Großbritannien Enten zu Fuß
Auf der brodelnden Baustelle, an der das Jahrhundertwerk entstehen soll, drohte der Stillstand - obwohl sie am Meer liegt, fehlte es an Wasser. Die Bauherren erwogen Tiefbohrungen, planten eine Bahnlinie für Zisternenwagen und wollten gar einen Eisberg anschleppen und zum Schmelzen bringen. Schließlich installierten sie zwei Meerwasser-Entsalzungsanlagen mit einer Kapazität von 3,4 Millionen Litern pro Tag. Kosten: 30 Millionen Mark.
Der Notstand traf keinen Wüstenstaat am Golf, sondern gefährdete - auf englischer Seite - die Buddelarbeiten am 23 Milliarden Mark teuren Kanaltunnel nach Frankreich. In der Grafschaft Kent (typische Wettervorhersage in der BBC: »strichweise Regen") sahen sich die Wasserversorger plötzlich außerstande, genug Naß für Bohrmaschinen und Teekessel der Tunnelbauer zu liefern.
Ingenieur Tom Glenister konnte es nicht fassen: Bei Erdarbeiten an der Kanalküste habe man früher »bis zu den Achselhöhlen im Wasser gestanden«, nun herrschten Zustände »wie nach 300 Jahren Trockenheit«.
Wassermangel wird auf der Insel zum Alptraum. Nur noch eine nostalgische Erinnerung scheint das England der Agatha Christie und des Edgar Wallace mit ewig aufgespannten Regenschirmen und tropfenden Pelerinen im Nieselregen.
Zwei aufeinanderfolgende Dürresommer und ein niederschlagsarmer Winter hatten zur Folge, daß an die 20 Millionen Menschen in England und Wales - nur Schottland blieb feucht genug - zeitweise mit Wasserrationierungen leben mußten.
Das warme Klima lockte schon im vergangenen Spätsommer Riesenspinnen und Super-Wespen in die südlichen Grafschaften Kent, Sussex und Surrey. Und immer mehr englische Landwirte wenden sich im Vertrauen auf noch mildere Zeiten dem Weinanbau zu.
Zum größten Teil jedoch ist der Mangel hausgemacht. In den letzten 30 Jahren haben die Engländer ihren Wasserkonsum um 70 Prozent gesteigert, im Vertrauen auf Regengarantie aber nicht genug Reservoirs angelegt. Weil die Leitungen fast durchweg über hundert Jahre alt und brüchig sind, verschwindet bis zu 30 Prozent des Wassers in der Erde, ehe es die Hähne erreicht. Wasser für neue Siedlungen wird bedenkenlos aus der Tiefe gepumpt. Die Folgen sind dramatisch.
Der Grundwasserspiegel sei auf den »tiefsten Stand gesunken, seit er gemessen wird«, also seit 1727, alarmierte die Gewässeraufsicht National Rivers Authority (NRA) die Engländer.
Im ausgetrockneten Kalkuntergrund Südenglands versickern Flüsse wie der Test, Pang, Piddle oder Darent; insgesamt 40 Wasserläufe setzte die NRA auf eine Alarmliste. Wo noch vor wenigen Jahren Angler bis zu den Hüften im klaren Wasser standen, watscheln jetzt in armseligen Rinnsalen »die Enten zu Fuß«, wie NRA-Chef Lord Crickhowell bedrückt beobachtete.
Die Lehmböden südlich von London trocknen aus und brechen auf. Tausende der dort gebauten, bisher grundsoliden Backsteinhäuser aus den dreißiger Jahren zeigen plötzlich Risse - »oft bersten sie mit einem Knall«, berichtet ein Immobilienmakler.
Erst jetzt entfaltet ein Nachbrenner des Thatcherismus seine volle Wirkung: die Privatisierung der Wasserversorgung. Getreu ihrer Maxime, daß die menschliche Habgier der sicherste Garant für Wirtschaftsblüte sei, hatte Premierministerin Margaret Thatcher nach Gas, Stahl, Erdöl, Fernmeldewesen und anderen Industrien 1989 auch die bis dahin staatliche Wasserversorgung über Aktien verscherbelt.
Der Protest der Labour-Opposition rührte die Herrscherin ebensowenig wie der Widerstand von Dreiviertel ihrer Untertanen, die ihre nationalen Wasservorräte nicht Geschäftemachern überantworten wollten.
Seit gut einem Jahr ist Britenwasser ein Spekulationsobjekt, das »gewaltige Profite« abwirft, so die Labour-Abgeordnete Ann Taylor. Die neuen Wasserherren haben die Preise »raketengleich« (The Guardian) hochgetrieben - bisher um 30 Prozent. Thames Water etwa, größte unter zehn H2O-Holdings, erhöhte in nur sechs Monaten die Dividende für ihre Aktionäre um das Dreifache.
Multis in den USA, in Japan und Kontinentaleuropa reißen die lukrativen Papiere an sich; schon halten die Ausländer 10 bis 14 Prozent am britischen Wassermarkt. Die französische »Compagnie generale des eaux« gebietet unumschränkt über die Wasserversorgung von mehreren Millionen Briten - für selbstbewußte Insulaner ein schmerzlicher Anschlag auf die nationale Souveränität.
Gegen die Hälfte der 37 »Water Companies« sind Verfahren wegen grober Umweltverschmutzung anhängig: Die auch für Abwässer zuständigen Unternehmen leiten selbst chemieverdreckte Brühe bedenkenlos in Flüsse, denen dann wieder das Trinkwasser entnommen wird.
Wenig Neigung zeigen die Wasserhändler zum Sparen - schließlich sind sie umsatzorientiert. So lehnen sie die von Politikern und Umweltschützern geforderte Einführung von Wasseruhren in allen Haushalten als »unfair« und »exzessiv teuer« ab. Außer in der Industrie - dort wird der Verbrauch gemessen - werden die Engländer noch immer mit einer am Immobilienwert errechneten pauschalen Wasserabgabe belegt.
Dabei haben Tests mit Wasseruhren gezeigt, daß der Verbrauch um 10 bis 15 Prozent sinkt, wenn beim Wagenwaschen und Rasensprengen die Zeiger der Meßgeräte rotieren.
Gewinnt die Labour Party die nächsten Wahlen, will sie die Versorgung wieder verstaatlichen. Die industriellen Wassermänner, so ärgert sich Labours Umwelt-Schattenminister Bryan Gould, dächten doch »mehr an ihre Aktionäre als an ihre Kunden«. o