ENTWICKLUNGSHILFE FÜRS ESTABLISHMENT?
SPIEGEL: Mr. McNamara, Sie sind seit über zweieinhalb Jahren Präsident der Weltbankgruppe, der bedeutendsten Entwicklungshilfe-Organisation der Welt. In dieser Zeit haben Sie die jährlichen Darlehen, Kredite und Investitionen mehr als verdoppelt. Trotzdem ist die Welt nicht recht zu. frieden mit Ihrer Arbeit, Auf der letzten Jahrestagung der Weltbank in Kopenhagen gingen Demonstranten mit Steinen gegen die Konferenzteilnehmer vor. Studenten forderten »Zerschlagt die Weltbank« und »McNamara an den Galgen«. Wie erklären Sie sich den Unmut der jungen Leute?
MCNAMARA: Man muß wohl unterscheiden zwischen dem, was Sie »die Welt« nennen, und denen, die in Kopenhagen Stöcke und Steine warfen. Letztere waren eine sehr kleine Gruppe und repräsentierten nicht die Weitmeinung, ja nicht einmal einen nennenswerten Prozentsatz der Weltmeinung. Im übrigen haben Vertreter der Entwicklungsländer den Kopenhagener Demonstranten bereits eine deutliche Abfuhr erteilt.
SPIEGEL: Da sind wir aber gespannt.
MCNAMARA: Amir Jamal, der Finanzminister von Tansania, den niemand einen Imperialisten oder Kapitalisten nennen kann, sagte noch während der Konferenz in einem Interview mit einer dänischen Zeitung: »Es war falsch, von einer Ausbeutung der Armen durch die Reichen zu sprechen. McNamara hat sein Bestes getan ... Die Angriffe richteten sich an die falsche Adresse ... Die Erfahrungen der Bankgruppe, vor allem der IDA, der International Development Association, müssen genutzt werden.«
SPIEGEL: Nun war aber Kopenhagen kein Einzelfall. Schon vorher, im Juni vergangenen Jahres, kam es in Heidelberg zwischen etwa 1000 Studenten und der Polizei, die zu Ihrem Schutz aufgezogen war, zu einer Straßenschlacht ...
MCNAMARA: ... die Polizei war nicht meinetwegen gekommen, sondern um die Gruppe zu schützen.
SPIEGEL: Sie schützte eine Gruppe von Entwicklungsexperten, zu denen auch Sie gehörten. Die Angriffe der Demonstranten richteten sich gegen den Krieg in Vietnam und gegen den Imperialismus, der in der Hilfe der reichen Staaten für die unterentwickelten Länder zum Ausdruck kommt.
MCNAMARA: Auch das war keine repräsentative Gruppe.
SPIEGEL: Gut, dann lassen Sie uns von der seriöseren Kritik an der Entwicklungshilfe sprechen. Sie wissen, daß auch die Experten unzufrieden sind. Als Sie das Weltbank-Präsidium übernahmen, sprachen Sie von einer dramatischen Wende, die notwendig sei. Was haben Sie bisher getan?
MCNAMARA: Ich möchte betonen, daß die Bank mit dem Beginn meiner Präsidentschaft nicht neu gegründet wurde. Einem einzelnen kann nicht das Verdienst zukommen für alles, was getan worden ist.
SPIEGEL.: Sie selbst kündigten den »dramatischen Kurswechsel« an. Wo ist er?
MCNAMARA: Lassen Sie mich das zunächst mit einer gewissen Rückschau beantworten. Wenn Sie es genau be-. trachten, so waren die sechziger Jahre eine Dekade ungeheuren Fortschritts in der Entwicklung. Das Ziel der ersten Entwicklungsdekade -- die kumulative Steigerung des Bruttosozialprodukts in den Entwicklungsländern um jährlich durchschnittlich fünf Prozent -- wurde erreicht. Und das war ein gewaltiger Erfolg, eine höhere Wachstumsrate nämlich als die, die von den westlichen Ländern während einer vergleichbaren Periode ihres Wachstums im 19. Jahrhundert erreicht wurde ...
