ZEITGESCHICHTE »Er sollte sterben«
Am Morgen nach der Tat lagen Opfer und Täter unter Narkose im selben Berliner Krankenhaus. Wer das Opfer war, wusste fast jeder in Deutschland. Wer der von der Polizei angeschossene Täter war, wusste niemand.
Josef Bachmann, der am Gründonnerstag, dem 11. April 1968, den Studentenführer Rudi Dutschke in Berlin auf offener Straße niederschoss, blieb bis heute eine farblose Gestalt. Ein schmächtiger 23-jähriger Anstreicher, ein mehrmals vorbestrafter Einbrecher, der Kommunisten wie Dutschke hasste.
Viel mehr ist öffentlich nie bekanntgeworden. Auch das Gericht, das ihn 1969 verurteilte, stufte ihn eher als unpolitischen Kriminellen ein, ein wenig rechts, aber mehr noch ein Sozialfall, der seine Minderwertigkeitsgefühle durch ein Attentat ausgleichen wollte.
Bachmann selbst hat wenig zur Aufhellung beigetragen. Im Februar 1970 beging er Selbstmord, in seiner Zelle zog er sich eine Plastiktüte über den Kopf und erstickte.
Seither gilt Bachmann als Einzeltäter, der von den Kampagnen der Springer-Presse aufgehetzt worden war. Nach dem Attentat setzten Demonstranten die Kleintransporter des Verlags in Brand, um die Auslieferung der »Bild«-Zeitung zu verhindern. Die Bundesrepublik erlebte eine heftige Zerreißprobe in ihrer jungen Geschichte.
Nun werfen, rechtzeitig zu Dutschkes 30. Todestag am 24. Dezember, Stasi-Akten ein neues Licht auf den Attentäter. Sie zeigen, dass er sich in der Zeit vor dem Mordversuch in der militanten Neonazi-Szene seines Wohnorts Peine bewegte.
So hatte sich Bachmann bei einem illegalen Waffenhändler der rechtsradikalen Truppe mehrfach mit Pistolen und Munition eingedeckt. Er verübte mit seinen braunen Gesinnungsfreunden Anschläge auf die innerdeutsche Grenze. Sogar ein anderes Attentat hatte Bachmann mit seinen Kumpanen - wenn auch erfolglos - geplant: auf Walter Ulbricht, den Staatsratsvorsitzenden der DDR.
Zumindest die Vorgeschichte des Dutschke-Attentats muss nun neu betrachtet werden: Der Aktenfund liefere »Schlüsselinformationen bei der Aufklärung von Bachmanns politischem Hintergrund«, urteilt Neonazi-Experte und Buchautor Tobias von Heymann ("Die Oktoberfestbombe"), der bei Recherchen auf die Stasi-Papiere stieß.
Dabei wusste nicht nur die Stasi von Bachmanns rechtsradikalen Verbindungen. Auch die westdeutschen Ermittler waren damals informiert, wie die Verhörprotokolle der West-Berliner Polizei beweisen. Doch die Beamten ignorierten diese Spuren in die Neonazi-Szene.
Passte ein verwirrter Einzeltäter besser ins Bild? Spielten Sympathien in Polizeikreisen mit der rechten Szene eine Rolle? Und was bedeuten die neuen Einsichten für die Entwicklung der Bundesrepublik: Hätte das Wissen um eine rechtsradikale Truppe in Bachmanns Hintergrund den Furor auf den Straßen noch stärker angeheizt und die Spaltung der Gesellschaft weiter verschärft?
Bachmann hatte schon als 17-Jähriger erstmals Kontakt zu Neonazis im niedersächsischen Peine. Damals, 1961, traf er auf Wolfgang Sachse, einen Rechtsradikalen, der in militärisch organisierten DDR-Heimen aufgewachsen war und bei der FDJ das Schießen gelernt hatte, bevor er in den Westen floh. Er war ehrenamtlicher Schießwart auf einem Schießplatz in Peine und versorgte Anhänger der braunen Szene mit Waffen und Munition.
Sachse ist heute 66 Jahre alt, ein rüstiger, durchtrainierter Rentner mit immer noch stramm rechten Überzeugungen. Im Trainingsanzug stellt er sich den Fragen des SPIEGEL, anderthalb Stunden lang auf dem Treppenabsatz vor seiner Peiner Wohnung im siebten Stock. Die Vergangenheit lässt ihn nicht los.
»Ich kannte Bachmann gut«, sagt Sachse, »er war ein ernster, ruhiger Junge«, einer, der wie er aus der DDR in den Westen gekommen war. Beide einte der Hass auf »die Roten« und die linke Studentenbewegung. Sachse besuchte den jungen Gesinnungsfreund auch zu Hause. 1968 zierten sein Kinderzimmer ein selbstgemaltes Hitler-Porträt an der Wand und »Mein Kampf« im Regal. Etliche Waffen habe der »Seppl« über die Jahre besessen und bei ihm auf den Schießstand ausprobiert, sagt Sachse.
