Entspannung: »Warum denn so eilig?«
Kaum hatte Henry Kissinger, Chefdiplomat der westlichen Supermacht, vergangenen Mittwoch bei einer Ministertagung der Industrienationen im Pariser Chateau de la Muette Platz genommen, da drängten sich die europäischen Kollegen, um dem Amerikaner ihre Aufwartung zu machen. Nur die beiden deutschen Teilnehmer, Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Wirtschaftsminister Hans Friderichs, hielten sich abseits.
Sie warteten, bis Kissinger quer durch den Raum auf sie zusteuerte. Der Gast aus Washington, daran gewöhnt, daß sich alle um seine Gunst bemühen, erklärte seine Geste: »Zu Ihnen muß man jetzt ja wohl selber hinkommen.«
Die Szene im Pariser Hauptquartier der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) machte allen Beobachtern deutlich, auf wen im westlichen Bündnis die Amerikaner vor allem setzen. Für Washington scheint die Bundesrepublik im wirtschaftlich wie politisch geschwächten Europa der gegenwärtig zuverlässigste und handlungsfähigste Partner zu sein.
Diesen Eindruck gewann anderntags, am vergangenen Donnerstag. auch Bundeskanzler Helmut Schmidt. Als er sich zum Auftakt des Brüsseler Nato-Gipfels mit US-Präsident Gerald Ford zum Mittagessen traf, ließ der Amerikaner gleich zu Beginn des Gesprächs erkennen, daß seiner Meinung nach die USA und die Bundesrepublik gemeinsam das Spitzentreffen der atlantischen Nationen in ihrem Sinne lenken sollten. »Wir sind jetzt«, so der Präsident zum Kanzler, »zwei Tage hier zusammen. Welche Rolle. meinen Sie, sollten wir hier spielen?«
Während der zweitägigen Begegnung in der belgischen Hauptstadt drängte sich den Deutschen die Erkenntnis auf. daß sich Washington nach dem Südostasien- Debakel auf seine europäischen Verbündeten zurückbesinnt und die vom Zerfall bedrohte Nato wiederaufmöbeln möchte. Der Bundesrepublik scheint dabei die Rolle des Junior-Chefs im Bündnis zugedacht.
Eine Stärkung der Allianz -- darin waren sich Deutsche und Amerikaner einig -- sei um so dringlicher geboten, als Washington wie Bonn Indizien dafür zu haben glauben, daß der östliche Entspannungswille merklich nachgelassen habe.
Die rauhere Gangart des Ostens begann, wie immer, in Berlin. Völlig unerwartet für den Westen hatten die Sowjets Mitte Mai, dreieinhalb Jahre nach der Unterzeichnung des Berlin-Abkommens, einen neuen Streit um den Status der Stadt vom Zaun gebrochen, um den östlichen Teil Berlins aus der formal noch immer existierenden Viermächte-Verantwortung zu lösen: In einer Note an UN-Generalsekretär Kurt Waldheim bestritt Moskau den Westmächten alle alten Berlin-Rechte. Und der seit kurzem wieder in Ost-Berlin residierende Sowjet-Botschafter Pjotr Abrassimow protestierte lautstark -- unterstützt von den Propagandisten des SED-Chefs Erich Honecker -- gegen einen Genscher-Besuch in West-Berlin.
Die drei Westmächte und die Bundesrepublik reagierten so hart wie lange nicht mehr. US-Außenminister Kissinger, der sich bis dahin mit Rücksicht auf seine Entspannungs-Strategie den Sowjets gegenüber stets konziliant gezeigt hatte, stimmte letzte Woche beim Pariser Außenminister-Treffen Genscher sofort bei, als der Deutsche eine scharfe Antwort verlangte. Unmißverständlich erklärten die Außenminister Großbritanniens, Frankreichs und der USA, daß die Sicherheit West-Berlins ein wesentlicher Bestandteil der Entspannungspolitik sei.
In den Störmanövern um Berlin sehen Genscher und Kissinger ein Anzeichen dafür, daß die Sowjets das Gipfeltreffen zum Abschluß der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) nun plötzlich verzögern wollen, obschon KP-Führer Leonid Breschnew erst kürzlich in einem Brief an westliche Regierungschefs den 30. Juni als Termin vorgeschlagen hatte. Sowjet-Diplomaten bestätigen die Vermutungen der westlichen Kreml-Astrologen. Ein hoher Moskauer Funktionär: »Warum sollten wir es denn so eilig haben?«
Daß sich die Sowjet-Führung nun auf einmal Zeit lassen will, liegt nach Genschers wie Kissingers Meinung an den ungeklärten Machtverhältnissen in Moskau. Breschnew, der mit dem KSZE-Gipfel seine Laufbahn krönen wollte, sei nach vorübergehender Besserung wieder schwer erkrankt. Die außenpolitischen Geschäfte führe der dem Entspannungskurs weniger verpflichtete Außenminister Andrej Gromyko. Er und sein Anhang in der Kreml-Führung seien noch weniger als Breschnew bereit, den westlichen Wünschen nach mehr Liberalisierung nachzukommen, ohne deren Erfüllung die West-Staaten die Konferenz nicht abschließen wollen.
Angesichts der Führungsschwäche in den USA und des wirtschaftlichen Niedergangs in den kapitalistischen Staaten träumen die Russen, so glauben die Ostexperten in Bonn und Washington, wieder einmal vom unmittelbar bevorstehenden Zerfall des Westens, den sie durch Konzessionen im Entspannungsgeschäft auf keinen Fall aufhalten möchten. Wieder einmal setzen sie auf den kommunistischen Lehrsatz. wonach soziale Gärungsprozesse der revolutionären Sache dienen.