SPIEGEL: ... das kann man doch nicht vergleichen ...
MCNAMARA: Moment, ich bin gleich fertig. Trotz dieses ungeheuren Fortschritts Ist die Unterernährung weit verbreitet. Ein Drittel, wenn nicht die Hälfte der Menschheit, leidet an Hunger oder Unterernährung. Die Kindersterblichkeit ist hoch. In den unterentwickelten Ländern sterben viermal mehr Kinder pro Tausend als in den hochentwickelten. Die Lebenserwartung ist niedrig. In den Staaten des Westens ist die durchschnittliche Lebenserwartung 40 Prozent höher als in den Entwicklungsländern, Bei Ihnen in Deutschland und hier in den Vereinigten Staaten lebt der einzelne doppelt so lange wie ein Mensch in
* Mit Helmut Sorge, Leo Brawand und Hellmut Hartmann.
vielen Entwicklungsländern. Das Analphabetenturn ist weit verbreitet. heute gibt es etwa einhundert Millionen Analphabeten mehr in der Welt als noch vor 20 Jahren, zusammen sind es 800 Millionen. Vor ein paar Wochen war ich in einem Land, wo in den ländlichen Gebieten nur ein Prozent der Kinder im schulpflichtigen Alter zur Schule geht. Nur ein Prozent 1 Dazu kommt die krasse Diskrepanz in der Verteilung von Einkommen und Reichtum.
SPIEGEL: Wir tragen nochmals, was hat die Weltbank getan?
MCNAMARA: Die Bankgruppe hat versucht, mehr in der Richtung zu wirken, die der optimalen Entwicklung in den Entwicklungsländern am besten gerecht wird. Wir nehmen in dieser Hinsicht spezifische und bedeutende Veränderungen vor. In den beiden letzten Jahren zum Beispiel haben wir unsere Bemühungen auf dem Agrarsektor verstärkt, 1869 und 1970 allein hatten wir insgesamt halb soviel landwirtschaftliche Projekte laufen wie in der 25jährigen Geschichte der Bank überhaupt. Wir haben unsere Mittel für Erziehung und Bildung erheblich erhöht. Unsere Darlehen auf diesem Sektor lagen In den beiden letzten Jahren höher als in allen Vorjahren zusammengenommen. Wir haben unseren geographischen Radius beträchtlich vergrößert, vor allem, um mehr kleinen und sehr armen Ländern zu helfen. In jedem der vergangenen zwei Jahre haben wir Darlehen an Insgesamt 60 Staaten vergeben; das entspricht einer Steigerung von jährlich 75 Prozent gegenüber dem Jahresdurchschnitt 1964 bis 1968. Wir haben auch mit der Arbeit auf dem Gebiet der Bevölkerungskontrolle begonnen. Und wir haben einen Anfang gemacht, das Entwicklungskonzept über die Grenzen des reinen Wirtschaftswachstums hinaus zu erweitern.
SPIEGEL: Der Weltbank ist verschiedentlich vorgeworfen worden, sie gebe ihre Darlehen und Kredite vor allem an die schon etwas fortgeschrittenen unter den unterentwickelten Ländern, die das Geld weniger benötigen als die Ärmsten unter den Armen.
MCNAMARA: Das ist in der Tat ein sehr wichtiges Problem. Es stimmt, die Weltbank knüpft an die Vergabe ihrer Kredite ob es sich nun um weiche oder harte Kredite handelt -- sehr hohe Anforderungen, und wir bestehen darauf, daß jedes Land diesen Anforderungen gerecht wird. Und natürlich ist es beispielsweise für Tschad oder bestimmte andere arme Länder sehr viel schwieriger, diese hohen Anforderungen zu erfüllen, als für andere.
SPIEGEL: Wenn man die Liste der Länder betrachtet, die in den vergangenen zehn Jahren Weltbank-Hilfen erhalten haben, so ist deutlich zu sehen, daß es für die etwas reicheren armen Länder leichter war, von der Bank Hilfe zu erhalten.