Und so steht es auch in den Ermittlungsakten der West-Berliner Polizei. Bereits 1961, gestand Bachmann nach den Schüssen auf Dutschke 1968 dem Untersuchungsrichter, habe er »eine Gaspistole von Wolfgang Sachse gekauft«. Dieser habe sie »zu einer scharfen Waffe gemacht, indem er den Lauf durchbohrt hatte«. Bachmann war Anfang der sechziger Jahre, noch keine 18 Jahre alt, erstmals beim Aufbrechen eines Pkw erwischt und danach verurteilt worden.
Merkwürdig nur: Obwohl Bachmann nach dem Attentat den damaligen Waffenkauf im Verhör zugab, ging die Polizei dem Hinweis nicht nach. Sachse wurde nie dazu vernommen. Die Herkunft der Tatwaffe blieb für Gericht und Polizei ungeklärt. Dabei glich die in Peine 1961 scharfgemachte Pistole dem aufgebohrten Revolver Arminius HW1, Kaliber 9 Millimeter, mit dem Bachmann später auf Dutschke schoss.
Überhaupt klammerten die Ermittler das gesamte braune Milieu Bachmanns aus. Selbst als sich ein Zeuge meldete, der über Bachmanns Peiner Hintergrund aussagen wollte, verliefen die Bemühungen der Berliner Ermittler bei ihren niedersächsischen Kollegen im Sande, obwohl dort die rechte Szene durch zahlreiche Straftaten genau bekannt war und Schlagzeilen machte.
Aber warum?
Von Braunschweig über Peine bis Hannover hatte sich im Laufe der sechziger Jahre eine rege braune Bewegung entwickelt. Als Vorbild und väterlicher Kamerad trat Paul Otte auf, Jahrgang 1924: ein NPD-Mann, der Bachmann und seine Freunde mit Kriegserlebnissen begeisterte. Zu den Antreibern und Ideologen der braunen Verbindung gehörte vor allem Hans-Dieter L., ein junger Taxi-Unternehmer und ebenfalls NPD-Mitglied.
Sonntagmorgens traf man sich über Jahre hinweg auf dem Schießplatz »Am Sundern« zum Feuern mit Pistolen, Schnellfeuergewehren und Maschinenpistolen. Im Umfeld des Schießplatzes bildete sich so eine immer größere Horde aus Waffennarren, Rechten und sogar Polizisten, von denen früher etliche Nazis waren, erinnert sich Schießwart Sachse: »Unter den Polizisten gab es viele, die einfach Spaß am Ballern hatten.« Sie verschossen sogar ihre Dienstmunition, oft wurde Sachse nachts geweckt, um ihnen Ersatzmunition zu besorgen, wenn für den Morgen auf der Wache plötzlich Waffenkontrollen angesetzt worden waren.
Die Allianz von Neonazis und Polizei bestand auch über den Schießplatz hinaus, sagt Sachse. Er und seine Kumpels liefen bewaffnet in ihre Stammkneipe, die Pistole am Halfter, völlig unbehelligt. »Wir wurden von der Polizei in jeder Hinsicht gedeckt«, sagt er.
Ähnlich sah es auch NPD-Mann Hans-Dieter L., der seine Beobachtungen als Inoffizieller Mitarbeiter (Deckname: »Otto Folkmann") für die Stasi notierte. Die unangemeldeten Schießübungen, heißt es in seinen Berichten, würden »von der Peiner Polizei toleriert, da selbst Peiner Polizeibeamte mit eigenen, schwarzen Waffen dort Schießübungen vornehmen und sich von Herrn Sachse Munition geben lassen«. Gute Freunde könnten bei Sachse »sämtliche Waffen oder Sprengstoff kaufen«.
Bachmann war bei den militanten Freizeitveranstaltungen oft dabei und gestand das nach dem Attentat auch den Berliner Ermittlern: »Mit Wolfgang Sachse (...) habe ich aus dieser Pistole auf dem Luhberg in Peine mehrfach scharfe Munition verschossen und mich so im Schießen geübt.« Doch in Niedersachsen verliefen die Ermittlungen im Nichts - wohl wegen der rechten Schießplatz-Allianz.
Eine andere Aussage Bachmanns hätte die Beamten mindestens ebenso stutzig machen müssen, spätestens als sie ihn fragten, ob er zuvor schon gegen den Kommunismus habe aktiv werden wollen.
