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Entente cordiale gegen Bonn?

Frankreichs Staatspräsident Pompidou schmiedet eine neue französisch-britische Allianz. Aufgeschreckt vom Währungs-Alleingang der Bundesrepublik will Georges Pompidou das vermeintliche deutsche Übergewicht in Europa mit britischer Hilfe bekämpfen. Pompidous Lockmittel für die Briten: ein niedrigerer EWG-Eintrittspreis.
aus DER SPIEGEL 21/1971

Der Krieg der Kriege, der Kampf der Kämpfe, das war der zwischen England und Frankreich«, schreibt der französische Historiker Jules Michelet, »der Rest ist Episode.« Als die Franzosen 1939 Deutschland den Krieg erklärten, gestand ein bretonischer Bauer einer Ministergattin: »Wir wären mehr mit dem Herzen dabei, wenn es gegen die Engländer ginge.«

Auf der anderen Seite des Ärmelkanals sind sie nicht zimperlicher. »Es fehlen nur noch die Flammen dort, um die Hölle draus zu machen«, urteilt L. M. W. Legerton. Sprecher der britischen »Vereinigung für die strikte Beachtung des Tages des Herrn«, über Paris. In einer Meinungsumfrage der »Sunday Times« Anfang des Monats nannten Untertanen Ihrer Majestät die Franzosen »schmutzig, unehrlich und sexuell besessen«.

Doch 540 Jahre nach dem Tode der heiligen Johanna, ohne die, so »Le Monde«, »beide Länder heute vielleicht vereint wären«, scheint der Kampf der Kämpfe vergessen. Frankreichs Entente cordiale mit England, vor einem Vierteljahrhundert unterbrochen, könnte wiedererstehen -- als innereuropäisches Arrangement gegen ein wirtschaftlich wie politisch erstarktes Westdeutschland und als weltweiter Kampfbund gegen die Dollar-Invasion. Das zumindest will Frankreichs Staatschef Georges Pompidou.

»Die gegenwärtige Währungskrise«, riet die rechte Pariser »Aurore«, »in der Deutschland seine Position deutlich gemacht hat, zeigte die Notwendigkeit eines guten Verständnisses zwischen Paris und London.«

Um die Briten zu ködern, gab sich Paris vorige Woche bei den Brüsseler Beitrittsverhandlungen gegenüber englischen Sonderwünschen nachgiebig wie nie zuvor. Pompidous Außenminister Schumann fand sich zu Sonderregelungen über Zucker-Importe aus karibischen Commonwealth-Ländern bereit, er willigte in eine fünfjährige Anpassungszeit Englands an den EWG-Agrarmarkt ein und sicherte den Briten 12 von 13 beantragten Zollsonderkontingenten zu.

Und einen Monat früher als ursprünglich geplant bat Pompidou Englands Premier zum Donnerstag dieser Woche nach Paris. »Pompidou möchte sicher sein«, so meldete der Pariser »Express"« »daß seine Hintergedanken mit denen von Edward Heath übereinstimmen.«

Pompidous Hintergedanke Nummer eins: London und Paris schließen ein stillschweigendes Übereinkommen gegen jene Europäer, die ein politisch geeintes, supranationales Europa ansteuern. Denn Englands Konservative haben für Europa die gleiche Konzeption wie Frankreichs Gaullisten: Sie wollen keinen Bundesstaat, sondern einen föderativen Bund souveräner Staaten.

Die gaullistische Hauspostille »La Nation« sprach vorige Woche aus, was den Gaullisten offenbar zehn Jahre lang entgangen war: »Die Briten sind genau wie wir einem supranationalen Europa feindlich gesinnt. Das, so muß man zugeben, ist ein nicht zu vernachlässigender Faktor.«

Stimmt aber Heath mit Pompidous Konzept einer nur lockeren politischen Union Europas überein, dann hofft Frankreichs Staatschef auch auf Gleichklang beim Hintergedanken Nummer zwei: Frankreich plus England sind mehr als Deutschland beim freien Kräftespiel in Westeuropa -- jenen »combinaisons«, die Charles de Gaulle einst seinen Vorgängern der IV. Republik in der Innenpolitik anlastete, die er selbst aber, wenn auch erfolglos, in der Außenpolitik praktizierte.