MCNAMARA: Eben. Deswegen haben wir in den vergangenen 24 Monaten enorme Anstrengungen gemacht, auch den ganz Armen zu helfen. Das aber Ist ein sehr schwieriges Unterfangen. Denn noch knapper als Geld Ist das Angebot an Experten. Das Verhältnis von Expertenwissen pro ausgeliebenem Dollar muß bei der Hilfe sehr viel größer sein als Im Falle sich schon entwickelnder Länder. Immerhin konnten wir in den letzten beiden Jahren, wie gesagt, diesen armen Ländern helfen. Während dieser Zeit haben wir Darlehen an 14 Länder gegeben, die fünf Jahre lang überhaupt keine erhalten hatten. Darunter befanden sich so arme Länder wie Dahomey, Tschad, Nepal und Indonesien.
SPIEGEL: Sind diese Länder denn überhaupt in der Lage, die hohen Weltbank-Zinsen von derzeit 7,25 Prozent zu zahlen?
MCNAMARA: Die Länder, die ich eben erwähnte, erhielten vorwiegend Kredite von der International Development Association (IDA), von jener Weltbank-Zweigorganisation also, die weiche Kredite vergibt.
SPIEGEL: Also zinsfreie Kredite, zu einer Verwaltungsgebühr von 0,75 Prozent, für 50 Jahre?
MCNAMARA: Ja, genau, Das sind die Konditionen der IDA. Aber natürlich sind die Voraussetzungen, an die wir die IDA-Kredite knüpfen, genauso streng wie bei unseren Bankdarlehen. Schließlich sind wir Hüter und Treuhänder für das knappe Kapital und die knappen Ressourcen dieser Welt, und diese knappen Mittel müssen möglichst wirtschaftlich und rentabel für die Entwicklungsländer eingesetzt werden, Vor allem die ganz armen Länder sind dringend auf hohe Erträge angewiesen. Die Bezeichnung »weicher Kredit« und »harter Kredit« spiegelt nur die Zahlungsfähigkeit eines Landes wider und sagt nichts darüber aus, wie dringlich das Projekt für ein Land ist.
SPIEGEL: Wer garantiert Ihnen dafür, daß Ihr Geld in den Empfängerländern nicht in die falschen Hände gerät?
MCNAMARA: Sie meinen, daß die reichen Leute In den Entwicklungsländern durch die Hilfe reicher werden und die Armen arm bleiben?
SPIEGEL: Ja. Haben Sie als Weltbank-Präsident in dieser Beziehung eine Änderung erreicht?
MCNAMARA: Das Problem, daß die Reichen reicher werden und die Armen arm bleiben, Ist -- wie gesagt -- sehr ernst und möglicherweise sehr gefährlich. Durch unsere verstärkte Kredittätigkeit auf dem Agrar- und Erziehungssektor und durch Erweiterung unseres geographischen Aktionsradius haben wir versucht, die Entwicklungshilfe auf so viele Gebiete wie möglich auszudehnen. Und oberster Grundsatz dabei ist, unsere Mittel wirksam zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Wohlergehens der gesamten Bevölkerung unserer armen Mitgliedstaaten einzusetzen.
SPIEGEL: Es gibt Leute, die der westlichen Entwicklungspolitik und der Weltbank vorwerfen, ihre Hilfen dienten nur dazu, die Position des Establishment in den armen Ländern zu festigen.
MCNAMARA: Ich weiß.
SPIEGEL: Glauben Sie wirklich, daß Sie beispielsweise mit den 205 Millionen Dollar, die Sie im vergangenen Jahr Brasilien zur Verfügung stellten -- davon 100 Millionen für Straßenbau, 80 Millionen für die Energiewirtschaft und 2,5 Millionen für eine Entwicklungsfinanzierungsgesellschaft -, das Los der armen Indios tatsächlich verbessern können? Oder stimmt es, daß dadurch nur die Position der brasilianischen Oligarchie gestärkt wird, weil sie durch diese Hilfe leichteren Zugang und Transport zu ihren Kaffeeplantagen bekommt?
