wissenschaftlern waren vergeblich. Die Multiple Sklerose blieb eine der rätselhaftesten Krankheiten.
Erst vor kurzem ist es nun zwei Forschergruppen in Österreich und in den USA gelungen, entscheidende Entdeckungen zu machen, die zu einer wirksamen Bekämpfung der MS führen könnten. Die Multiple Sklerose, postulierten die Wissenschaftler, ist wahrscheinlich eine Spätform der Tuberkulose.
Damit bestätigten die unabhängig voneinander arbeitenden Forschergruppen eine Theorie des deutschen Mediziners Dr. Herwig Ahringsmann. Der Hamburger Arzt hatte seine Argumente schon Ende der zwanziger Jahre vorgetragen. Es ist unwahrscheinlich, sagte er damals, daß der Tuberkel-Bazillus - der in allen Organen des Körpers die verschiedensten Schäden verursacht - im hochempfindlichen zentralen Nervensystem nur die tuberkulöse Gehirnhautentzündung und gelegentlich ein »Tuberkulom« (eine örtlich begrenzte tuberkulöse Entzündung) hervorruft. Mit den wiederkehrenden Schüben ähnele der Verlauf der MS dem Verlauf der Tuberkulose, betonte Dr. Ahringsmann, und bei beiden Krankheiten könnten Schübe durch physische oder psychische Belastungen ausgelöst werden: Wenn zum Beispiel einem MS-Patienten ein Zahn gezogen werde, könne leicht ein neuer Schub einsetzen.
»Methode Bombenteppich«
Später gelang dem Hamburger Professor Hans Much zusammen mit Dr. Ahringsmann ein wichtiger Nachweis. Der Professor hatte die sogenannten Muchschen Granula entdeckt: Wenn ein Präparat mit Tuberkel-Bakterien in ein Spezial-Farbbad getaucht wurde, traten winzige Körner - deren Bedeutung bis heute ungeklärt ist - hervor. Den beiden Wissenschaftlern gelang es nun, die Muchsche Erscheinung auch im Gehirngewebe von MS-Kranken nachzuweisen.
Inzwischen spürten schon mehrere Forscher der gleichen Fährte nach. 1935 verkündete der Chefarzt des St. Joseph -Hospitals in Beuel, Professor Heinrich Gerhartz, er habe das Blutserum von MS -Kranken untersucht und in 54 Prozent aller Fälle die für Tuberkulose typische Reaktion erhalten. In Wien erhielt der Neurologe Dr. Battner ein noch höheres Ergebnis. In seiner Testreihe reagierte das Blut von 68 Prozent der MS-Kranken genauso wie das Blut von Tbc-Kranken.
Nach dem Krieg machten die amerikanischen Forscher Kurzke und Berlin durch Zufall eine wichtige Entdeckung, die auf enge Zusammenhänge zwischen der Tuberkulose und der MS schließen ließ Die beiden Amerikaner hatten eine MS-Patientin, die auch an einer Organ-Tuberkulose litt, mit dem neuen Tuberkulose-Heilmittel Rimifon behandelt. Bald darauf stellten sie fest, daß sich nicht nur die Tbc, sondern auch die MS auffällig besserte. Daraufhin behandelten Kurzke und Berlin 30 MS -Kranke mit Rimifon, und wieder konnten sie an 27 Patienten eine Besserung des Krankheitszustandes beobachten.
Gleichzeitig hatte auch in Wien eine Forschergruppe auf Grund theoretischer Überlegungen neue Tuberkulose-Heilmittel an MS-Kranke verabreicht. Der Wiener Arbeitsgruppe standen nicht die großen Mittel amerikanischer Kliniken zur Verfügung. Der Wiener Nervenarzt Dr. Walter Birkmayer sagte: »Die Amerikaner gehen auch in der Wissenschaft nach der Methode Bombenteppich vor: Sie legen ein ganzes Viertel nieder und treffen dabei natürlich auch die gesuchte Fabrik. Aber bei der MS war alles so durcheinander, daß man nicht einmal wußte, wo ungefähr die gesuchte Fabrik liegt. Hier konnte man nur mit gezielten Überlegungen weiterkommen.«
Die Wiener gingen von der Feststellung aus, daß in der Rückenmarksflüssigkeit von MS-Kranken bestimmte Eiweißkörper stark vermehrt waren. Eine solche Vermehrung ist eine typische Abwehrreaktion des Körpers gegen einen Krankheitserreger; sie tritt in ähnlicher Form nur im Gehirn- und Rückenmark von Patienten auf, die an den Spätfolgen der Syphilis leiden. Die Wiener folgerten: Warum sollte nicht auch bei der MS ein Erreger einer chronischen Erkrankung am Werk sein?