»Ja«, antwortete Bachmann, »als es hieß, Walter Ulbricht soll nach Hannover kommen. Ich hatte mir vorgenommen, wenn er rüberkommt, auf ihn ein Attentat zu verüben.« Er habe sich erkundigt, wo die Gespräche stattfinden sollten, eine Waffe, »einen Karabiner, Schweizer Modell, 12 mm«, hätte er sich leicht besorgen können. Aber so weit kam es nicht: »Es ist alles wieder rückgängig (gemacht) worden dadurch, dass Walter Ulbricht nicht kam.«
Gleichzeitig versuchte Bachmann, sich in Sachen Dutschke von jedwedem organisierten Kontakt zu distanzieren: »Es könnte alles so hingestellt werden, dass das von einer rechtsgerichteten Organisation alles geplant war. Das war aber nicht der Fall, da ich diese Tat von mir aus begangen habe und eine Hintergrundorganisation nicht besteht.«
Dabei hatten ihn die Ermittler überhaupt nicht nach solchen Kontakten gefragt. Wollte der Attentäter etwas verbergen, wollte er seine braunen Freunde in Peine aus der Sache heraushalten?
»Er sollte sterben«, antwortete Bachmann auf die Frage nach seinem Motiv für die Schüsse auf Dutschke.
Hinweise auf gemeinsam organisierte militante Aktionen Bachmanns vor dem Attentat, noch in Peine, gab es trotzdem genug. Zusammen mit anderen, erklärte Bachmann den Ermittlern, habe er Anschläge auf die innerdeutsche Grenze geplant und ausgeführt. Wiederholt seien sie zu dritt oder zu zweit »mit meinem VW zur Zonengrenze in die Nähe des Kraftwerkes Harpke« bei Helmstedt gefahren. »So habe ich eines Abends aus meinem 38er Trommelrevolver, den ich damals besaß, eine Trommel in Richtung Osten leer geschossen« in der Hoffnung, dass sich die Grenzsoldaten näherten. »Dann hätte ich weitergeschossen.«
Mit einem Abschleppseil riss er bei anderer Gelegenheit den Stacheldrahtzaun an der Grenze ein, um dann mit Steinwürfen Minen zur Explosion zu bringen. Ähnliche Anschläge hatten andere Neonazis aus Peine jahrelang organisiert - deshalb hatte sich die Stasi um Zugang zur dortigen Szene bemüht.
Bachmanns Halbbruder Günter wurde nach den Schüssen auf Dutschke ebenfalls von der Polizei verhört. Er erinnerte sich an eine Unterhaltung mit einem Ex-Kollegen und seinem Halbbruder nicht lange vor dem Attentat. Der Kollege wollte die Brüder für die NPD anwerben. »Als das Gespräch auf die Politik kam, zeigte es sich, dass mein Bruder und mein früherer Arbeitskollege in ihren Ansichten übereinstimmten«, sagte Günter Bachmann. Josef habe sich 1967 »ziemlich verändert«.
»Seppl« war 12, als er aus der DDR in den Westen kam, mit 17 beging er seine erste Straftat, bald wurde er zum Waffennarren und Kommunistenhasser. Doch das ist nicht die ganze Geschichte. Nur ein Jahr vor dem Attentat wurde Bachmann als Häftling von Mitgefangenen vergewaltigt und geschlagen - er hatte in einem französischen Gefängnis eingesessen, nachdem er auf einer Frankreich-Reise in eine Villa eingebrochen war. Diese Demütigung habe er nicht verkraftet, sagt Sachse heute.
Dutschkes Tod und der Selbstmord des Attentäters kurz darauf konnten Bachmanns rechte Freunde nicht stoppen. Otte ernannte sich zum Führer einer NSDAP-Zelle und sprach - laut Stasi-Akte - über politisch motivierte Banküberfälle, um »Geld für den NS-Untergrundkampf« zu beschaffen. Es kam zu Sprengstoffanschlägen der »Braunschweiger Gruppe«, etwa auf Gerichtsgebäude in Celle und Hannover. 1981 wurden Sachse, Otte, L. und andere zu mehrjährigen Haftstrafen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt.
Das Urteil verschwand als »Geheime Verschlusssache«. Bei der Verhandlung gab es eine Überraschung. Stasi-Spitzel L. hatte die Neonazi-Aktivitäten auch als V-Mann des niedersächsischen Verfassungsschutzes mit vorangetrieben.
30 Jahre nach Dutschkes Tod stellt sich die Geschichte des Attentats damit deutlich vielseitiger und problematischer dar als bislang bekannt: Neonazis, rechte Polizisten und ein Doppelagent spielten eine Rolle in seinem Umfeld. Und statt ein Attentat, das die Republik veränderte, konsequent aufzuklären, ignorierten Ermittler Bachmanns rechtsextreme Verbindungen - wohl um die kompromittierende Peiner Schießplatz-Allianz zu verschleiern.
Anfang Dezember 2009, Wolfgang Sachse steht im Treppenhaus vor seiner Peiner Wohnung und erinnert sich.
Kurz vor dem Attentat kam Bachmann zu ihm, zeigte einen Revolver vor und bat um Munition. »Die habe ich ihm wohl auch verkauft«, sagt Sachse.
»Mensch, hör auf mit dem Scheiß«, will er zu Bachmann gesagt haben.
Der antwortete nicht viel: »Lass mich mal machen.« PETER WENSIERSKI