MCNAMARA: Unsere Darlehen zielen in erster Linie darauf ab, die Entwicklung des Landes als Ganzes zu fördern und der Mehrheit der Bevölkerung zu helfen. In dem Maße, in dem das Land als Ganzes Fortschritte macht, profitieren auch die Armen in Rio oder São Paulo.
SPIEGEL: Ist das der Weg zum sozialen Fortschritt, wie Sie ihn sich vorstellen?
MCNAMARA: Lassen Sie mich ein Beispiel nennen, wie die Bank arbeitet, um möglichst viele in den Genuß der Entwicklungshilfe zu bringen. Kürzlich gaben wir einem unserer Mitgliedsländer ein Agrar-Darlehen. Die betreffende Regierung wollte einen Teil des Geldes für den Kauf von Traktoren verwenden. Wir bestanden nun darauf, daß durch den Einsatz der Traktoren keine Arbeitskräfte freigesetzt würden. Natürlich gibt es Situationen -- etwa wenn unter Zeitdruck die Ernte rasch eingebracht und das Land schnell für die neue Saat bestellt werden muß -, wo der Einsatz von Traktoren unerläßlich ist. Aber generell bestehen wir darauf, daß Traktoren nicht menschliche Arbeitskräfte ersetzen. In einem anderen Land, dem wir ein Darlehen für die Nutzbarmachung einer Fläche von fast 36 000 Hektar bereitstellten, bestanden wir darauf, daß nur ein kleiner Teil des Geldes für Großfarmen mit einer Fläche von etwa 40 Hektar verwendet würde. Sie sehen also, daß wir durchaus versuchen, die Mittel in die Hände derjenigen gelangen zu lassen, die zur landwirtschaftlichen Entwicklung beitragen können und die gleichzeitig die Mehrheit der Bevölkerung darstellen, die von diesem Fortschritt profitiert.
SPIEGEL: Auf welche Weise hat die Allgemeinheit sonst noch Nutzen aus der Hilfe?
MCNAMARA: Nun, wir ermutigen die Länder, die von der sogenannten grünen Revolution profitieren, außerdem, den Zuwachs der landwirtschaftlichen Produktion zu besteuern, so daß die gesamte Bevölkerung Nutzen daraus zieht. Natürlich geht es uns zunächst darum, die Nahrungsmittelproduktion zu steigern. Wir würden auch gern den Wohlstand gerechter verteilt sehen, aber zunächst einmal müssen die Leute zu essen haben. Dieses Problem hat absolute Priorität, Nachdem ich das gesagt habe, möchte ich darauf hinweisen, daß es sich bei diesen Ländern ja um souveräne Staaten handelt, Wir können nicht in ein Land gehen -- und tun es auch nicht -- und den Leuten vorschreiben, wie sie ihr ganzes Wirtschafts- und Finanzsystem aufziehen sollen. Wenn sie nicht bereit sind -- und viele sind es eben nicht -, der Umverteilung von Vermögen und Einkommen Vorrang einzuräumen, wäre es unrealistisch von uns, wenn wir darauf bestehen würden. Viele werden sagen, ihre Menschen sterben wegen Nahrungsmangel, ihren heranwachsenden Kindern fehlen Proteine. Darum halten sie es für vordringlich. diesen Problemen Priorität einzuräumen,
SPIEGEL: Sie wissen sicher, daß einige Kritiker empfehlen, die ganze Hilfe westlicher Länder und Institutionen wie der Weltbank etwa an Südamerika einfach einzustellen.