Es war naheliegend, bei der verbreitetsten neurologischen Erkrankung an die am weitesten verbreitete chronische Erkrankung überhaupt zu denken, an die Tuberkulose. Im Januar 1954 begannen die Mediziner der Wiener Forschungsgruppe die Doktoren Tschabitscher, Schinko und Wanko, bei ihren MS-Patienten nach Anzeichen der Tuberkulose zu suchen. Gleichzeitig fahndeten sie mit modernsten Filtermethoden in der Rückenmarksflüssigkeit ihrer Patienten nach Bakterien
»Wir hatten Glück« berichtete kürzlich Dr. Tschabitscher, »schon die ersten drei Versuche waren positiv.« Im Schirm des Elektronenmikroskops zeigten sich schmale Stäbchen: Es waren Mykobakterien, Angehörige jener Gruppe von Krankheitserregern, der neben verschiedenen Tuberkulose-Stämmen auch der Bazillus Hansen angehört, der Erreger der Lepra.
Die Bakterien befanden sich in der Rückenmarksflüssigkeit von 23 der 50 untersuchten MS-Patienten, bei denen sich überdies auch tuberkulöse Erscheinungen feststellen ließen. Als die Doktoren zur Gegenkontrolle 50 Patienten untersuchten, die nicht an der MS litten, entdeckten sie die Stäbchen in der Rückenmarksflüssigkeit von nur drei Patienten. Aber alle drei hatten an tuberkulösen Erkrankungen gelitten. Ob es sich nun bei den Erregern, die in der Rückenmarksflüssigkeit der MS -Patienten gefunden wurden, um Tbc-Bakterien handelt, müssen weitere Versuche mit Bakterien-Kulturen ergeben.
Als die österreichischen Mediziner ihre Ergebnisse in der »Schweizer Medizinischen Wochenschrift« veröffentlichten, sah der Dr. Ahringsmann in ihnen die erste Bestätigung seiner Theorie, derzufolge die MS eine »verhärtende tuberkulöse Entzündung von Gehirn und Rückenmark« ist. Der Hamburger Arzt verglich: Genauso wie die Syphilis in ihren Spätformen als Tabes und Paralyse, so zerstöre auch die Tuberkulose als Multiple Sklerose Gehirn und Mark des Menschen.
Fahndung im Keller
Mit den neuen Entdeckungen eröffneten sich neue Aspekte für die Behandlung der Krankheit. Die Wiener Ärzte warnten zwar vor übergroßem Optimismus: Den seit langem an der Multiplen Sklerose Erkrankten könne auch die modernste Tuberkulose-Behandlung bestenfalls Linderung, keinesfalls Heilung bringen. Aber bei den Kranken, bei denen die MS noch nicht zu Lähmungen geführt hat, wird eine Heilung möglich sein. Vorausgesetzt, daß die Erkenntnisse der Wiener Ärzte bestätigt werden können.
Die letzte Bestätigung kann erbracht werden, wenn es gelingt, die verdächtigen Bakterien zu züchten und durch Übertragung der Krankheitserreger auf Tiere die MS auszulösen Bis jetzt sind allerdings alle Versuche gescheitert.
Der Leiter der neurologischen Abteilung im Siechenheim Wien-Lainz, der Dozent Dr. Birkmayer, sucht die Bestätigung auf anderem Wege zu finden. In seine Abteilung werden viele MS-Kranke eingewiesen, die von ihren Familien nicht mehr betreut werden können. Da dort in jedem Jahr durchschnittlich 100 MS-Kranke nach langem Siechtum sterben, ist das Heim eine der größten europäischen Sammelstellen von MS-Material. In den Laboratorien und im Keller der Anstalt ruhen in großen Glasschalen Gehirne und Rückenmark der Toten.
In diesem riesigen Lager fahnden nun Dr. Birkmayer und seine Mitarbeiter nach den verdächtigen Mykobakterien. Sie suchen an ganz bestimmten Stellen: In den Verhärtungen, mit denen die MS Gehirn und Rückenmark des Kranken durchsetzt. »Wenn es uns gelingt«, erklärte Dr. Birkmayer, »im Zentrum einer solchen Stelle die von Tschabitscher, Schinko und Wanko entdeckten Bakterien zu finden, so steht fest, daß sie die Ursache der MS sind. Dann ist endgültig die Bestätigung dafür erbracht, daß diese drei Ärzte wirklich den Erreger der Multiplen Sklerose entdeckt haben.«
* Die Krankheitsbezeichnung Multiple Sklerose entstand, weil sich die umwandelnden ("sklerosierenden") Herde an zahlreichen ("multiplen") Stellen im Nervensystem bilden können.
Nervenarzt Birkmayer
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