In der Tat ist der Zustand der atlantischen Bündnisstaaten gegenwärtig so desolat wie nie zuvor. Die Nato-Partner Griechenland und Türkei sind sieh wegen Zypern seit nahezu einem Jahr spinnefeind, im Nato-Land Portugal droht die Machtübernahme durch die Kommunisten. In Italien führt die permanente Staatskrise zur Erosion des demokratischen Systems, und Großbritanniens Wirtschaft gerät immer tiefer in die Krise.
Überlagert werden die nationalen Probleme durch einen allgemeinen Wirtschaftsabschwung. der mittlerweile alle entwickelten kapitalistischen Staaten erfaßt hat. Bonns Kanzler Helmut Schmidt, der häufig von apokalyptischen Visionen geplagt wird, sieht bereits das gesamte westliche System gefährdet.
Für seinen Auftritt vor den Nato-Regierungschefs in Brüssel hatte der Bonner Kanzler denn auch eine Rede mitgebracht, wie sie bisher noch nie auf einer Tagung des Militär-Bündnisses gehalten wurde. Statt der üblichen unverbindlichen Solidaritätsbekundungen trug er zwanzig Minuten lang ein mit ökonomischen Details gespicktes Referat vor, in dem er seine Kollegen zu einem wirtschaftlichen Kraftakt aufforderte. Schmidt: »Gegenwärtig ist unsere Gemeinschaft nicht so sehr in einem bestimmten geographischen Gebiet bedroht als vielmehr durch den Zustand der Weltwirtschaft.«
Im vertraulichen Gespräch ermunterte der Kanzler auch den amerikanischen Präsidenten, die bereits eingeleitete Wiederbelebung der US-Konjunktur energisch weiterzuführen. Und der Amerikaner versprach dem Deutschen, dessen Sachverstand in Wirtschaftsdingen er schätzt, mehr für die heimische Wirtschaft zu tun.
Schmidt empfahl dem US-Präsidenten sein Standard-Rezept zur Lösung internationaler Wirtschaftsprobleme: ein interkontinentales Krisenmanagement, regelmäßige Zusammenkünfte und Absprachen der für Konjunkturfragen zuständigen Minister.
Wie eng Deutsche und Amerikaner inzwischen zusammenspielen. zeigte sich unmittelbar vor dem Nato-Gipfel bei der Tagung der Internationalen Energie-Agentur und der OECD in Paris. Bonn und Washington bemühten sich gemeinsam, die Industriestaaten für neue Angebote an die Öllieferländer zu gewinnen, um diese an den Seit April verwaisten Verhandlungstisch zurückzuholen. Und als bei der OECD-Tagung andere Industriestaaten wie Frankreich und die Niederlande eine weltweite Bewirtschaftung aller Rohstoffe verlangten, bestanden Washingtons Finanzminister William Simon und Bonns Wirtschaftsminister Hans Friderichs darauf, daß Abkommen nur über eine geringe Auswahl von Rohstoffen getroffen werden durften.
Inzwischen spannen die USA ihren europäischen Vorzugspartner auch als internationalen Vermittler ein. Mitte Mai redeten Kanzler Schmidt und Außenminister Genscher in Bonn dem griechischen Premier Konstantin Karamanlis zu, sich endlich mit dem Türkenchef Süleiman Demirel über Zypern zu verständigen. Und in Brüssel wiederum beknieten die Bonner den Türken-Premier, einsichtiger zu sein. Denn keine andere der großen Nato-Mächte genießt, wie die Bundesrepublik, bei beiden Streithähnen gleichzeitig Ansehen.
Ähnlich in Nahost, wo die Bonner. nach jahrelanger einseitiger Parteinahme für Israel, inzwischen auch bei den Arabern wohlgelitten sind, ohne ihre Beziehungen zu den Israelis getrübt zu haben. In Kontakten mit Kairo und Jerusalem bemühten sich die Deutschen in den vergangenen Monaten. Ägypter und Israelis zu Konzessionsbereitschaft zu bewegen, um so für eine neue Nahost-Mission Kissingers den Boden bereiten zu helfen -- bisher freilich ohne Erfolg.
Nahezu Routine ist für Kanzler Schmidt bereits die dauernde Vermittlung zwischen Gerald Ford und Frankreichs Staatspräsidenten Giscard d"Estaing. So brachte Schmidt den Franzosen, der zunächst nicht zu dem vor allem von Ford gewünschten Brüsseler Treffen reisen wollte, erst einmal dazu, sich an der gemeinsamen Tafel bei Belgiens König Baudouin niederzulassen. Damit die beiden Präsidenten, bei Tisch durch den König getrennt, sich auch einmal ansprechen konnten. animierte der Deutsche den Franzosen auch noch mit Erfolg, sich· nach Tisch mit Ford ins Séparée zurückzuziehen.
Daß diplomatische Betriebsamkeit auch Bonn von Nutzen sein kann, erfuhr vergangenen Freitag Außenminister Genscher im Nato-Hauptquartier. Dort eröffneten ihm seine Gehilfen, daß er bei seinem im Juni vorgesehenen Besuch in der Türken-Hauptstadt Ankara zu einem für ihn bereits arrangierten Empfang nicht pünktlich erscheinen könne. Denn die Reiseplaner hatten übersehen, daß Genschers Maschine -- wie alle Flugzeuge -- die über Griechenland in die Türkei führende Luftstraße G 12 derzeit nicht benutzen kann, weil die Athener Regierung den Luftweg wegen der Zypernkrise gesperrt hat.
Genscher schickte daraufhin einen Zettel, auf dem er seine Terminnöte erläuterte, an die griechische Nato-Delegation. Nach zwanzig Minuten kam die Antwort von Ministerpräsident Karamanlis persönlich: Die Luftstraße G 12 und jede andere sei für den Bonner Minister selbstverständlich frei.