MCNAMARA: Ja, diese Kritik ist mir bekannt,
SPIEGEL: Ein Kritiker, zum Beispiel der Priester Ivan Illich, erklärte uns, es sei viel besser, Entwicklungshilfe-Zahlungen einzustellen und dafür ein neues Erziehungssystem einzuführen. Er forderte beispielsweise, für alle Leute bis zum 25. Lebensjahr sogenannte Erziehungspässe einzuführen, um damit die traditionelle Einstellung zu Status und Erfolg zu ändern und mithin ein neues Bewußtsein in bezug auf den persönlichen Wert und den Modernisierungsprozeß zu wecken, Wie steht die Weltbank zu derartigen Vorschlägen?
MCNAMARA: Für den Entwicklungsprozeß gibt es kein Patentrezept. Dafür ist er viel zu kompliziert. Ich kenne keine Gruppe von Experten, möge sie sozialistisch oder nicht sozialistisch sein, die der Meinung wäre, daß die armen Länder ohne Hilfe von außen wirtschaftlich und sozial schneller vorankommen als mit solcher Hilfe. Und ich kenne auch keine Entwicklungsexperten, die glauben, daß die Völker besser vorankommen, wenn wir alle Anstrengungen und Hilfe auf die Ausbildung konzentrieren. Dagegen gibt es viele, die glauben, daß größere Anstrengungen im Bildungswesen in gewissen Ländern durchaus erforderlich sind. Aus diesem Grund hat die Weltbank ihre Ausbildungshilfe so drastisch verstärkt. Aber natürlich besteht auch die große Gefahr, daß man dabei die anderen Sektoren der Gesellschaft vernachlässigt. Wenn Sie bedenken, daß ein Drittel, wenn nicht die Hälfte der Menschheit hungrig und unterernährt ist, dann können Sie mit der Ernährungshilfe einfach nicht warten. Investitionen In Ausbildung und Erziehung tragen erst nach längerer Zeit Früchte, Das Problem Ist keineswegs einfach; es gibt keine Zauberformel. Auf jeden Fall kann es nur durch Erhöhung unserer Hilfe gelöst werden und nicht durch Herabsetzung.
SPIEGEL: Wie beurteilen Sie dann -- und diesmal sprechen wir Sie als Bürger der Vereinigten Staaten an -- die Tatsache, daß Ihr eigenes Land kürzlich die
Entwicklungshilfe, gemessen am Bruttosozialprodukt, gekürzt hat?
MCNAMARA: Ich halte diese Entscheidung für falsch. Das habe ich auch öffentlich gesagt -- in meiner Kopenhagener Rede.
SPIEGEL: Wenn man sich die Rolle der Vereinigten Staaten auf dem Privatsektor vergegenwärtigt, so zeigt sich, daß US-Firmen beispielsweise aus Lateinamerika jährlich mehr Profite herausziehen, als sie an Investitionen hineinstecken. Der frühere chilenische Außenminister Gabriel Valdés veranschlagte unlängst die Summe repatriierter Gewinne amerikanischer Firmen aus Lateinamerika auf das Fünffache des Betrages, den US-Unternehmen dort jährlich investieren.
MCNAMARA: Ich glaube, Sie stellen das etwas übertrieben dar, aber ich sehe das Problem.
SPIEGEL: Mr. McNamara, wie sehen Sie ein anderes Problem, nämlich die Tatsache, daß alle bisherigen Präsidenten der Weltbank Amerikaner waren? Muß das nicht den Eindruck erwecken, daß die Weltbank ein Instrument amerikanischer Politik ist?
MCNAMARA: Bei einigen Leuten, ja. Der Sitz der Bank ist in Amerika, alle Präsidenten waren Amerikaner, die Amerikaner haben die meisten Stimmen. Überdies stellen die USA weit über 60 Prozent der Mittel für die harten Darlehen der Bank, da bisher die meisten Anleihen auf dem amerikanischen Kapitalmarkt gezeichnet wurden. Das sind die Gründe dafür, daß manche Leute glauben, die Bank sei ein Instrument amerikanischer Politik. Aber dieser Eindruck ist falsch, total falsch.
SPIEGEL: Wirklich?