Ein Jahrzehnt lang hatte de Gaulle gehofft, Europa zusammen mit dem Erfüllungsgehilfen Bundesrepublik beherrschen zu können. Weil es des Greisen Kreise dabei hätte stören können, durfte England nicht in die EWG.

Als de Gaulle gegen Ende seiner Herrschaftszeit erkennen mußte, daß die Deutschen ihre wirtschaftliche Potenz zu politischer Emanzipation nutzten und von Washington als deutscher Schutzmacht nicht lassen mochten, wollte er über Englands Paris-Botschafter Soames Fäden für ein französisch englisches Komplott gegen Bonn spinnen. Doch Soames-Chef Wilson witterte eine Falle und plauderte den Annäherungsversuch öffentlich aus. »Die Franzosen haben keine nationalen Ambitionen mehr -- sogar die Engländer nicht mehr«, klagte de Gaulle enttäuscht bei seinem Abgang.

Die bitteren Erfahrungen seines Lehrmeisters scheinen Georges Pompidou nicht entmutigt zu haben. Wie de Gaulle in der Denkweise traditioneller Kabinettspolitik befangen, will Pompidou die Briten offensichtlich zu jener klassischen Gleichgewichtspolitik ermuntern, die England jahrhundertelang praktiziert hatte: Stets schlugen sich die Engländer auf die Seite des Schwächeren, um die Vorherrschaft einer Kontinentalmacht zu verhindern.

1969, während seiner zehnmonatigen politischen Zwangspause, hatte Pompidou erstmals öffentlich das deutsche Übergewicht in Europa beklagt. Gemeint war vor allem ein wirtschaftliches Übergewicht: Während Frankreichs Industrie damals die Wunden der Mai-Revolte pflegte, steuerte die Bundesrepublik schnurstracks in den größten Boom ihrer Geschichte.

Bonns Ostpolitik nährte voriges Jahr die Furcht vor der politischen Dynamik der Deutschen. Die gaullistische »Nation« formulierte vorigen Oktober, was Chef-Gaullist Pompidou aus diplomatischer Rücksicht nicht sagen konnte: »Das Eigengewicht Deutschlands kommt heute in Erinnerung, und wir in Frankreich spüren eine gewisse Beunruhigung. Deshalb hatte auch de Gaulle kurz vor seinem Abgang den Kontakt mit England wiederhergestellt.«

Die jüngste Währungskrise belebte erneut das Trauma von der deutschen Überlegenheit. Zwar haben die Franzosen während der Krise nicht aufgehört, den Dollar zu kaufen und ihn damit zu stützen. Doch als Bonn jetzt seinerseits währungspolitische Unabhängigkeit demonstrierte, war Pompidou alarmiert. Noch während am vorletzten Samstag sein Finanzminister Giscard d'Estaing in Brüssel verhandelte, schickte Pompidou über Botschafter Soames die Einladung an Heath, doch schon am 20. Mai zu ihm zu kommen.

Ob Heath sich auf Pompidous Spiel einläßt, scheint allerdings fraglich. Schon warnte die einflußreiche »Financial Times« den britischen Premier davor, »ein exklusives franco-britisches Konkordat abzuschließen oder gar ein Geheimabkommen zu Lasten der übrigen fünf oder der Deutschen«.

Der Dollar und Amerikas Einfluß auf Europa über Großbritannien, in dem de Gaulle immer nur das trojanische Pferd der USA sah, scheinen die wesentlichen Punkte zu sein, in denen Pompidou Divergenzen mit Heath erwartet.

»Sehen Sie irgendeine größere Schwierigkeit für den Eintritt Großbritanniens in den Gemeinsamen Markt?« hatte Edward Heath Frankreichs Staatspräsidenten gefragt, als er im November vergangenen Jahres nach dem Requiem für de Gaulle im Elysee-Palast vorbeischaute. Pompidou antwortete: »Ich sehe nur einen -- und holte eine Anzeige der britischen Luftfahrtgesellschaft BOAC hervor. Text: »Amerika beginnt in London.«

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