MCNAMARA: Ich bin nicht der Meinung, daß es für eine wirksame und sinnvolle Arbeit der Bank unbedingt notwendig ist, einen Amerikaner als Präsidenten zu haben. Ich kann im übrigen noch einen weiteren Grund anführen, warum einige Leute meinen, diese Institution werde von den USA beherrscht; es ist der hohe Prozentsatz an Amerikanern im Bank-Management. Vor zwei Jahren noch waren etwa 31 Prozent der Bankangestellten amerikanische Staatsbürger. Diesen Anteil haben wir jetzt auf 28 Prozent gedrückt. Nehmen Sie das als Zeichen meines Willens dafür, daß wir den Eindruck, den manche Leute von der Weltbank haben, ändern wollen. Es widerspricht den Interessen der Entwicklungsländer -- oder auch der entwickelten Länder -,in der Bankgruppe einen Arm der amerikanischen Politik zu sehen. Das stimmt einfach nicht.
SPIEGEL: Aber hat die amerikanische Regierung 1956 nicht Ihre Zusage an Präsident Nasser, Kredithilfe bei der Finanzierung des jetzt fertiggestellten Assuan-Staudammes zu leisten, zurückgezogen, und hat nicht wenig später der damalige Präsident der Weltbank auch seine Zusage widerrufen, Ägypten mit 200 Millionen Dollar auszuhelfen?
MCNAMARA: Ich kann nicht über Dinge sprechen, die vor meiner Amtszeit passiert sind. Ich bin erst seit 1968 hier.
SPIEGEL: Aber bisher hat Ägypten keine Kredite erhalten.
MCNAMARA: Doch, es hat. Aber lassen Sie mich zunächst folgendes sagen: Eine meiner ersten Amtshandlungen als Präsident bestand darin, Kontakte zu der Vereinigten Arabischen Republik aufzunehmen, um zu entscheiden, ob die Bank ein Anleiheprogramm für dieses Land initiieren sollte. Im April 1970 dann wurde an die VAR ein Weltbank-Kredit in Höhe von 26 Millionen Dollar für ein höchst interessantes Vorhaben vergeben, nämlich für ein großes Drainageprojekt im Nildelta. Es wird das größte Projekt dieser Art in der Geschichte der Menschheit sein und einer Million Menschen dienen,
SPIEGEL: Das ist nur ein Projekt. Wenn man sich aber die Liste Ihrer Kredite für 1969/70 ansieht, findet man, daß das meiste Geld pro Kopf nach Europa und Lateinamerika geflossen ist, In Teile der Welt also, die für die politischen Interessen der USA von vitaler Wichtigkeit sind.
MCNAMAHA: Das ist ein falsches Argument. Ich habe noch nie von jemandem gehört, die Bank werde aus diesem Grunde von den USA beherrscht.
SPIEGEL: Es fragt sich nur, warum Sie sich auf Lateinamerika und Europa konzentrieren?
MCNAMARA: Das tun wir doch gar nicht! Wenn Sie schon von Krediten reden: Die Gesamthöhe der IDA-Kredite, die im vergangenen Jahr nach Lateinamerika flossen, betrug 1,8 Prozent der Gesamtkredite. Die höchsten IDA-Kredite pro Kopf gingen nach Französisch-Westafrika. Was bedeutet das? Daß die Bank von Frankreich beherrscht wird? Natürlich nicht!
SPIEGEL: Mr. McNamara, halten Sie es für eine weise Entscheidung, daß 1968 ausgerechnet Sie mit Ihrer Vergangenheit als Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten Präsident der Weltbank wurden?
MCNAMARA: So, wie Sie die Frage steilen, weiß ich, daß für Sie die Antwort »nein« ist, Aber das stört mich nicht.
SPIEGEL: Sie waren immerhin damals der einzige, der die Berufung hätte ablehnen können.
MCNAMARA: Im Gegenteil. Ihre Regierung als Mitgliedsland der Weltbank hätte nein sagen können. Jedes Mitglied des Direktoriums hätte nein sagen können. Ich hatte keinerlei Einfluß auf diese Entscheidung.
SPIEGEL: Vielleicht ist das nur ein Beweis für die Macht der Amerikaner in der Bank: Wird ein Amerikaner als Kandidat vorgeschlagen, so ist er auch schon so gut wie gewählt.
MCNAMARA: Sie wissen genau, daß das nicht stimmt. Ich habe noch nie er-
* Oben: Im Iran, Bau des Voltadammes in Ghana; unten: Kraftwerk-Bau in Chile.
lebt, daß das Direktorium in anderen Fragen, bei denen es um amerikanische Vorschläge oder Interessen ging, in dieser Weise gehandelt hätte. Es ist einfach lächerlich anzunehmen, daß es das In einer so wichtigen Frage wie der Ernennung eines neuen Präsidenten tun würde.
SPIEGEL: Dürfen wir noch einige Zahlen zu einem Problem anführen, das wir eingangs diskutierten? Der pakistanische Entwicklungsexperte Dr. Hussein Mullick sagte kürzlich anläßlich einer Deutschland-Reise, von den 12,7 Milliarden Dollar Entwicklungshilfe, die 1968 in die Entwicklungsländer geflossen seien, hätten die Empfängerländer praktisch nichts gehabt. 1,4 Milliarden Dollar seien für Zinszahlungen draufgegangen, insgesamt vier Milliarden Dollar als Gewinne in die entwickelten Länder zurückgeführt worden, fünf Milliarden Dollar seien als illegale Kapitalexporte abzuschreiben. Rechne man die ungünstigen »terms of trade« -- ungünstig für die armen Nationen -- hinzu, komme man zu einem negativen Saldo.
MCNAMARA: Das ist eine Gleichung mit verschiedenen Größen. Sie rechnen da Äpfel und Birnen zusammen.
SPIEGEL: Nein, Dollars.
MCNAMARA: Wenn Sie sagen wollen, daß die Schuldenlast der Entwicklungsländer schwer ist, dann haben Sie selbstverständlich recht.
SPIEGEL: Was meinen Sie, könnte man zu einer Übereinkunft kommen und sagen: Vergessen wir die Schulden und fangen von vorne an?
MCNAMARA: Nein, das halte ich nicht für möglich.
SPIEGEL: Nun, im Falle einiger Länder war es möglich -- bei Indien zum Beispiel.
MCNAMARA: Nein, selbst Indien wurden nicht alle Schulden erlassen, Es war lediglich möglich, im Falle einiger Länder die Schuldzahlungen für eine begrenzte Zeit etwas zu verringern,
SPiEGEL: Und wenn diese Zeit verstrichen ist, könnte es einen weiteren Aufschub geben?
MCNAMARA: Sie vergessen, daß die Länder dauernd zahlen müssen. Indonesien, Indien, Ghana sind die jüngsten Fälle. Es war nicht möglich, Ihnen ihre Schulden völlig zu erlassen. Sie kennen doch die Schwierigkeiten.
SPIEGEL: Haben Sie angesichts dieser Probleme Verständnis für jene radikalen Gruppen, die meinen, die Verhältnisse in den Entwicklungsländern könnten nur noch mit Gewalt geändert werden -- wie zum Beispiel die Tupamaros in Südamerika?
MCNAMARA: Sie meinen, ob Ich Verständnis für jene abweichende Minderheit in einigen Entwicklungsländern habe, die glaubt, daß sich die Lage der Bevölkerungsmehrheit nicht schnell genug verbessert? Meine Antwort darauf ist: Ja, ich verstehe ihre Gefühle. Ihre Erwartungen wachsen schneller, als ihre Wirtschaft vorankommt, Die eigentliche Tragödie, meine ich, besteht darin, daß Ihre Erwartungen schneller wachsen, als irgendeine menschliche Führung oder Institution sie erfüllen könnte. Das führt zwangsläufig zu Zynismus oder Verzweiflung oder Zerstörung, und dafür habe ich keinerlei Sympathie. Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller hat das Problem meines Erachtens in seiner Kopenhagener Rede sehr gut zusammengefaßt: »Unser gemeinsames Ziel ist der wirtschaftliche und soziale Fortschritt in einer geeinten Welt, Der beste Weg, dieses Ziel zu erreichen, ist der Fortschritt durch friedliche Evolution.«
SPIEGEL: Müßte man nicht allein aus Gründen der wachsenden Schuldenlast dazu kommen, mehr als bisher weiche IDA-Kredite zu geben?
MCNAMARA: Ich habe gerade die Verhandlungen für den Dritten Refinanzierungsplan der IDA abgeschlossen. Vorgesehen sind 800 Millionen Dollar jährlich im Vergleich zu den 400 Millionen Dollar des Zweiten Refinanzierungsplans. Ich freue mich sehr über die Bereitschaft der Regierungen, Zweifellos ist das ein großer Schritt nach vorn. Übrigens hat Ihre Regierung, vor allem Wirtschaftsminister Schiller und Entwicklungsminister Eppler, dabei eine höchst vorbildliche und hilfreiche Rolle gespielt.
SPIEGEL: Was haben Sie mit den Gewinnen der Weltbank vor?
MCNAMARA: Unsere Direktoren und Gouverneure haben beschlossen, 100 Millionen Dollar des Bankgewinns 1970 an die IDA zu überweisen. Damit haben wir wesentlich zur Refinanzierung der IDA beigetragen.
SPIEGEL: Der Report der sogenannten Pearson-Kommission spricht davon, daß die amtlichen Hilfszahlungen der Regierungen am wichtigsten sind. Sie sollen künftig auf 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts der Industrieländer erhöht werden. Kann man das kommerzielle Geschäft, bei dem es doch um Profite geht, überhaupt in die Berechnungen der Entwicklungshilfe einbeziehen?
MCNAMARA: Die Pearson-Kommission betont, daß auch für private Investitionen Platz ist, daß diese aber auf keinen Fall genügen. Die größeren Beträge müssen aus Regierungsquellen fließen, weil dieses die Mittel sind, die für den Bau von Straßen, Schulen, Staudämmen und dergleichen unerläßlich sind.
SPIEGEL; Könnten Sie sich vorstellen, daß man die ausländischen Investoren zwingt, von allen in Entwicklungsländern erzielten Profiten wenigstens die Hälfte an die jeweilige Regierung zur Finanzierung allgemeiner Vorhaben abzugeben?
MCNAMARA: Dazu möchte ich sagen: Ich glaube, die einzige Basis, auf der Privat-Investitionen In Entwicklungsländern gemacht werden sollten, ist die, auf der beide Seiten profitieren. Die Bedingungen dafür müßten sie untereinander aushandeln.
SPIEGEL: Ja, aber mitunter muß das doch gerade mit dem Establishment des Entwicklungslandes verhandelt werden.
MCNAMARA: Mit wem sonst? Sie müssen doch mit der Regierung und! oder den jeweiligen Partnern verhandeln.
SPIEGEL: Uns will scheinen, daß es schwieriger für Sie ist, diese Bank zu führen als beispielsweise das Pentagon.
MCNAMARA: Auf alle Fälle verschafft mir die Arbeit hier mehr Befriedigung, das dürfen Sie mir glauben.
SPIEGEL; Es gibt Leute, die behaupten, Sie hätten diesen Job übernommen, weil Sie Ihr durch Vietnam angeschlagenes Image aufbessern wollten. Andere wieder meinen, Sie seien zur Weltbank gegangen, um Ihr Gewissen zu beruhigen. Was sagen Sie dazu?
MCNAMARA: Ich habe diesen Job übernommen, weil ich dachte, daß es eine großartige Gelegenheit ist, alle meine Energien für den Fortschritt jener eineinhalb Milliarden Menschen in der Welt einzusetzen, die unser aller Hilfe so dringend benötigen.
SPIEGEL; Mr. McNamara, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.